ZEIT .......
Die Zeit Es war Sonntag morgen.
Er war schon kurz vor sechs Uhr wach.
Schlaftrunken kroch er in einem Bademantel auf ein Sofa.
Schön war sie, diese Zeit, die man für sich alleine hatte, wenn man als erster wach war.
Später würde der Rest von ihnen wach werden.
Dann hörte man die Frau in der Küche, die für die Familie Frühstück machte.
Von oben hörte man, dass die Kinder wach wurden, ein wundervolles Gemisch von verschiedensten Geräuschen, manchmal ein gesprochener Satz, auch wenn man ihn durch die geschlossenen Türen nicht verstehen konnte.
Paul lächelte.
Er hatte sein Leben gelebt, das Meiste davon, war in Ordnung.
Paul wirkte zufrieden.
Heute wartete er vergebens auf diese ihm vertrauten Geräusche aus den oberen Stockwerken.
Sie blieben aus.
Schon komisch, dachte er, ist vielleicht irgend etwas nicht in Ordnung?
Dann öffnete sich die Schiebetür zu seiner Terrasse.....
Paul erschrak.
„Guten Morgen“, sagte ein Wesen, das eher aus Nebel als aus einer realen Gestalt zu bestehen schien, „Hast Du ein wenig Zeit für mich?“
Das Wesen schwebte einfach in sein Wohnzimmer.
„Ähem... also..... das geht nicht.......“, wollte Paul reagieren, aber er hatte einen Kloß im Hals.
„Nein, nein“, lachte dieser Geist verschmitzt, „Du musst mir auch gar keinen Platz anbieten, ich habe ihn sowieso schon und außerdem schwebe ich lieber.“
Paul schüttelte sich.
„Was bildete sich diese freche, vernebelte Fledermaus da eigentlich ein?“
Zu seinem Erstaunen begann dieses Wesen zu tanzen.
Es waren ganz leichte sanfte Bewegungen, mit denen sie ihre Hüften und ihren ganzen Körper schwang. Ganz so wie ein Nebel, den der Wind um einen Baum fegt.
„Ich bin die Zeit“, sagte die Erscheinung, „und man hat mich Dir geschenkt!
Nein, Du kannst mich nicht besitzen, auch wenn Du das vielleicht meinst. Ein Geschenk ist ein Geschenk, und das bekommt man von ganz woanders her, als man selbst wohnt. Es bleibt im Grunde immer im Herzen eines Schenkenden.“
Paul war verwirrt....... er saß doch ganz einfach nur Sonntags frühmorgens auf seinem Sofa!
Was geschah da gerade mit ihm?
„Aber ich...... was soll das......ich habe doch gar keine …...“
Paul verstummte.
Das Wesen aus Rauch und Nebel tanzte einfach weiter.
Er versuchte etwas zu sagen, aber ihm fielen keine Worte oder gar Satzanfänge ein.
Immer noch tanzte dieses Gebilde aus Nebel und Einbildung auf dem Teppich seines Wohnzimmers.
Und es sah einfach toll aus.
Endlich fasste er sich und begann dem Wesen zu erklären, warum er keine Zeit hatte.
Er fand gute Argumente, wie er dachte: Er erklärte, dass sein Leben so viel Zeit bräuchte, dass er keine Zeit mehr hätte. Und dass er beruflich so eingebunden sei, dass kaum Zeit übrigbliebe.
Und überhaupt hätte sie einfach gar keine Ahnung, wie stressig sein Leben sei. Es ließe ihm üüüüüberhaupt keine Zeit, und erst recht nicht für einen solchen Mummenschanz und ganz grundsätzlich hätte er einfach NIEMALS Zeit!
Egal wofür.....
„Hast Du das verstanden?“, hörte Paul sich brüllen.
Da hörte das Nebelwesen, das die Zeit war, plötzlich auf zu tanzen.
Paul war ein wenig enttäuscht, weil es so wunderschön ausgesehen hatte, wie sie sich bewegte.
„Gut“, sagte die Zeit, „dann gehe ich vielleicht besser, wenn Du das so möchtest.“
Sie schaute ihn noch einmal traurig an, drehte sich herum und verschwand im Nichts.
Paul Müllers Familie fand ihren liebevollen Vater und Ehemann am Morgen des 36. Novembers völlig unerwartet tot auf dem Sofa im Wohnzimmer auf.
Die Ärztin, die den Totenschein ausfüllen musste, trug unter „Todesursache“ ein:
Zeitverlust!