Der Koffer
Als er den alten Schrank auf dem Dachboden öffnete, sah er ihn, seinen alten großen Koffer.Sein Vater hatte ihn ihm vor 25 Jahren zum Studienbegin geschenkt, mit dem inhaltsschweren Satz „Die Welt steht dir offen und wenn du hinaus willst, wirst du ein paar Sachen mitnehmen wollen.“
Er liebte diesen Koffer, auch wenn er schwer und unhandlich war, so hatte er ihn doch lange begleitet…
Zuerst zum Studium, voll mit Klamotten und Büchern hatte er jedes Mal schwer wie ein Stein an seinen Armen gezogen, aber er war jung und kräftig, es hatte nicht gestört.
Dann an den Wochenenden bei seiner damaligen Freundin, es war immer genug Platz, um auch die Rosen, die er ihr immer mitbrachte, ohne Schaden darin unterbringen zu können. Der Einzug bei ihr und der Umzug in die erste gemeinsame Wohnung hatten den Koffer etwas mitgenommen, Kratzer hatten seinen Deckel beschädigt und ein Schloss klemmte. Und dann für den ersten richtigen Job in Hannover hatte ihm die nun mit ihm verheiratete Frau eine dieser modernen Reisetaschen geschenkt, der Koffer wanderte auf den Dachboden und geriet in Vergessenheit.
Aber jetzt war es, als wolle der Koffer mit ihm sprechen. Über sein Leben und die Welt. Seine Welt. Stand sie ihm wirklich offen?
Die Kinder waren früh gekommen und hatten sich zu prächtigen jungen Männern entwickelt. Später dann ein besserer Job und mehr Geld in der Haushaltkasse, etwas Wohlstand und eine gemütliche Familie hatten sie sich geschaffen.
Er war erfolgreich in seinem Beruf, sehr erfolgreich und gefragt auf dem Arbeitsmarkt. Irgendwann begab er sich in die Selbstständigkeit, er brauchte sich nicht bewerben, er wurde gefragt. Seine Frau hatte eine gute Stelle, in der sie sich wohlfühlte und die ihr Erfüllung und Unabhängigkeit brachte. Die Kinder hatten etwas Sorgen bereitet in der Schule, aber man hatte es gemeinsam geschafft. Und dann, fast schon wie ein Höhepunkt, das Haus mit dem traumhaften Wassergrundstück, sehr preiswert. Sie hatten sich alle sofort darin verliebt und jetzt wohnten sie darin.
Sie buddelten zusammen im Garten, er kümmerte sich um den Aus- und Umbau und seine Frau und die Jungs unterstützten ihn dabei. Im Sommer feierten sie ab und zu ein Fest im Garten mit Freunden.
War das die Welt, von der der Koffer sprach?
Es hatte sich verändert zwischen ihnen, langsam schleichend aber unaufhaltsam. Seine Frau war nie der Typ überschwänglicher Gefühlsausbrüche gewesen. Sie hatten sich deswegen kurz nach ihrem Kennenlernen gestritten und auch vorübergehend getrennt. Aber er hatte gewusst, daß sie ihn liebt und hatte sich selbst gesagt, naja, vielleicht gewöhne ich mich daran, man muß ja auch nicht überall rumknutschen.
Er hatte dieses Leuchten in ihren Augen geliebt, wenn er nach der Arbeit nach Hause kam, die flüchtige Umarmung und das kurze Küsschen. Ja er wusste, sie liebt ihn.
Und sie liebte den Sex mit ihm. Auch er fand es schön, mit ihr zu schlafen, auch wenn er sich etwas Abwechslung wünschte, aber an der Stelle blockte sie immer ab. Er hatte niemals zu den Männern gehört, die zählten wie oft sie im Leben Sex mit einer Frau hatten, aber jetzt fiel ihm auf, er wusste wie oft sie Sex anders als ganz normal gehabt hatten, drei Mal. Aber war das wirklich so wichtig?
Wenn er jetzt nach Hause kam, war das Haus dunkel, bis auf das Wohnzimmer in dem der Fernseher stand. Er hatte sich angewöhnt zu rufen, daß er angekommen ist, früher war sie dann gekommen und hatte ihn begrüßt. Jetzt kam nur noch ein Ruf zurück, sie komme gleich.
Einmal in Gedanken hatte er es vergessen und erst nach zwei Stunden war aufgefallen, daß er zu Hause war.
Er war oft die Woche unterwegs, auswärtige Aufträge, und als er an seinem Geburtstag eintraf, stand sie in der Küche. Er wollte sie in den Arm nehmen, einfach nur nah bei ihr sein, aber sie drückte ihn nach kurzer Begrüßung weg.“ Da kommt gleich diese Sendung, wo fünf Leute füreinander Kochen, die will ich schnell noch sehen und wissen wie es ausgeht, dann komme ich“.
Er saß die Stunde allein in der Küche und überlegte warum er so schnell gefahren war.
Immer mehr hatte er das Gefühl, ein Möbelstück zu werden, ein Teil des Inventars seines Hauses, daß man nur noch wahr nimmt, wenn es im Wege steht.
Früher hatten sie immer das Wortspiel gespielt „Liebst du mich?“ „Ja“ „Warum?“ und sie hatten immer schöne Komplimente füreinander gefunden. Schleichend blieb dann nur noch die Antwort zurück: „Weil du ein toller Mann (oder eine tolle Frau) bist.“ Sie spielten es schon lange nicht mehr.
Irgendwann hatte sie gemerkt, daß er unzufrieden war und er hatte ihr gesagt wie er sich fühlt, sie hatten die ganze Nacht gesprochen, bei einem Glas Wein in der Küche, dort wo sie immer gerne saßen. Sie hatten beide sehr geweint, sie hatten versprochen sich Mühe zu geben. Und er hatte sich vorgenommen nie wieder zu weinen.
Ja sie hatten sich Mühe gegeben, sie hatten wieder etwas mehr Zärtlichkeiten ausgetauscht und auch mal wieder etwas zusammen unternommen, aber er hatte dabei das Gefühl, sie tut es, weil er es so will und nicht weil sie es selber will, es war nicht so wie früher. Aber sie hatte sich Mühe gegeben, zwei Wochen, einen Monat? Er wusste es nicht mehr.
Und jetzt wo die Jungs groß und immer öfter aus dem Haus waren, fühlte er sich oft allein in seiner eigenen Familie.
Seine Frau war zu seinem Freund geworden, sein bester Freund, aber eben nur ein Freund. Sie hatte gefragt ob sie nicht Urlaub an der See machen wollten, Hiddensee vielleicht.
Doch, er wollte schon, aber konnte er ihr sagen, daß er es nicht mit IHR wollte? In letzter Zeit wollte er eigentlich nur noch allein sein.
Er wusste, daß sie ihn liebt, sehr liebt und es ihr das Herz brechen würde, wenn er ihr sagte was in ihm vorging.
Und was war mit den Jungs? Er liebte sie und sie ihn auch. Besonders der Große. Ein junger Mann von 20 Jahren, einen Kopf größer als er, und recht erfolgreich beim Studium, aber wenn sie sich am Wochenende sahen fielen sie sich in die Arme und drückten sich wie vor 15 Jahren, als er noch klein und wackelig auf den Beinen war. Der Jüngere war zurückhaltend, sehr sensibel, jede schlechte Stimmung in der Familie schlug ihm sehr aufs Gemüt und riss seine Leistungen in der Schule in den Keller. Konnte er sie mit seinen Zweifeln belasten?
Hatte er nicht alles was man wollte?
Er wollte doch eigentlich nur wieder wahr genommen werden. Er wusste nicht ob er ein attraktiver Mann war, aber das schon fast peinlich direkte Anflirten durch die Kolleginnen war ihm manchmal sogar angenehm. Nein, er wollte kein Verhältnis, aber als Mann anziehend gefunden zu werden war sehr angenehm und jedes Mal wurde ihm mehr bewusst, dass es das war, was er zu Hause nicht mehr fand. Er war dort wie sein Koffer, immer noch da, aber nicht mehr zu finden.
„Die Welt steht dir offen und wenn du hinaus willst, wirst du ein paar Sachen mitnehmen wollen.“
Am nächsten Tag holte er den Koffer vom Dachboden und legte ihn auf sein Bett. Langsam begann er seine Sachen hineinzutun und hatte Tränen in den Augen…..