Blickwinkel
Marco sah aus dem Fenster. Die wirbelnden Schneeflocken produzierten wirre Muster in der Luft. Er versuchte, sich auf eine Stelle zu konzentrieren, focussierte seinen Blick auf den schmalen Ausschnitt zwischen der alten Fabrik rechts und der Garagenfront links. Er musste den Blick soweit senken, dass er en unausstehlich blauen Himmel nicht erreichte. Er musste den Blick so weit heben, dass er den holprigen Asphalt mit seinen hässlichen Schlaglöchern und den wieder angefrorenen, schmutzigen Schneeresten nicht mehr bemerkte.In dem verbliebenen Ausschnitt wirbelten die Flocken mit doppelter Heftigkeit, getrieben von dem scharfen Westwind, der sie unbarmherzig in den schmalen Schlauch herein trieb, um sie im Hintergrund vor den backsteinernen Lagerhäusern zu hohen Schneewehen zu türmen.
Marco focussierte erneut und verengte den Ausschnitt seines Blicks auf die höchste der Wehen, die das hölzerne Eingangstor bereits unpassierbar gemacht hatte. Dieses Tor bestand aus einer einzigen, großen Fläche aus Fichtenholz, die in einer Schiene unten und einer Schiene oben hin- und hergeschoben werden konnte. Genau in der Mitte befand sich außerdem eine Tür, deren Benutzung es Fußgängern ermöglichen sollte, das Lagerhaus zu betreten und zu verlassen, ohne jedes Mal das Tor bewegen zu müssen. Die Anschläge waren verrostet. Schon lange waren sie nicht mehr bewegt worden.
Die Umrisse der Tür hoben sich immer noch deutlich von der Torfläche ab, denn im Gegensatz zu dieser war sie in einem satten Dunkelgrün gestrichen. Winzige Eiskristalle hatten sich entlang der schmiedeeisernen Beschläge festgesetzt und boten den wirbelnden Flocken eine erste Fläche, um sich niederzulassen. An der Klinke hatten sich kleine Eiszapfen gebildet, die dolchartigen Zähnen gleich den Eintritt zu verwehren schienen.
Erneut reduzierte Marco den Blickwinkel. Er konzentrierte sich ganz auf die untere, horizontale Linie zwischen Tür- und Torflügel, an der das Wachstum der Wehe genauestens zu beobachten war. Flocke für Flocke flog gegen das grüne, rissige Holz, sank nieder und vereinigte sich mit ihren Schwestern. Flocke für Flocke türmte sich über einander. Langsam aber unaufhaltsam verdeckte die Schneewehe die ersten Zentimeter der Fuge. Marco hatte es geschafft. Er hatte seine zwei Quadratzentimeter Ruhe gefunden.
Eine Hand auf seiner Schulter riss ihn jäh aus seiner Konzentration. Vor ihm stand die Frau mit den roten Haaren und reckte zwei Finger waagerecht hervor. Sie wies damit auf seine Augen, als wolle sie sie aufspießen, und führte sie dann zu ihren Augen. Dann nahm sie seine Hand und führte ihn zu einer Gruppe von sechs anderen Kindern, die im Kreis am Boden saßen und sich bemühten, rote, gelbe und grüne Bauklötze übereinander zu stapeln.
Marco riss sich los, hockte sich außerhalb des Kreises nieder und begann, unter klagenden Lauten seinen Oberkörper vor- und zurückzubewegen. Seine Augen spreizten ihren Blick so lange nach rechts und links, bis die Welt endgültig verschwand. Der Satz „er macht einfach keine Fortschritte“ erreichte ihn nicht.
© sylvie2day, 02.02.2010