Schneetreiben
Es schneit. Wild wirbeln die Flocken um die Häuser und der Wind pfeift im Kamin, in dem ein warmes, knackendes Feuer brennt. Die grauen, schweren Wolken lassen es noch früher dunkel werden, und Kerzen brennen in der Dämmerung, tauchen den Raum in warmes, sanftes Licht. Der Schnee draußen dämpft alle anderen Laute, so dass es scheint, als sei die Welt ein wenig in die Ferne gerückt. Das Ticken der Wanduhr, das Prasseln des Feuers und das Heulen des Windes vereinigen sich zu einem Lied, das mich fast in Trance versetzt, während ich mir an der Fensterscheibe die Nase platt drücke um dem wilden Hexentanz der Schneekristalle zuzusehen. Ab und zu muss ich mit der Hand über die Stelle wischen, an der sich mein Atem auf dem Glas niedergeschlagen hat. Mutter würde schimpfen, wenn sie sehen würde, wie ich die Scheibe verschmiere, aber ich will alles genau sehen, will es in mich aufsaugen, würde am liebsten hinauslaufen und mich dem Wind und dem Schneetreiben hingeben.
Aber ich weiß ja, wenn sie kommen werden sie mich mit sich reißen und ich muss mit ihnen ziehen bis mich eine gute Seele befreit. So wie sie meinen Bruder mitgenommen haben, in einer Sturmnacht wie dieser. Ich war damals noch ein Baby, aber die Großmutter hat mir davon erzählt und mich vor den Rauhnächten gewarnt.
Ich starre hinaus bis meine Augen außer dem Wirbeln nichts mehr wahrnehmen.
Ich denke an meinen Bruder, den ich nie gekannt habe und der doch um so vieles besser war, als ich. Besser war er allein schon dadurch, dass er ein Junge war. Er war größer, als die anderen Kinder, stärker, als ich es je werden würde, er war immer fröhlich und nicht so ein scheues, verträumtes, dummes Ding, wie ich.
Wenn ich ihn doch nur zurückholen könnte! Dann hätte ich eine große, eine gute Tat getan und die Eltern würden in mir nicht immer nur das schwache Abbild meines Bruders sehen.
Schnell spreche ich ein Gebet, denn das sind schlechte Gedanken. Ich darf so nicht von den Eltern denken. Ich muss bescheidener werden. Doch ohne mein Wollen wird aus dem Gebet um Vergebung ein Gebet der Hoffnung, der Sehnsucht und der Wut. Und als hätte mein Zorn sich mit dem Wind vereint, wird das Schneetreiben immer dichter und wilder und mit einem Mal sehe ich ihn als Schemen vor mir, ihn, den Anführer der wilden Horde. Gleich darauf erkenne ich sein Gefolge, das johlend und von jaulenden Hunden begleitet vorüberzieht. Zog da nicht auch ein lachender, blondschöpfiger Junge mit ihnen?
Jetzt gibt es für mich kein Halten mehr. Im Hemd, wie ich war, reisse ich die Haustür auf, stürze mich in den Wind und renne der singenden Meute hinterher, so schnell mich meine Füße tragen.
Immer weiter laufe ich, immer einen Schritt zu langsam, um sie einholen zu können. Ich renne, als gelte es mein Leben. Der eisige Schneewind macht meine Augen fast blind und sticht mir bei jedem Atemzug mit Messern in die Brust. Ich rufe ihnen hinterher, aber meine Stimme wird mir vom wütenden Sturm entrissen.
Irgendwann sinke ich kraftlos und weinend auf die Knie und bettle und bete, sie mögen auf mich warten. Doch ihre Lieder, ihr Johlen und Lachen, das Hundegebell verhallen und ich bin allein mit dem Sturm.
Es schneit. Wild wirbeln die Flocken um die Häuser und der Wind pfeift im Kamin, in dem ein warmes, knackendes Feuer brennt.
Ich trenne meinen Blick von dem Naturspiel draußen und muss mich ein wenig schütteln. Der Tee in der Tasse, die ich in der Hand halte ist längst kalt und ich weiß nicht, wie lange ich aus dem Fenster in die Dunkelheit gestarrt habe, aber es ist, als sei ich aus einer Trance erwacht, in der ich Bilder eines Lebens sah, das ich nie gelebt habe.
(c) Rhabia