Sahnetorte
Es ist noch ein bißchen Zeit, bis die Tage wieder wärmer werden, die dicken Pullis in der unteren Schublade landen und leichte Kleidchen angesagt sind. Noch denkt keiner an Sommer und Badefreuden und den kleinen, süßen Bikini von letztem Jahr. Noch kein Aufschrei vor dem Spiegel, wenn sich ein Paket aus Winterträgheit, Entenbraten, Schokocroissants und schwerem Rotwein als unliebsame Zusatzfalte über dem verführerisch geschnürten Tanga wölbt.Und doch kam ihr der Gedanke an Diäten in den Sinn, als sie ihm an einem kalten Februartag im Cafè gegenüber saß. Nicht weil sie sich zu dick vorkam in ihrem Outfit aus Stiefeln, Leggings und langem Oberteil. Im Gegenteil, sie fühlte sich schön bei diesem Treffen. Sie hatte schon mehrmals seinen wohlgefälligen Blick auf ihrem Körper gespürt. So wie auch sie immer wieder an seinen Lippen hängen blieb – wenn er sprach, schweigend zuhörte oder herzhaft in ein Blätterteigteilchen biss. Es waren schöne Lippen; sie hätte sie gerne mit der Fingerspitze berührt... sie geküsst... oder zart in sie gebissen.
Aber es war ein first date, der kleine Tisch hielt beide auf Distanz, und sie plauderten leicht und geistreich über Dies und Jenes. Gerade sprach er über Genuss, die kleinen Gaumenfreuden, die den Appetit stillten und den Alltag krönen konnten. Dass er sie sich gönnte, trotz der Diät, mit der er sich sonst in Form hielt. Er ließ kleine Ausrutscher zu, denn ab und zu durfte Lust über Disziplin siegen. Bewusster Genuss, ohne den bitteren Beigeschmack von Reue. Sie stimmte ihm zu. Was nutzte es, wenn man ein herrliches Stück Sahnetorte verspeiste, voll schlechtem Gewissen und Furcht vor dem Blick in den Spiegel am nächsten Tag? Wenn man nicht das Gefühl hatte, einen solchen Genuss verdient zu haben und ihn auch verkraften zu können, war es besser, man ließ es. Man musste eben das richtige Mass finden zwischen Disziplin und Genuss, Pflicht und Kür.
Sie musste lächeln. Wie elegant hatten sie damit die Prämissen einer möglichen Beziehung zwischen ihnen abgesteckt. Denn dieser überaus attraktive Mann ihr gegenüber war verheiratet. In seinem Eigenheim wurde solide, kalorienbewusste Kost serviert, und sie könnte das Sahnetörtchen sein, das dieses Einerlei ab und zu genussvoll unterbrechen würde.
Obwohl sie ohne Anstrengung ihre schlanke Figur halten konnte, war ihr über die Jahre die Leichtigkeit abhanden gekommen, sich bedenkenlos in eine Affäre zu stürzen. Konnte sie sich durchaus ohne Zweifel oder spätere Reue einen GaumenGenuss gönnen, wuchsen ihre Bedenken gegenüber Abenteuern, deren Ausgang absehbar war: eine verletzte Ehefrau, eine immer zu kurz kommende Geliebte und dazwischen ein strapazierter Mann, aufgerieben zwischen Lust und schlechtem Gewissen, Genuss und Verantwortung.
Natürlich gab es auch die andere Seite: Sie war hungrig, sie sehnte sich nach Lust und Leidenschaft, nach Sinnlichkeit und Körperfreuden. Und dieser Mann versprach all das. Er war wie eine Sahnetorte vom besten Konditor der Stadt, die verlockend vor ihr auf dem Teller wartete. Sollte sie sich das nicht einmal wieder gönnen? Hatte sie es nicht verdient nach langer Zeit vernünftiger Entsagung?
Würde der Genuss die unvermeidliche Reue wert sein?
Sie zog die Gabelzähne übers Tischtuch und fragte sich, ob sie diese Sahnetorte genießen oder bei ihren Reiskräckern bleiben sollte.
©tangocleo 2010