Präsenz
Realität, der harte Kranz des Lenkrads war Realität. Er saß vorn über gebeugt in seinem Auto, den Kopf auf dem Lenkrad. Die unvergleichliche Vielfalt der Realität hatte ihn eingeholt.Noch zur Mittagszeit war diese Frau ein Phantom, ein Wunschbild seiner Phantasie gewesen. Geprägt von einer sinnverwirrenden, anregenden nicht zuletzt aufregenden Mail Konversation. Wundervolle Wörter und Sätze, verwandelt in Bilder. Jetzt, sechs Stunden später, war er erfüllt vom Rausch der letzten Stunden.
Sie hatten sich an einem öffentlichen Ort getroffen. Ein Restaurant, mehr Kantine als lauschiger Treffpunkt. Öffentlich, sehr öffentlich. Der reservierte Tisch in der Mitte des Raumes. Nüchtern, karg, unpersönlich. Doch, nur so lange bis sie eintraf. Oh, nicht eintraf, erschien! Kein plakatives Auftreten. Ein anreichern des Raumes mit ihrer Persönlichkeit. Suchende Blicke die sich finden. Ein Erstrahlen. Das Licht im Raum wird heller. Sie ist da!
Die ersten Minuten ihres Gesprächs sind zögernd, vorsichtig, tastend. Ihre Augen finden ihre Gedanken. Auf einmal sind sie ganz bei ihm, lassen ihn nicht mehr los. Taxieren, tanzen hin und her, lachen, leuchten. Der Raum um sie herum wird dichter, persönlicher. Die Welt verschwindet im Hintergrund. Ihre Seinssphäre reduziert sich auf den Tisch,eine Frau,einen Mann.
Wortgespinste werden gesponnen. Verweben sich in strahlenden Fäden von Geschichten. Werden geschmückt mit Sinn und Emotionen. Zerstückelt vom Intellekt. Sanft von ihren, sich bewegenden Händen aufgefangen und in wundervolle neue Mäntel gekleidet. Staunend betreten sie ihre Wortgebäude, schmücken sie mit immer weiteren Details und tanzen lachend durch die Hallen ihrer Wünsche. Ihre Worte tollen wie junge Hunde, necken, beißen, springen.
Dabei verliert sich sein Blick in ihren Augen. Glitzernde Bernsteinaugen. Doch hier ist so viel mehr. Ihr zarter Duft der ihn betört. Ihre Stimme, so fein modulierend die Wörter in die Leere des Raums malend. Ihre Lippen, aah, ihre Lippen. Sinnlich, bewegt von Sprache und Mahl. Wie gerne würde er sie küssen. Sie schmecken, den Duft ihrer Haut und Haare in sich aufsaugen. Sie ist so präsent! Wenn es das Wort Präsenz nicht gebe, müsste man es für sie erfinden.
Die warme Fülle ihrer Worte, ihr schneidender Intellekt. Ihre weichen Bewegungen. So viel Frau, Weiblichkeit, Sinnlichkeit. Nicht marktschreierische, unverhüllte, präsentierte, weibliche Attribute. Nein, verhüllte Sinnlichkeit.
Seine Gedanken verlaufen sich in Nervosität bereitende, erregende Frage nach Enthüllung. Denken an Körper und Bewegung. Lieben ihre Worte und verschlingen ihre Formulierungen. Es ist ein Tanz. Ein sinnliches Verschmelzen. Genuss mit dem dem Versprechen von mehr. Wie paaren sich Wollust und Intellekt ? So!
Stunden und Minuten verlaufen sich im Raum. In die Blase aus Raum, Zeit und ihrer Präsenz dringt erst nach Stunden die erste Spur einer anderen Welt. Gemächlichen Schrittes begeben sie sich dorthin. Aufgewühlt, erregt, angespannte, entspannte, glücklich lächelnde Rückkehr ins Jetzt.
Nach dem verlassen des Lokals, ein Versprechen nach mehr, ein gehauchter Kuß, eine leichte Umarmung. Sie verschwindet im Dunkel des Wintertages.
Jetzt sitzt er hier. Spürt den Lenkradkranz an seiner Stirn. Realität. So wunderbar. So fern.
Ein Versprechen von mehr. Der nächste große Streich der Phantasie. Realität , wann?