Das Tor
Das TorIch erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich meine Unschuld verlor, an dem mein Glaube an die Menschen gebrochen wurde.
Das Ereignis hat mich hart gemacht, steinhart – außen.
Innen drinnen – da wage ich noch keinen Blick hinein.
Jetzt stehe ich inmitten einer menschenleeren Steppe, betrachte die Nacht und lausche den Tieren, die mich irgendwann einmal überwältigen und fressen werden. Präriehunde bellen in der Ferne und Hyänen lachen, dass es mir kalt den Rücken runter läuft.
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Was sind das für Leute, die mich wegen meiner Herkunft so behandeln?
Niemand konnte im Lauf der Geschichte die Zäune in den Köpfen der Menschen einreißen. Ich habe es gesehen, bin in der Zeit gereist, immer weiter zurück musste ich gehen, bis ich hier anlangte und bleiben musste.
„Warum?“, frage ich die Leere in mir.
„Fähnrich“, knackte es aus dem Funkgerät. „Fähnrich! Melden Sie sich, sofort!“
Der so Angesprochene überhörte den Ruf. Er war viel zu sehr in die Szenerie vor ihm vertieft. „Wenn Sie nicht sofort zurückkommen, verschwinde ich ohne Sie, verstanden. Meldung!“
Etwas ließ den jungen Mann aufhorchen. Mühsam wandte er den Blick und senkte ihn auf das Kommunikationsgerät.
„Ey, bin auf dem Rückweg. Das hätten Sie sehen sollen, Leutnant.“ Seine Stimme klang begeistert, dennoch zog er sich vorsichtig zurück, lautlos. Er wollte die majestätischen Tiere vor ihm nicht stören und aufschrecken schon gar nicht. Wenn eine Herde Mammuts zum Losrennen anfängt, dann ist das mit Sicherheit nicht lustig.
Atemlos war er beim Transporter angekommen. Die Tür glitt auf und eine Hand, die zu einem mehr als ärgerlichen Leutnant gehörte, zerrte ihn rein.
„Meldung! Sie Vollidiot!“ Dieser Ausbruch war durchaus typisch für den Leutnant. Er war sauer. Wenn der Fähnrich wissenschaftlichen Studien machte, vergaß er, dass er ein Angehöriger des Militärs war und ignorierte manche Anordnung. Es war nicht das erste Mal, dass er lautstark an Befehle erinnert wurde.
„Ey! Ich habe eine Herde Mammuts beobachtet. In etwa fünf Kilometer Entfernung konnte ich so etwas wie Höhlen erkennen. Um Genaueres zu sagen, müssten wir wohl näher ran. Irgendetwas hat scheinbar die Sensoren der Infrarotkamera gestört. Leider kann ich Ihnen darüber keine Details nennen. Die Vegetation besteht aus Süßgräsern, niedrigen Birkengehölzen, natürlich auch einigen Kräutern, zum Beispiel. …“
„Das wollte ich nicht so genau wissen, Smirnov. Menschliche Aktivitäten?“
„Äh, nein, Leutnant, bis auf die Höhlenformation, die ich bereits erwähnte.“
„Gut, machen Sie Ihren Bericht später, wir kehren zurück.“
„Wollen Sie nicht wissen, ob in den Höhlen Menschen wohnen?“
„Nein – wir hatten Befehl an diesen Koordinaten zu landen und uns hier umzusehen. Die maximale Aufenthaltsdauer ist bereits überschritten. Jetzt geht’s zurück, wir sind schon zu lange hier.“
Der junge Fähnrich, Experte auf dem Gebiet der menschlichen Geschichte, musste sich fügen und setzte sich nur widerwillig an seinen Platz.
Mit einem leichten Glühen verschwand das mobile Forschungsfahrzeug und landete in einer anderen Zeit.
Es war verwirrend, erschütternd und eine massive körperliche Belastung für einen Menschen, deshalb wurden bei Zeitreisen die Anzahl der Teilnehmer auf zwei beschränkt. Am besten man schickte jemand Entbehrlichen, Historiker gehörten dieser Gruppe an.
„Leutnant Thomson, melden Sie sich umgehend auf der Brücke“, tönte es aus den Kommunikatoren, kaum dass sie zurück waren. Der ältere Offizier starrte den jüngeren feindselig an. Der Blick sagte: „Wenn ich wegen dir Schwierigkeiten bekomme, dann kannst du was erleben, Bürschchen.“
Smirnov senkte ergeben den Blick. Er gehörte zu den Entbehrlichen. Ebenso Thomson, aber dieser konnte wieder auf der Leiter rauf kommen. Für Smirnov war der Zug in dieser Hinsicht abgefahren, oder besser, es hatte nie einen gegeben.
„Alex, warum hast du nichts Ordentliches gelernt, dann müsstest du dich nicht mit diesem Unsinn hier plagen?“, fragte er sich, als er sich an ein Terminal setzte und sein Gehirn mit dem Computer verband. Jetzt musste er aufpassen was er dachte und vor allem wie er es dachte. Der Einsatzbereicht, zumindest der wissenschaftliche Teil, sofern man es als wissenschaftliche Analyse werten konnte, war seine Aufgabe. Es entrüstete ihn, wie schlampig hier mit den Tatsachen umgegangen wurde. Seine Berichte wurden oft gekürzt, korrigiert oder gar verworfen. Als Historiker hatte man es nicht leicht, wenn man gezwungen war, die Wahrheit zu verschleiern. Alex hatte resigniert wie schon viele vor ihm. Und wie seine Vorgänger würde auch seine Zukunft in diesem Bereich nur von kurzer Dauer sein, nur solange die jeweilige Administration die Ergebnisse billigte.
An das Aufzeichnungssystem hatte er sich nur langsam gewöhnt. Die Gedanken wurden mittels eines Sensors direkt aus dem Gedächtnis geholt und in interne Speichermodule transferiert. Auf diese Weise konnte sich jeder selber ein Bild der Landschaft oder von was auch immer machen. Dort wurde dann an den Aufzeichnungen korrigiert, bis alles passte.
Jetzt gab Alex eine kurze Beschreibung der Landschaft, die er vor nicht einmal einer Stunde Erdstandardzeit verlassen hatte.
‚Ich konnte insgesamt zehn verschiedene Pflanzenarten unterscheiden, wahrscheinlich gibt es noch unzählige Unterarten, die ich in der Kürze der Zeit nicht ausmachen konnte. Hauptsächlich besteht die Vegetation aus Süß- und Sauergräsern, je nach Bodenbeschaffenheit. Dazwischen befinden sich noch Mohngewächse, Schachtelhalme, niedrig wachsende Birken- und Weidengewächse …’ Er erging sich in einer detaillierten Beschreibung der Flora. Dann wandte er sich der Tierwelt zu.
‚Ich konnte viele Gattungen ausmachen, mehr als bei diesem Klima zu erwarten war. Wie wir aus alten Geschichtsaufzeichnungen wissen, ist die dominierende Art das Wollmammut. Es lebt in Herden und zieht durch die Tundra bis in die südlichen Steppengebiete, leider konnte ich aus Zeitmangel keine genaueren Daten erheben. In diesem Gebiet erkannte ich noch Moschusochsen, Taigaantilopen und Rentiere, die ebenfalls in Herden leben und den Mammuts folgen. Natürlich ziehen solche Herden auch Räuber an. Ich habe aber nur eine Fuchsfamilie bemerkt. Sie haben den zahlreichen Lemmingen und Hasen nachgestellt.’ Er holte tief Luft, strich sich durchs Haar und stand auf. Der Clip an der Schläfe löste sich mit einem schmatzenden Geräusch und er war nicht mehr mit den internen Speichermodulen verbunden. Erleichterung durchströmte ihn wie ein warmer Fluss. Er holte sich ein aufputschendes Getränk, verharrte einige Minuten in Gedanken versunken, bevor er sich seufzend wieder an die Arbeit machte. ‚Es hat ja alles keinen Sinn, verflucht. Niet, keinen Sinn. Wenn sie schon wollen, dass ich die Vergangenheit vor Ort studiere, dann sollen sie mir auch die nötige Zeit geben. Es ist jedes Mal dasselbe Theater. Kaum glaube ich etwas Interessantes entdeckt zu haben, pfeifen mich diese Hirnis zurück.’ Erschrocken schnitt er jeden Gedanken an seine Vorgesetzten ab, schluckte eine Koffeinpille und trank noch ein Glas Wasser. Dann drückte er den Stirnlappensensor wieder an die Schläfe und setzte den Bericht fort. Jetzt kam er zu den, für ihn interessanten Teil der Beobachtung, die er leider nicht fortsetzen konnte.
‚Von meinem Standort, er ist den genauen Logbuchaufzeichnungen zu entnehmen, etwa fünf bis sieben Kilometer entfernt, auf einer Anhöhe, konnte ich eine Höhle ausmachen. Es dürfte sich nach meiner Einschätzung um eine menschliche Ansiedlung handeln. Ganz schwach lag der Geruch nach Rauch in der Luft.’ Er entfernte abermals den Gedankensensor und dachte für sich: ‚Ich würde diese Höhlen gerne näher in Augenschein nehmen oder auch die Ansiedlungen die ich beim Überflug auf dem südlichen Kontinent gesehen habe.’
Er gähnte und streckte sich. Diese Zeitreisen ermüdeten und erschöpften ihn. Immer wurde nach der Rückkehr ein sofortiger Bericht verlangt, was keine Erholungs- oder Wiederanpassungszeit erlaubte. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt sich zu waschen. Resigniert drückte er den Sensor wieder an die richtige Stelle und berichtete weiter. Je schneller er fertig wurde, desto früher konnte er sich ausruhen.
„Thomson“, brüllte der Kapitän. „Was hat da solange gedauert?“
Der Leutnant stand stocksteif vor seinem Kommandeur. Wut kochte in ihm, Wut auf den verdammten Wissenschafter, der nie auf die Zeit oder Befehle achtete und ihn damit immer wieder in Schwierigkeiten brachte.
Stramm salutierte er, bevor er knapp berichtete: „Ma’m, wir sind wie befohlen bei den Koordinaten gelandet. Dort hat dann Smirnov seine Beobachtungen gemacht. Die Detailbeschreibungen zur Umgebung bekommen Sie vom Fähnrich, Ma’m.“
‚Dieser kleine Scheißkerl hat wieder mal gebummelt’, setzte er in Gedanken dazu. Der Kapitän grinste. Wieder hatte Thomson vergessen, dass sie eine starke Telepathin war.
‚Wenn Sie meine Gedanken lesen, warum dann der Rapport?’, dachte er, nicht zum ersten Mal. Schon öfter hatten sie darüber gesprochen.
„Weil wir die Form wahren müssen, Leutnant Thomson. Wo kämen wir da hin, wenn jeder Telepath in den Gedanken der anderen Leute schnüffeln würde? Sehen Sie zu, dass Sie diesen Fähnrich auf Vordermann bringen, bevor ihm noch ein Unglück zustößt. Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen. Ich erwarte morgen nullsiebenhundert Standardzeit Ihren Bericht.“
„Ey, Ma’m!“ Erleichtert hob er die Hand zum Gruß, machte auf dem Absatz kehrt und stieß erst die Luft aus, als er die Brücke verlassen hatte.
Seinen Zorn auf den Wissenschafter musste er irgendwie Luft machen. Ganz genau wusste er, dass der Kapitän jetzt auf der Brücke stand und grinste. Er war Telepath genug um das zu spüren, sonst hätte er keine Kommandofunktion. Sie sandte ihre Freude über seinen Zorn direkt in sein Gehirn, das stachelte seine Wut noch mehr an.
„Verdammter Smirnov“, sagte er leise und fluchte als er zu den Gedächtnisterminals ging. Wie zu erwarten fand er dort den jungen Mann. Der Fähnrich war so in seinen Bericht vertieft, dass er den vorgesetzten Offizier erst bemerkte als es zu spät war.
„Fähnrich!“
Alex zuckte zusammen und sprang auf. Warum er immer wieder so angebrüllt wurde verstand er nicht, schließlich war er Offizier und Wissenschafter – noch dazu ein Fachmann auf seinem Gebiet. Das einzige, das ihm zu einer höheren Laufbahn fehlte, war etwas, das er aufgrund seiner Geburt nie erlangen würde. Er war kein Telepath und er stammte aus der falschen Region.
Er nahm Haltung an, stand als ob er einen Stock verschluckt hätte und hielt die Hand korrekt an die Stirn. Thomson ließ ihn nicht rühren, während er auf ihn einbrüllte: „Wenn der Bericht fertig ist, melden Sie sich bei mir! Umgehend!“
Der Fähnrich stand wie angewachsen und bekam einen gewaltigen Schreck. Der Zorn des Vorgesetzten war sogar für ihn spürbar.
„Rühren und an die Arbeit!“
Angst und Wut kämpften um die Vorherrschaft. Alex versuchte krampfhaft beides zu unterdrücken, die anwesenden Telepathen blickten schon feindselig zu ihm. Es galt als nicht gerade höflich, wenn man seine Gedanken so in die Gegend schleuderte.
Er schluckte ein paar Mal heftig, sammelte sich und drückte dann den Sensor wieder an die Schläfe. Der Bericht war fast fertig.
‚Wenn wir etwas länger Zeit gehabt hätten, hätten wir unter Umständen eine der ersten menschlichen Ansiedlungen vorfinden können. Vielleicht gibt es noch eine Gelegenheit, damit ich sie studieren kann, oder besser noch die Siedlungen auf dem südlichen Kontinent. Die Menschen dort schienen mir den Sensoraufzeichnungen zu urteilen, weiter entwickelt zu sein. Aber das lässt sich so einfach nicht feststellen, dazu müsste ich nochmals in der Zeit reisen und sie eingehender studieren: ihr Sozialverhalten, die Verwendung von Werkzeugen und die Umweltbedingungen spielen bei diesen Studien eine große Rolle.’ Alex verlor sich in Details. Er wusste, dass er die Begegnung mit Thomson hinauszögerte. Als ihm nichts Nennenswertes mehr einfiel, raffte er sich auf, unterdrückte die Angst und den aufkommenden Zorn. Zumindest versuchte er es. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was ihn nun erwartete.
Nicht aus den richtigen Kreisen zu stammen war seit vielen Jahrtausenden ein Problem für ganze Bevölkerungsschichten. Alex fand es noch immer sonderbar, dass die Menschheit sich so weit entwickelt, aber die Vorurteile anderen gegenüber nicht aufgegeben hatte. Noch immer war in den Köpfen der Menschen die Angst vor dem Fremden fest verankert. Was einerseits zu einer technischen Weiterentwicklung, gerade im militärischen Bereich geführt hatte, andererseits aber die sozialen Bedürfnisse und Bindungen unter den Menschen sehr stark behinderte. Es gab Rassentrennung – er hatte es am eigenen Leib erfahren, immer wieder. Die Eumerier hielten ihre Kultur für die einzig wahre und wollten sie der ganzen Welt aufdrücken. Dadurch dass dort seit einigen Generationen immer mehr Telepathen auftauchten, hatten sie noch mehr Grund sich für etwas Besseres zu halten. Sie schotteten fast den gesamten Kontinent ab und beuteten den Rest der Welt einfach aus.
Alex fand das ungerecht. Aber noch hielt sein Glaube an das Gute im Menschen. Während seiner zahlreichen Studien war er zu der Erkenntnis gekommen, dass hinter dem Machtgehabe sehr viel Unsicherheit verborgen lag. Dennoch, was half es, das zu wissen, wenn man auf der falschen Seite der Grenze zur Welt gekommen war, den Wohlstand nur von außen betrachten konnte und als Mensch zweiter Klasse galt, wenn nicht sogar dritter?
Alex entstammte dem Volk der Samek, die sich im Laufe der Zeit immer mehr nach Osten zurückzogen und nun nur mehr aus ein paar hundert, vielleicht tausend Leuten bestand. Um nicht vollends unterzugehen hatten sie sich mit den Bewohnern Sibiriens zusammen getan. Bald würde es auch dieses Volk nicht mehr geben. Sie würden ebenso wie die anderen Völker vom Einheitsglauben der vorherrschenden Rasse assimiliert werden.
Die Samek galten als ganz und gar unterentwickelt, minderbemittelt. So war es für Alex fast ein Wunder gewesen, als er zur Universität zugelassen worden war und anschließend auf die Militärakademie geholt wurde. Normalerweise wurde ein Samek bestenfalls ignoriert.
„Ich lasse mich nicht assimilieren. In der Vielfalt liegt die Kraft der Menschheit, wenn das doch nur endlich jemand kapieren würde“, murmelte er, als er zum Leutnant ging.
„Komm rein, du Schlaumeier“, hörte er Thomson noch bevor er den Türsummer berührt hatte. Er straffte die hagere Gestalt, trat festen Schritts in das Büro und salutierte zackig. Wieder ließ Thomson ihn so stehen, schien ihn zu ignorieren.
„So, du willst dich also nicht in die Gemeinschaft einfügen? Was machst du dann noch hier, du verdammte Sumpfratte?“
Alex schluckte, bewegte sich ansonsten nicht. Er ließ auch keine Gedanken zu, starrte nur auf einen Punkt an der Wand.
„Ich habe dich was gefragt! Und nimm verdammt noch mal die Pfote runter!“
Alex gehorchte. „Leutnant, Sir, ich habe gedacht …“
„Du sollst nicht denken, Sumpfratte, sondern Befehle ausführen, dazu bist du hier! Wenn du glaubst, hier dein eigenes Ding durchziehen zu müssen, dann bist du fehl am Platz und kannst mit den Konsequenzen leben! Dein Militärdienst dauert das ganze Leben, also hoffe nur nicht darauf, dass du wieder auf die Erde kommst!“
„Sir …“, begann Alex wieder, unterbrach sich aber, als er die Sinnlosigkeit seiner Argumente sah. Die Leute hier waren von einem anderen Schlag. Er hatte das schon während der Ausbildung bemerkt. Das Militär hatte die Macht. Sie hatten ihn einfach aus seiner Sippe gerissen. Nur weil er Urgeschichte studiert hatte, hatten sie ihn geholt und jetzt war er hier gefangen und musste sich mit den verdammten Maschinen, den Gedankengeneratoren und den arroganten Eumerien herumschlagen.
„Melde dich beim Recyclingdienst. Du bist dorthin abkommandiert worden.“
„Ey, Sir!“
„Du kannst gehen.“
Alex grüßte, drehte sich um und ging stocksteif, mit unterdrückter Wut hinaus. Auf dem Gang ließ er seinem Zorn freien Lauf und er schlug auf die Wandvertäfelung ein. Er wusste, dass alle Telepathen seine Gedanken hören konnten, zu heftig waren sie. Nur mühsam gelang es ihm, die Wut zu unterdrücken, die Ungerechtigkeit zu schlucken. Sein Weltbild begann immer mehr zu wanken.
Das waren nicht die fortschrittlichen Menschen, die ihm bei der Ausbildung vorgelobt worden waren. Es hieß immer, die Leute von Eumeria, dem Hauptkontinent, seien so gebildet und fortschrittlich; weiter entwickelt als die Menschen aus anderen Gebieten, dabei waren sie nichts anderes als eingebildete Egoisten, die die Wahrheit verschleierten und zu ihren Gunsten drehten..
Trostlos fühlte er sich, als er in den Eingeweiden der Raumstation ankam. Noch nie war er hier gewesen. Die Gänge und Schächte waren nur spärlich erleuchtet. Alles wirkte dunkel und eng und es stank.
Der Kommandobereich der unteren Bereiche war etwas heller und deshalb schnell zu finden.
„Ah, du bist mir angekündigt worden“, dröhnte ein großer Mann in grüner Uniform.
‚Warum sind plötzlich alle per du mit mir?’, fragte sich Alex. Er fühlte sich sonderbar, so als hätte man ihn endgültig abgeschrieben.
‚Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan’, fiel ihm ein altes Sprichwort ein. Das ließ ihn schaudern und nichts Gutes für die Zukunft erahnen.
„Salutier gefälligst, auch hier gilt das Gesetz des Militärs!“, herrschte der Mann ihn an.
Erschrocken fuhr Alex’ Hand in die Höhe und er stand wieder stramm.
„So erwarte ich mir das und zwar jedes Mal, wenn ich an dir vorbei gehe, verstanden, ansonsten bekommst du den Stock zu spüren!“
Alex erstarrte innerlich. Davon hatte er einmal erzählen hören, es aber für dumme Geschichten oder Einbildung gehalten. Während der Ausbildung hatten die älteren Kadetten von drakonischen Strafen berichtet. Jede Befehlsverweigerung, dazu zählte auch Unpünktlichkeit, wurde hart bestraft. Er hatte es wirklich für dummes Geschwätz gehalten, um den Jüngeren Angst zu machen, sie auf Spur zu bringen. Nun wusste er, dass es stimmte. Sein Glaube an das Gute im Menschen erlosch immer mehr.
Gehorsam begab er sich an seinen neuen Arbeitsplatz und versah seinen Dienst. Es war schwierig, sich einerseits auf die Aufgabe zu konzentrieren und andererseits den Leutnant nicht aus den Augen zu verlieren. Immer wieder ging er an ihm vorbei, wobei es Alex in die Höhe riss und er stramm stand. Gegen Ende der Schicht wurde er unaufmerksamer. Er übersah den Vorgesetzten und sofort landete der Stock auf seinem Rücken. Mit einem Schmerzenslaut richtete er sich sofort auf und stand stramm, was aber nichts mehr nutzte. Der Stock sauste auf ihn nieder. Insgesamt zehnmal. Alex versuchte dabei gerade stehen zu bleiben und die Hand an der Stirn zu lassen. Fest biss er die Zähne aufeinander. Er war ein Samek, darauf war er stolz. Das redete er sich in diesen Minuten ein.
„Geh zum Quartiermeister, du wirst in Zukunft in den unteren Bereichen leben. Und wenn du wieder unaufmerksam bist, gibt’s die doppelte Anzahl, verstanden?“
„Ey, Sir!“, schrie er, wie auf dem Kasernenhof, nachdem ihm der Ausbilder zum hundertsten Mal in den Dreck springen ließ und ihn danach wegen der schmutzigen Kleidung bestrafte und beschimpfte.
Das neue Quartier war ein Gemeinschaftsraum. Er teilte ihn mit acht anderen Soldaten.
Seine persönliche Habe war schon hergeschafft worden. Außer ein paar Bücher, Papier und Stifte, hatte er nicht viel. Seine Sachen wurden von den anderen im Quartier interessiert beäugt, aber niemand konnte etwas damit anfangen. Bücher und Schreibzeug waren schon lange nicht mehr in Verwendung. Durch die Verwendung von Standardsymbolen war es nicht notwendig, dass jeder Mensch lesen oder gar schreiben lernte.
„Willkommen im Dreckloch, Sumpfratte“, begrüßte man ihn herzlich. „Ich bin Derek, das da sind Suzie, Erich, Ismail, Franklin, Tessa, Dominic und Gottfried.“ Alle hoben kurz die Hand zum Gruß, nachdem ihr Name genannt wurde.
„Ich bin Alex“, stellte er sich vor.
„Bist wohl auch auf der falschen Seite des Zauns zur Welt gekommen“, stellte Derek düster fest.
„Siehst so aus“, antwortete er und räumte seine Habseligkeiten in einen schmalen Spind.
„Du stinkst uns hier die Bude voll, Alex, geh dich waschen“, maulte Suzie und zog die Nase kraus.
„Wenn du mir sagst, wo ich das kann, mach ich es gerne. Oder denkst du, dass es mir Spaß macht zu stinken wie ein Iltis in der Brunft?“
Das brachte alle zum Lachen.
„Du bist schon in Ordnung, Alter. Suzie, wenn es dich so stört, dann zeig ihm hier alles“, meinte Derek heiter.
Alex lebte sich relativ rasch in diese Gruppe ein. Sie schienen alle auf dem Abstellgleis gelandet zu sein. Hier war der Bodensatz der Hierarchie. Sie dümpelten am Rand der Gesellschaft. Der Wissenschafter in ihm machte sich eifrig Notizen und verglich die Gegenwart mit der Vergangenheit, in die er so oft hatte reisen müssen. Jetzt waren die Studien offensichtlich abgeschlossen und er wurde nicht mehr gebraucht. Altertumsforscher waren entbehrlich, wenn sie nicht zum richtigen Ergebnis gekommen waren. Er hatte offensichtlich nicht die richtigen Worte gefunden, um die Tatsachen zu verschleiern.
Abends las er in seinen Büchern, die er rasch auswendig kannte und er langweilte sich. Die Arbeit im Abfall ermüdete ihn und brachte ihn an den Rand des Zusammenbruchs. Der Leutnant dort war ein richtiger Leuteschinder. Er nutzte jede Möglichkeit um ihn zu schikanieren und zu drangsalieren. Unter den Arbeitern gab es in diesem Bereich keinerlei Zusammenhalt. Der Offizier und er waren die einzigen Militärangehörigen dort, die restlichen Arbeiter waren zwangsverpflichtete Zivilisten, verurteilte Verbrecher, die hier ihre Strafe abbüßten und dann wieder zur Erde zurückkehrten.
Einzig die Abende waren annehmbar. Wenn sie alle im Quartier zusammen saßen, erzählten oder Karten spielten, konnte er für einige Zeit seinen Zorn auf den Leutnant vergessen.
Alex wusste, dass er hierbleiben musste. Es war auch die Endstation des Leutnants. Das ließ er die Arbeiter umso mehr spüren, je länger sie hier waren.
Eines Tages platzte Alex der Kragen. Er war ein geduldiger Mensch, sonst wäre er schon viel früher explodiert. Wieder einmal hatte er den Vorgesetzten übersehen, und nicht gegrüßt. So landete der Stock abermals unbarmherzig auf seinen Armen. Da schrie er seine Wut einfach heraus. „Du verdammter Dreckskerl, du! Du Müllschlucker! Was bildest du dir eigentlich ein, immer auf mich einzuprügeln!?“ Dann ließ er sich auf ein Handgemenge mit dem viel größeren Offizier ein. Natürlich verlor er den Kampf und er erwachte mit schmerzenden Knochen und einem blauen Auge im Arrestbereich.
Die Strafe war unmenschlich, unnötig und sie zerstörte sein gesamtes Weltbild, die Unschuld des Glaubens, seines Glaubens an das Gute, das in jedem Menschen schlummert.
„Weil du so ein guter Altertumsforscher bist, darfst du jetzt deine Strafe in der Vergangenheit absitzen“, verkündete der Kapitän.
„Ma’m?“ Alex war verwirrt.
„Du wolltest doch weiter forschen, also wirst in die zuletzt gespeicherte Zeit transferiert und dort bleiben. Was glaubst du eigentlich, mit wem du es hier zu tun hast? Du benimmst dich der Herrscherrasse gegenüber ungehörig! Hast du nicht gelernt, wie du dich einem Eumerier gegenüber verhalten musst. Der Angriff auf einen eumerischen Bürger wird mit schweren Strafen geahndet! Ich brauch so ein Gewürm wie dich nicht auf der Station! – Vielleicht sollte ich dir zum Abschied noch sagen, dass die Samek nicht mehr lange existieren werden. Wir haben sie mittels Geburtenkontrolle ausgerottet, oder zumindest wird es keine Jungen mehr geben. Also, freu dich, du gehörst einer aussterbenden Rasse an.“
Das war zuviel für ihn. Diese Arroganz der Eumerier! Diese Selbstzufriedenheit! Mit einem lauten Schrei stürzte er sich auf den Kapitän und wollte sie erwürgen. Alle anerzogenen Hemmungen waren bei ihren Worten von ihm gefallen und er schlug nach Allen, die um ihn standen und ihn zu fassen kriegen wollten. Mit der Wut der Verzweiflung drosch er auf den Kapitän ein, was dieser aber nur ein Lachen entlockte. Sie lachte ihn aus, obwohl sie einige heftige Schläge einstecken musste.
„Warum?“, frage ich die sternklare Nacht, „warum hat die Menschheit aus der Geschichte nichts gelernt?“