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Was für ein Genuss für Voyeure, wenn Ladys - versehentlich oder…
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Das Tor

nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Das Tor
Das Tor

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich meine Unschuld verlor, an dem mein Glaube an die Menschen gebrochen wurde.
Das Ereignis hat mich hart gemacht, steinhart – außen.
Innen drinnen – da wage ich noch keinen Blick hinein.

Jetzt stehe ich inmitten einer menschenleeren Steppe, betrachte die Nacht und lausche den Tieren, die mich irgendwann einmal überwältigen und fressen werden. Präriehunde bellen in der Ferne und Hyänen lachen, dass es mir kalt den Rücken runter läuft.

Ich verstehe die Welt nicht mehr. Was sind das für Leute, die mich wegen meiner Herkunft so behandeln?

Niemand konnte im Lauf der Geschichte die Zäune in den Köpfen der Menschen einreißen. Ich habe es gesehen, bin in der Zeit gereist, immer weiter zurück musste ich gehen, bis ich hier anlangte und bleiben musste.

„Warum?“, frage ich die Leere in mir.



„Fähnrich“, knackte es aus dem Funkgerät. „Fähnrich! Melden Sie sich, sofort!“
Der so Angesprochene überhörte den Ruf. Er war viel zu sehr in die Szenerie vor ihm vertieft. „Wenn Sie nicht sofort zurückkommen, verschwinde ich ohne Sie, verstanden. Meldung!“
Etwas ließ den jungen Mann aufhorchen. Mühsam wandte er den Blick und senkte ihn auf das Kommunikationsgerät.
„Ey, bin auf dem Rückweg. Das hätten Sie sehen sollen, Leutnant.“ Seine Stimme klang begeistert, dennoch zog er sich vorsichtig zurück, lautlos. Er wollte die majestätischen Tiere vor ihm nicht stören und aufschrecken schon gar nicht. Wenn eine Herde Mammuts zum Losrennen anfängt, dann ist das mit Sicherheit nicht lustig.
Atemlos war er beim Transporter angekommen. Die Tür glitt auf und eine Hand, die zu einem mehr als ärgerlichen Leutnant gehörte, zerrte ihn rein.
„Meldung! Sie Vollidiot!“ Dieser Ausbruch war durchaus typisch für den Leutnant. Er war sauer. Wenn der Fähnrich wissenschaftlichen Studien machte, vergaß er, dass er ein Angehöriger des Militärs war und ignorierte manche Anordnung. Es war nicht das erste Mal, dass er lautstark an Befehle erinnert wurde.
„Ey! Ich habe eine Herde Mammuts beobachtet. In etwa fünf Kilometer Entfernung konnte ich so etwas wie Höhlen erkennen. Um Genaueres zu sagen, müssten wir wohl näher ran. Irgendetwas hat scheinbar die Sensoren der Infrarotkamera gestört. Leider kann ich Ihnen darüber keine Details nennen. Die Vegetation besteht aus Süßgräsern, niedrigen Birkengehölzen, natürlich auch einigen Kräutern, zum Beispiel. …“
„Das wollte ich nicht so genau wissen, Smirnov. Menschliche Aktivitäten?“
„Äh, nein, Leutnant, bis auf die Höhlenformation, die ich bereits erwähnte.“
„Gut, machen Sie Ihren Bericht später, wir kehren zurück.“
„Wollen Sie nicht wissen, ob in den Höhlen Menschen wohnen?“
„Nein – wir hatten Befehl an diesen Koordinaten zu landen und uns hier umzusehen. Die maximale Aufenthaltsdauer ist bereits überschritten. Jetzt geht’s zurück, wir sind schon zu lange hier.“
Der junge Fähnrich, Experte auf dem Gebiet der menschlichen Geschichte, musste sich fügen und setzte sich nur widerwillig an seinen Platz.

Mit einem leichten Glühen verschwand das mobile Forschungsfahrzeug und landete in einer anderen Zeit.

Es war verwirrend, erschütternd und eine massive körperliche Belastung für einen Menschen, deshalb wurden bei Zeitreisen die Anzahl der Teilnehmer auf zwei beschränkt. Am besten man schickte jemand Entbehrlichen, Historiker gehörten dieser Gruppe an.

„Leutnant Thomson, melden Sie sich umgehend auf der Brücke“, tönte es aus den Kommunikatoren, kaum dass sie zurück waren. Der ältere Offizier starrte den jüngeren feindselig an. Der Blick sagte: „Wenn ich wegen dir Schwierigkeiten bekomme, dann kannst du was erleben, Bürschchen.“
Smirnov senkte ergeben den Blick. Er gehörte zu den Entbehrlichen. Ebenso Thomson, aber dieser konnte wieder auf der Leiter rauf kommen. Für Smirnov war der Zug in dieser Hinsicht abgefahren, oder besser, es hatte nie einen gegeben.
„Alex, warum hast du nichts Ordentliches gelernt, dann müsstest du dich nicht mit diesem Unsinn hier plagen?“, fragte er sich, als er sich an ein Terminal setzte und sein Gehirn mit dem Computer verband. Jetzt musste er aufpassen was er dachte und vor allem wie er es dachte. Der Einsatzbereicht, zumindest der wissenschaftliche Teil, sofern man es als wissenschaftliche Analyse werten konnte, war seine Aufgabe. Es entrüstete ihn, wie schlampig hier mit den Tatsachen umgegangen wurde. Seine Berichte wurden oft gekürzt, korrigiert oder gar verworfen. Als Historiker hatte man es nicht leicht, wenn man gezwungen war, die Wahrheit zu verschleiern. Alex hatte resigniert wie schon viele vor ihm. Und wie seine Vorgänger würde auch seine Zukunft in diesem Bereich nur von kurzer Dauer sein, nur solange die jeweilige Administration die Ergebnisse billigte.

An das Aufzeichnungssystem hatte er sich nur langsam gewöhnt. Die Gedanken wurden mittels eines Sensors direkt aus dem Gedächtnis geholt und in interne Speichermodule transferiert. Auf diese Weise konnte sich jeder selber ein Bild der Landschaft oder von was auch immer machen. Dort wurde dann an den Aufzeichnungen korrigiert, bis alles passte.

Jetzt gab Alex eine kurze Beschreibung der Landschaft, die er vor nicht einmal einer Stunde Erdstandardzeit verlassen hatte.
‚Ich konnte insgesamt zehn verschiedene Pflanzenarten unterscheiden, wahrscheinlich gibt es noch unzählige Unterarten, die ich in der Kürze der Zeit nicht ausmachen konnte. Hauptsächlich besteht die Vegetation aus Süß- und Sauergräsern, je nach Bodenbeschaffenheit. Dazwischen befinden sich noch Mohngewächse, Schachtelhalme, niedrig wachsende Birken- und Weidengewächse …’ Er erging sich in einer detaillierten Beschreibung der Flora. Dann wandte er sich der Tierwelt zu.
‚Ich konnte viele Gattungen ausmachen, mehr als bei diesem Klima zu erwarten war. Wie wir aus alten Geschichtsaufzeichnungen wissen, ist die dominierende Art das Wollmammut. Es lebt in Herden und zieht durch die Tundra bis in die südlichen Steppengebiete, leider konnte ich aus Zeitmangel keine genaueren Daten erheben. In diesem Gebiet erkannte ich noch Moschusochsen, Taigaantilopen und Rentiere, die ebenfalls in Herden leben und den Mammuts folgen. Natürlich ziehen solche Herden auch Räuber an. Ich habe aber nur eine Fuchsfamilie bemerkt. Sie haben den zahlreichen Lemmingen und Hasen nachgestellt.’ Er holte tief Luft, strich sich durchs Haar und stand auf. Der Clip an der Schläfe löste sich mit einem schmatzenden Geräusch und er war nicht mehr mit den internen Speichermodulen verbunden. Erleichterung durchströmte ihn wie ein warmer Fluss. Er holte sich ein aufputschendes Getränk, verharrte einige Minuten in Gedanken versunken, bevor er sich seufzend wieder an die Arbeit machte. ‚Es hat ja alles keinen Sinn, verflucht. Niet, keinen Sinn. Wenn sie schon wollen, dass ich die Vergangenheit vor Ort studiere, dann sollen sie mir auch die nötige Zeit geben. Es ist jedes Mal dasselbe Theater. Kaum glaube ich etwas Interessantes entdeckt zu haben, pfeifen mich diese Hirnis zurück.’ Erschrocken schnitt er jeden Gedanken an seine Vorgesetzten ab, schluckte eine Koffeinpille und trank noch ein Glas Wasser. Dann drückte er den Stirnlappensensor wieder an die Schläfe und setzte den Bericht fort. Jetzt kam er zu den, für ihn interessanten Teil der Beobachtung, die er leider nicht fortsetzen konnte.
‚Von meinem Standort, er ist den genauen Logbuchaufzeichnungen zu entnehmen, etwa fünf bis sieben Kilometer entfernt, auf einer Anhöhe, konnte ich eine Höhle ausmachen. Es dürfte sich nach meiner Einschätzung um eine menschliche Ansiedlung handeln. Ganz schwach lag der Geruch nach Rauch in der Luft.’ Er entfernte abermals den Gedankensensor und dachte für sich: ‚Ich würde diese Höhlen gerne näher in Augenschein nehmen oder auch die Ansiedlungen die ich beim Überflug auf dem südlichen Kontinent gesehen habe.’
Er gähnte und streckte sich. Diese Zeitreisen ermüdeten und erschöpften ihn. Immer wurde nach der Rückkehr ein sofortiger Bericht verlangt, was keine Erholungs- oder Wiederanpassungszeit erlaubte. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt sich zu waschen. Resigniert drückte er den Sensor wieder an die richtige Stelle und berichtete weiter. Je schneller er fertig wurde, desto früher konnte er sich ausruhen.

„Thomson“, brüllte der Kapitän. „Was hat da solange gedauert?“
Der Leutnant stand stocksteif vor seinem Kommandeur. Wut kochte in ihm, Wut auf den verdammten Wissenschafter, der nie auf die Zeit oder Befehle achtete und ihn damit immer wieder in Schwierigkeiten brachte.
Stramm salutierte er, bevor er knapp berichtete: „Ma’m, wir sind wie befohlen bei den Koordinaten gelandet. Dort hat dann Smirnov seine Beobachtungen gemacht. Die Detailbeschreibungen zur Umgebung bekommen Sie vom Fähnrich, Ma’m.“
‚Dieser kleine Scheißkerl hat wieder mal gebummelt’, setzte er in Gedanken dazu. Der Kapitän grinste. Wieder hatte Thomson vergessen, dass sie eine starke Telepathin war.
‚Wenn Sie meine Gedanken lesen, warum dann der Rapport?’, dachte er, nicht zum ersten Mal. Schon öfter hatten sie darüber gesprochen.
„Weil wir die Form wahren müssen, Leutnant Thomson. Wo kämen wir da hin, wenn jeder Telepath in den Gedanken der anderen Leute schnüffeln würde? Sehen Sie zu, dass Sie diesen Fähnrich auf Vordermann bringen, bevor ihm noch ein Unglück zustößt. Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen. Ich erwarte morgen nullsiebenhundert Standardzeit Ihren Bericht.“
„Ey, Ma’m!“ Erleichtert hob er die Hand zum Gruß, machte auf dem Absatz kehrt und stieß erst die Luft aus, als er die Brücke verlassen hatte.
Seinen Zorn auf den Wissenschafter musste er irgendwie Luft machen. Ganz genau wusste er, dass der Kapitän jetzt auf der Brücke stand und grinste. Er war Telepath genug um das zu spüren, sonst hätte er keine Kommandofunktion. Sie sandte ihre Freude über seinen Zorn direkt in sein Gehirn, das stachelte seine Wut noch mehr an.
„Verdammter Smirnov“, sagte er leise und fluchte als er zu den Gedächtnisterminals ging. Wie zu erwarten fand er dort den jungen Mann. Der Fähnrich war so in seinen Bericht vertieft, dass er den vorgesetzten Offizier erst bemerkte als es zu spät war.
„Fähnrich!“
Alex zuckte zusammen und sprang auf. Warum er immer wieder so angebrüllt wurde verstand er nicht, schließlich war er Offizier und Wissenschafter – noch dazu ein Fachmann auf seinem Gebiet. Das einzige, das ihm zu einer höheren Laufbahn fehlte, war etwas, das er aufgrund seiner Geburt nie erlangen würde. Er war kein Telepath und er stammte aus der falschen Region.
Er nahm Haltung an, stand als ob er einen Stock verschluckt hätte und hielt die Hand korrekt an die Stirn. Thomson ließ ihn nicht rühren, während er auf ihn einbrüllte: „Wenn der Bericht fertig ist, melden Sie sich bei mir! Umgehend!“
Der Fähnrich stand wie angewachsen und bekam einen gewaltigen Schreck. Der Zorn des Vorgesetzten war sogar für ihn spürbar.
„Rühren und an die Arbeit!“
Angst und Wut kämpften um die Vorherrschaft. Alex versuchte krampfhaft beides zu unterdrücken, die anwesenden Telepathen blickten schon feindselig zu ihm. Es galt als nicht gerade höflich, wenn man seine Gedanken so in die Gegend schleuderte.
Er schluckte ein paar Mal heftig, sammelte sich und drückte dann den Sensor wieder an die Schläfe. Der Bericht war fast fertig.
‚Wenn wir etwas länger Zeit gehabt hätten, hätten wir unter Umständen eine der ersten menschlichen Ansiedlungen vorfinden können. Vielleicht gibt es noch eine Gelegenheit, damit ich sie studieren kann, oder besser noch die Siedlungen auf dem südlichen Kontinent. Die Menschen dort schienen mir den Sensoraufzeichnungen zu urteilen, weiter entwickelt zu sein. Aber das lässt sich so einfach nicht feststellen, dazu müsste ich nochmals in der Zeit reisen und sie eingehender studieren: ihr Sozialverhalten, die Verwendung von Werkzeugen und die Umweltbedingungen spielen bei diesen Studien eine große Rolle.’ Alex verlor sich in Details. Er wusste, dass er die Begegnung mit Thomson hinauszögerte. Als ihm nichts Nennenswertes mehr einfiel, raffte er sich auf, unterdrückte die Angst und den aufkommenden Zorn. Zumindest versuchte er es. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was ihn nun erwartete.

Nicht aus den richtigen Kreisen zu stammen war seit vielen Jahrtausenden ein Problem für ganze Bevölkerungsschichten. Alex fand es noch immer sonderbar, dass die Menschheit sich so weit entwickelt, aber die Vorurteile anderen gegenüber nicht aufgegeben hatte. Noch immer war in den Köpfen der Menschen die Angst vor dem Fremden fest verankert. Was einerseits zu einer technischen Weiterentwicklung, gerade im militärischen Bereich geführt hatte, andererseits aber die sozialen Bedürfnisse und Bindungen unter den Menschen sehr stark behinderte. Es gab Rassentrennung – er hatte es am eigenen Leib erfahren, immer wieder. Die Eumerier hielten ihre Kultur für die einzig wahre und wollten sie der ganzen Welt aufdrücken. Dadurch dass dort seit einigen Generationen immer mehr Telepathen auftauchten, hatten sie noch mehr Grund sich für etwas Besseres zu halten. Sie schotteten fast den gesamten Kontinent ab und beuteten den Rest der Welt einfach aus.
Alex fand das ungerecht. Aber noch hielt sein Glaube an das Gute im Menschen. Während seiner zahlreichen Studien war er zu der Erkenntnis gekommen, dass hinter dem Machtgehabe sehr viel Unsicherheit verborgen lag. Dennoch, was half es, das zu wissen, wenn man auf der falschen Seite der Grenze zur Welt gekommen war, den Wohlstand nur von außen betrachten konnte und als Mensch zweiter Klasse galt, wenn nicht sogar dritter?
Alex entstammte dem Volk der Samek, die sich im Laufe der Zeit immer mehr nach Osten zurückzogen und nun nur mehr aus ein paar hundert, vielleicht tausend Leuten bestand. Um nicht vollends unterzugehen hatten sie sich mit den Bewohnern Sibiriens zusammen getan. Bald würde es auch dieses Volk nicht mehr geben. Sie würden ebenso wie die anderen Völker vom Einheitsglauben der vorherrschenden Rasse assimiliert werden.

Die Samek galten als ganz und gar unterentwickelt, minderbemittelt. So war es für Alex fast ein Wunder gewesen, als er zur Universität zugelassen worden war und anschließend auf die Militärakademie geholt wurde. Normalerweise wurde ein Samek bestenfalls ignoriert.
„Ich lasse mich nicht assimilieren. In der Vielfalt liegt die Kraft der Menschheit, wenn das doch nur endlich jemand kapieren würde“, murmelte er, als er zum Leutnant ging.
„Komm rein, du Schlaumeier“, hörte er Thomson noch bevor er den Türsummer berührt hatte. Er straffte die hagere Gestalt, trat festen Schritts in das Büro und salutierte zackig. Wieder ließ Thomson ihn so stehen, schien ihn zu ignorieren.
„So, du willst dich also nicht in die Gemeinschaft einfügen? Was machst du dann noch hier, du verdammte Sumpfratte?“
Alex schluckte, bewegte sich ansonsten nicht. Er ließ auch keine Gedanken zu, starrte nur auf einen Punkt an der Wand.
„Ich habe dich was gefragt! Und nimm verdammt noch mal die Pfote runter!“
Alex gehorchte. „Leutnant, Sir, ich habe gedacht …“
„Du sollst nicht denken, Sumpfratte, sondern Befehle ausführen, dazu bist du hier! Wenn du glaubst, hier dein eigenes Ding durchziehen zu müssen, dann bist du fehl am Platz und kannst mit den Konsequenzen leben! Dein Militärdienst dauert das ganze Leben, also hoffe nur nicht darauf, dass du wieder auf die Erde kommst!“
„Sir …“, begann Alex wieder, unterbrach sich aber, als er die Sinnlosigkeit seiner Argumente sah. Die Leute hier waren von einem anderen Schlag. Er hatte das schon während der Ausbildung bemerkt. Das Militär hatte die Macht. Sie hatten ihn einfach aus seiner Sippe gerissen. Nur weil er Urgeschichte studiert hatte, hatten sie ihn geholt und jetzt war er hier gefangen und musste sich mit den verdammten Maschinen, den Gedankengeneratoren und den arroganten Eumerien herumschlagen.
„Melde dich beim Recyclingdienst. Du bist dorthin abkommandiert worden.“
„Ey, Sir!“
„Du kannst gehen.“
Alex grüßte, drehte sich um und ging stocksteif, mit unterdrückter Wut hinaus. Auf dem Gang ließ er seinem Zorn freien Lauf und er schlug auf die Wandvertäfelung ein. Er wusste, dass alle Telepathen seine Gedanken hören konnten, zu heftig waren sie. Nur mühsam gelang es ihm, die Wut zu unterdrücken, die Ungerechtigkeit zu schlucken. Sein Weltbild begann immer mehr zu wanken.
Das waren nicht die fortschrittlichen Menschen, die ihm bei der Ausbildung vorgelobt worden waren. Es hieß immer, die Leute von Eumeria, dem Hauptkontinent, seien so gebildet und fortschrittlich; weiter entwickelt als die Menschen aus anderen Gebieten, dabei waren sie nichts anderes als eingebildete Egoisten, die die Wahrheit verschleierten und zu ihren Gunsten drehten..

Trostlos fühlte er sich, als er in den Eingeweiden der Raumstation ankam. Noch nie war er hier gewesen. Die Gänge und Schächte waren nur spärlich erleuchtet. Alles wirkte dunkel und eng und es stank.

Der Kommandobereich der unteren Bereiche war etwas heller und deshalb schnell zu finden.
„Ah, du bist mir angekündigt worden“, dröhnte ein großer Mann in grüner Uniform.
‚Warum sind plötzlich alle per du mit mir?’, fragte sich Alex. Er fühlte sich sonderbar, so als hätte man ihn endgültig abgeschrieben.
‚Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan’, fiel ihm ein altes Sprichwort ein. Das ließ ihn schaudern und nichts Gutes für die Zukunft erahnen.
„Salutier gefälligst, auch hier gilt das Gesetz des Militärs!“, herrschte der Mann ihn an.
Erschrocken fuhr Alex’ Hand in die Höhe und er stand wieder stramm.
„So erwarte ich mir das und zwar jedes Mal, wenn ich an dir vorbei gehe, verstanden, ansonsten bekommst du den Stock zu spüren!“
Alex erstarrte innerlich. Davon hatte er einmal erzählen hören, es aber für dumme Geschichten oder Einbildung gehalten. Während der Ausbildung hatten die älteren Kadetten von drakonischen Strafen berichtet. Jede Befehlsverweigerung, dazu zählte auch Unpünktlichkeit, wurde hart bestraft. Er hatte es wirklich für dummes Geschwätz gehalten, um den Jüngeren Angst zu machen, sie auf Spur zu bringen. Nun wusste er, dass es stimmte. Sein Glaube an das Gute im Menschen erlosch immer mehr.

Gehorsam begab er sich an seinen neuen Arbeitsplatz und versah seinen Dienst. Es war schwierig, sich einerseits auf die Aufgabe zu konzentrieren und andererseits den Leutnant nicht aus den Augen zu verlieren. Immer wieder ging er an ihm vorbei, wobei es Alex in die Höhe riss und er stramm stand. Gegen Ende der Schicht wurde er unaufmerksamer. Er übersah den Vorgesetzten und sofort landete der Stock auf seinem Rücken. Mit einem Schmerzenslaut richtete er sich sofort auf und stand stramm, was aber nichts mehr nutzte. Der Stock sauste auf ihn nieder. Insgesamt zehnmal. Alex versuchte dabei gerade stehen zu bleiben und die Hand an der Stirn zu lassen. Fest biss er die Zähne aufeinander. Er war ein Samek, darauf war er stolz. Das redete er sich in diesen Minuten ein.
„Geh zum Quartiermeister, du wirst in Zukunft in den unteren Bereichen leben. Und wenn du wieder unaufmerksam bist, gibt’s die doppelte Anzahl, verstanden?“
„Ey, Sir!“, schrie er, wie auf dem Kasernenhof, nachdem ihm der Ausbilder zum hundertsten Mal in den Dreck springen ließ und ihn danach wegen der schmutzigen Kleidung bestrafte und beschimpfte.

Das neue Quartier war ein Gemeinschaftsraum. Er teilte ihn mit acht anderen Soldaten.
Seine persönliche Habe war schon hergeschafft worden. Außer ein paar Bücher, Papier und Stifte, hatte er nicht viel. Seine Sachen wurden von den anderen im Quartier interessiert beäugt, aber niemand konnte etwas damit anfangen. Bücher und Schreibzeug waren schon lange nicht mehr in Verwendung. Durch die Verwendung von Standardsymbolen war es nicht notwendig, dass jeder Mensch lesen oder gar schreiben lernte.
„Willkommen im Dreckloch, Sumpfratte“, begrüßte man ihn herzlich. „Ich bin Derek, das da sind Suzie, Erich, Ismail, Franklin, Tessa, Dominic und Gottfried.“ Alle hoben kurz die Hand zum Gruß, nachdem ihr Name genannt wurde.
„Ich bin Alex“, stellte er sich vor.
„Bist wohl auch auf der falschen Seite des Zauns zur Welt gekommen“, stellte Derek düster fest.
„Siehst so aus“, antwortete er und räumte seine Habseligkeiten in einen schmalen Spind.
„Du stinkst uns hier die Bude voll, Alex, geh dich waschen“, maulte Suzie und zog die Nase kraus.
„Wenn du mir sagst, wo ich das kann, mach ich es gerne. Oder denkst du, dass es mir Spaß macht zu stinken wie ein Iltis in der Brunft?“
Das brachte alle zum Lachen.
„Du bist schon in Ordnung, Alter. Suzie, wenn es dich so stört, dann zeig ihm hier alles“, meinte Derek heiter.

Alex lebte sich relativ rasch in diese Gruppe ein. Sie schienen alle auf dem Abstellgleis gelandet zu sein. Hier war der Bodensatz der Hierarchie. Sie dümpelten am Rand der Gesellschaft. Der Wissenschafter in ihm machte sich eifrig Notizen und verglich die Gegenwart mit der Vergangenheit, in die er so oft hatte reisen müssen. Jetzt waren die Studien offensichtlich abgeschlossen und er wurde nicht mehr gebraucht. Altertumsforscher waren entbehrlich, wenn sie nicht zum richtigen Ergebnis gekommen waren. Er hatte offensichtlich nicht die richtigen Worte gefunden, um die Tatsachen zu verschleiern.

Abends las er in seinen Büchern, die er rasch auswendig kannte und er langweilte sich. Die Arbeit im Abfall ermüdete ihn und brachte ihn an den Rand des Zusammenbruchs. Der Leutnant dort war ein richtiger Leuteschinder. Er nutzte jede Möglichkeit um ihn zu schikanieren und zu drangsalieren. Unter den Arbeitern gab es in diesem Bereich keinerlei Zusammenhalt. Der Offizier und er waren die einzigen Militärangehörigen dort, die restlichen Arbeiter waren zwangsverpflichtete Zivilisten, verurteilte Verbrecher, die hier ihre Strafe abbüßten und dann wieder zur Erde zurückkehrten.
Einzig die Abende waren annehmbar. Wenn sie alle im Quartier zusammen saßen, erzählten oder Karten spielten, konnte er für einige Zeit seinen Zorn auf den Leutnant vergessen.

Alex wusste, dass er hierbleiben musste. Es war auch die Endstation des Leutnants. Das ließ er die Arbeiter umso mehr spüren, je länger sie hier waren.

Eines Tages platzte Alex der Kragen. Er war ein geduldiger Mensch, sonst wäre er schon viel früher explodiert. Wieder einmal hatte er den Vorgesetzten übersehen, und nicht gegrüßt. So landete der Stock abermals unbarmherzig auf seinen Armen. Da schrie er seine Wut einfach heraus. „Du verdammter Dreckskerl, du! Du Müllschlucker! Was bildest du dir eigentlich ein, immer auf mich einzuprügeln!?“ Dann ließ er sich auf ein Handgemenge mit dem viel größeren Offizier ein. Natürlich verlor er den Kampf und er erwachte mit schmerzenden Knochen und einem blauen Auge im Arrestbereich.

Die Strafe war unmenschlich, unnötig und sie zerstörte sein gesamtes Weltbild, die Unschuld des Glaubens, seines Glaubens an das Gute, das in jedem Menschen schlummert.

„Weil du so ein guter Altertumsforscher bist, darfst du jetzt deine Strafe in der Vergangenheit absitzen“, verkündete der Kapitän.
„Ma’m?“ Alex war verwirrt.
„Du wolltest doch weiter forschen, also wirst in die zuletzt gespeicherte Zeit transferiert und dort bleiben. Was glaubst du eigentlich, mit wem du es hier zu tun hast? Du benimmst dich der Herrscherrasse gegenüber ungehörig! Hast du nicht gelernt, wie du dich einem Eumerier gegenüber verhalten musst. Der Angriff auf einen eumerischen Bürger wird mit schweren Strafen geahndet! Ich brauch so ein Gewürm wie dich nicht auf der Station! – Vielleicht sollte ich dir zum Abschied noch sagen, dass die Samek nicht mehr lange existieren werden. Wir haben sie mittels Geburtenkontrolle ausgerottet, oder zumindest wird es keine Jungen mehr geben. Also, freu dich, du gehörst einer aussterbenden Rasse an.“
Das war zuviel für ihn. Diese Arroganz der Eumerier! Diese Selbstzufriedenheit! Mit einem lauten Schrei stürzte er sich auf den Kapitän und wollte sie erwürgen. Alle anerzogenen Hemmungen waren bei ihren Worten von ihm gefallen und er schlug nach Allen, die um ihn standen und ihn zu fassen kriegen wollten. Mit der Wut der Verzweiflung drosch er auf den Kapitän ein, was dieser aber nur ein Lachen entlockte. Sie lachte ihn aus, obwohl sie einige heftige Schläge einstecken musste.

„Warum?“, frage ich die sternklare Nacht, „warum hat die Menschheit aus der Geschichte nichts gelernt?“

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****ra Frau
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„Die Einsamkeit erschlägt das kleine Ungeheuer. Ganz alleine sitzt es am Bach. Es wartet schon so lange und keiner befreit es aus seinem Gefängnis“, begann die Lehrerin mit der Geschichte. „Na, wer mag weiter erzählen?“
Keines der Kinder wollte weitermachen, sie starrten nur gelangweilt in den Raum. Die Lehrerin sah müde aus, versuchte es aber zu verstecken. Nach wie vor machte ihr das Unterrichten Spaß, aber langsam wurde es ihr zuviel. Sie fragte sich, warum die Kinder so wenig Fantasie hatten. Sie brauchten es nicht einmal aufzuschreiben, reden würde reichen.

Sie seufzte. Alles war einmal einfacher – viel einfacher, als es noch keine Gedankenmanipulatoren gab und auch keine Gedächtnisleser. Eumeria entwickelte sich immer mehr zu einer Last – zumindest nach Ansicht der Lehrerin.

Die Kinder in ihrer Klasse waren fast alles Telepathen. Das erschwerte den Unterricht zusätzlich. Sie hatte noch schreiben und lesen gelernt, aber keines der Kinder brauchte es zu lernen. Die Technik machte so vieles möglich und verhinderte damit die persönliche Entwicklung. Wichtig war einzig und allein Kontrolle über die geistigen Fähigkeiten und die Gefühle zu erlangen. Das wurde den Kindern bereits in die Gene gelegt. Wer sich nicht der vorgegebenen Norm entsprechend verhielt, bekam erhebliche Probleme und musste damit rechnen aus dem Gruppenverband ausgeschlossen zu werden. Es machte die Menschen hart und herzlos.

Als der Unterricht vorüber war, erhob sie sich müde und sagte: „So, Kinder, das war’s für heute. Kommt gut in euer Quartier und vergesst nicht, euch bis morgen ein Ende der Geschichte zu überlegen. Was könnte mit dem kleinen Ungeheuer sein?“

Ein Murren ging durch die Klasse.
„Wen interessieren schon Ungeheuer? Das können nur Afrasier oder Samek sein“, maulte ein Junge. Agnes Lindstrom seufzte ergeben, sagte aber nichts dazu. Es war zu mühsam, immer wieder Argumente zu finden. Die Kinder glaubten ihr ohnehin nicht. Diese Elitekinder wurden in dem Glauben erzogen, dass sie besser waren als andere. Es waren stolze kleine Wesen, die kein Mitgefühl kannten.

Also ging sie in ihre Dienstwohnung, die höchstwahrscheinlich abgehört wurde. Sicher war sie sich nicht, aber sie war während des Studiums schon gedankenpolizeilich registriert worden, trotz ihres guten Namens. Die Familie Lindstrom hatte schon seit Generationen einen festen Sitz im Senat. Auch waren ihre Gene einwandfrei, nur bei Agnes hatte sich ein Fehler eingeschlichen. Sie war eine mäßige Telepathin, am besten konnte sie noch Gefühle erkennen, nur die wurden hier hinter dicken Mauern versteckt.

Agnes saß in der kleinen Küche und dachte an einen alten Freund, lange hatte sie nicht mehr an ihn denken müssen. Jetzt beschlich sie das unheimliche Gefühl, ihn nie wieder zu sehen. Sie hatten gemeinsam Geschichte studiert und ihr Hobby, die Paläontologie gepflegt. Dann wurde er auf die Militärakademie abkommandiert und sie in den Lehrdienst verbannt.
‚Alex, wo magst du nur stecken?’, dachte sie, während sie aus dem Lebensmittelspender ein Koffeingetränk zog. Damit begab sie sich in das kleine Wohnschlafzimmer.
So lange sie mit Alex zusammen arbeitete musste sie vorsichtig sein, damit ihre Sympathie für ihn nicht offenkundig wurde. Nur einige Male waren sie zusammen ausgegangen. Er hatte es einmal gewagt, sie an der Hand zu nehmen, deswegen waren sie dann monatelang von der Polizei kontrolliert worden. Körperkontakt, besonders zwischen den Geschlechtern war verboten. Kinder entstanden im Genlabor, eine andere Art der Entstehung gab es nicht.
Gedankenverloren ging sie zu ihrem Nachttisch und betrachtete ein Gruppenbild.
„Du warst der einzig anständige Kerl an der Uni“, sagte sie zu dem Mann, der ganz hinten auf dem Foto stand und kaum zu erkennen war.
Immer wieder sah sie das vor Entsetzen erstarrte Gesicht des jungen Mannes, als ihn die Militärpolizei abgeholt hatte.

Agnes und er hatten einige Jahre an theoretischer Zeitmanipulation und Zeitreisen gearbeitet. Es war ihrer beider Doktorarbeit gewesen. Sie waren ein gutes Team und hatten viel Spaß an der Arbeit. Als sie fertig waren und an eine erste Testreihe dachten, durchkreuzte das Militär ihre weiteren Pläne und sie wurden auseinandergerissen.
Oft dachte sie daran, wie es wäre, selbst in die Vergangenheit zu reisen, die Geschichte hautnah zu erleben und nicht nur aus den verfälschten Aufzeichnungen zu lesen. Sie dachte daran, wie ihr Land entstanden war. Es war noch sehr jung, ebenso die Gesellschaft in der sie lebte.

Vor tausenden Jahren hatte sich aus den Kontinenten Europa und Amerika Eumeria gebildet. Es war eigentlich alles einer unsäglichen Katastrophe zu verdanken. Die damaligen Amerikaner experimentierten mit Strahlungswaffen und lösten damit eine Massebewegung aus, ohne es zu merken. Die Anzahl der Erdbewegungen erhöhte sich, und der Kontinentaldrift nahm zu. Unmerklich aber stetig begann sich Europa von Asien abzutrennen. Skandinavien verband sich mit Sibirien. Dann schmolz auch noch der Nordpol fast zur Gänze, was die Britischen Inseln und einige andere unwichtige Eilande im Atlantik verschwinden ließ.

Europa bewegte sich unterdessen immer mehr auf Amerika zu. So entstand nach etwa tausendfünfhundert Jahren der neue Kontinent Eumeria. Alles geschah zu schnell und niemand ahnte die Folgen.
Lange Dürreperioden, die sich mit Überschwemmungen wechselten. Dann gab es gewaltige Erdbeben, die einen Großteil der Bevölkerung hinweg rafften. Die Eumerier hielten sich tapfer. Schließlich begannen sie sich als die Herrscher aufzuspielen. Sie hatten einen Großteil der Technik und des Wissens über das chaotische Zeitalter retten können und dann noch ausgebaut. In ihrer Überheblichkeit begannen sie sich gegenüber den anderen Kontinenten abzuschotten. Andere Gebiete hatten größere und ärgere Verluste hinzunehmen als Eumeria, aber sie halfen nicht, gaben nur halbherzige Versprechungen, die sie dann nicht einhielten. Eumeria war begünstigt gewesen, der Humboldt- und der Golfstrom hatten ihre Richtung so geändert, dass sie jetzt genau um den Kontinent flossen und ihn auf einer Seite mit mildem Klima und auf der anderen mit immensem Fischreichtum versorgten.

Agnes seufzte, sie hoffte inbrünstig, dass ihre Heimat irgendwann einmal im Ozean versinken würde, so wie es mit Ozeanien vor tausend Jahren geschah. Auch Indien war damals verschlungen worden, was die Eumerier wieder zu der Annahme hinreißen ließ, dass nur sie den wahren Glauben, die richtige Religion und den besten Gott haben.

Entschlossen verdrängte sie alle Gedanken daran. Nur mit Alex hatte sie darüber diskutiert und es mit der Zeit ebenso falsch gefunden wie er. Aber es half nichts, sie hatte sich geweigert ihn als das anzuerkennen was er war, ein guter Freund und ein brillanter Wissenschafter. Auch sie war gut gewesen, sehr gut sogar und als Team hätten sie viel bewegen können.

„Wer will jetzt noch was von mir?“, fragte sie sich, als es heftig an der Tür klopfte. Normalerweise ersparte man sich das Signal, es war unter Telepathen nicht notwendig. An ihrer Tür stand aber: „Telepath mit geringer Fähigkeit – bitte Signal“ Es war wie ein Stigma, wenn die Gedankenkanäle nicht rein und reibungslos funktionierten.
Wieder klopfte es, lauter diesmal.
„Gedankenkontrolle! Öffne die Tür!“
Agnes saß mit der Tasse in der Hand da und starrte an die nackte Wand.
‚Hört das denn nie auf?’, dachte sie.

Als es zum dritten Mal klopfte, sprang sie auf, riss das Foto aus der Halterung, stopfte es in die Hosentasche und öffnete. Zwei Männer und eine Frau in schwarzer Uniform mit silbernen Abzeichen standen davor. Sie blickten streng und hart. Kaum, dass die Tür geöffnet war, drängten sie sich auch schon in die Wohnung. Ohne ein Wort der Erklärung begannen sie eine Durchsuchung, alles wurde auf den Kopf gestellt und auseinander genommen. Agnes stand in dem Chaos und konnte kaum die Tränen zurück halten. Sie hatte Angst. Ein Nachbar wurde vor einigen Tagen abgeholt. Er war noch nicht wieder zurück gekommen und jetzt wohnte in dieser Wohnung jemand anders. Sie hatte die Befürchtung, dass mit ihr das gleiche geschehen wird.
Noch bevor einer der Uniformierten reagieren konnte, drehte sich Agnes um und rannte los. Hinaus auf den langen Gang, die hallende, gefährliche Treppe runter. Sie lief so schnell es ging und nur der Gefahr in die Arme. Am Ausgang standen weitere Polizisten und fingen sie ab. Stumm wurde sie gepackt, in ein Fahrzeug gesetzt und weggebracht.

„Die Gedanken sind frei“, stand über der Polizeistation. Niemand wusste, wie zynisch dieser Spruch war. Die Gedanken waren niemals frei, nicht seit die Gedankenpolizei unter der neuen Administration mehr Befugnisse bekommen hatte.
Agnes versuchte krampfhaft nicht zu denken, als sie ins Gebäude geleitet wurde. Aber sie hätte ohnehin nichts denken können, die Angst war übermächtig. Hier würde sie auch ihr altehrwürdiger Name nicht schützen. Die Familie hatte sich von ihr gewendet, nachdem sie mit Alex ausgegangen war. Darüber war sie so wütend gewesen, dass sie monatelang nichts mehr mit ihm geredet hatte, und mehr noch, hatte sie ein gemeines Spottlied gedichtet. Heute tat ihr das unsäglich leid und sie hätte heulen mögen, über die Ungerechtigkeit und den Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte.
Jetzt war sie in den Fängen der Gedankenpolizei und nur ein Wunder konnte sie noch retten.

Sie wurde in das Büro eines leitenden Beamten gesetzt. Das Bild in der Hose schien wie Feuer zu brennen. Sie fragte sich, warum sie es mitgenommen hatte.
Hier war es außerordentlich heiß, sie begann zu schwitzen. Dazu kam noch die stärker werdende Angst, die sich langsam zu Panik steigerte. Sie sah sich das Büro an und hoffte irgendetwas zu finden, das sie ablenken würde. Aber hier war nichts. Nur ein Schreibtisch und zwei Stühle.
Endlich kam der Beamte. Es war eine Frau, hochgewachsen, brünett und in eine hellgraue, hochgeschlossene Uniform gekleidet. Auf der linken Brustseite hatte sie das Rangabzeichen, das sie als Angehörige des gehobenen Wachdienstes auswies. Auf den Schultern prangten drei goldene Punkte für ihren Status als hoch eingestufte Telepathin.
„Frau Lindström“, begann sie, aber Agnes war trotz Angst wütend, deshalb wagte sie es, die Beamtin zu unterbrechen.
„Ich bin Doktor Lindstrom. Was wollen Sie von mir?“
„Frau Lindstrom“, fuhr die Frau fort, ohne dem akademischen Titel Beachtung zu schenken. „Wir haben heute von Ihren Unterrichtsmethoden erfahren. Sie sollen den Kindern etwas über unsere Geschichte beibringen und nicht Unsinn über irgendwelche Ungeheuer erzählen. Haben Sie ihre Pillen genommen?“ Die Stimme der Frau war kalt und gefühllos.
Agnes wusste, dass sie erledigt war. Sie hatte die Glückspillen schon eine Weile nicht mehr genommen und es ging ihr besser. Ihre Gedanken waren klarer, es war fast wieder wie auf der Uni, als sie ihre Experimente mit Alex gemacht hatte. Theoretisch war sie die Teamleiterin gewesen, praktisch war er es. Wieder so eine Ungerechtigkeit, die sie mehr und mehr aufregte.
„Wie ich sehe haben Sie die Pillen nicht genommen. Sie können sich eine verbale Antwort sparen, Frau Lindstrom, für mich sind Sie ein offnes Buch.“ Die Frau war voll Arroganz und sich ihrer Stellung und Wichtigkeit überbewusst.
Agnes sank innerlich zusammen, äußerlich saß sie kerzengerade und verzog keine Miene. Diese Haltung wurde den kleinen Kindern schon antrainiert.
„Sie bekommen jetzt sofort die Ration für heute. Ich dulde keinen Widerspruch. Sparen Sie sich den Gedanken daran, ich höre ihn, noch bevor Sie ihn denken.“
Agnes schluckte schwer. Die Aussicht, diese Pille, dieses Gift schlucken zu müssen, tat weh. Es war ein Eingriff in ihre Persönlichkeit. P1 war eine dieser fantastischen Entwicklungen, die es der Administration ermöglichte, die Menschen unter Kontrolle zu halten und sie am freien Denken zu hindern. Sie wurden als überlebenswichtige Vitamine für teures Geld verkauft und schon die kleinen Kinder bekamen sie als Wachstumsmittel verabreicht.
„Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre geringen empathischen Fähigkeiten, die sind nicht relevant. – Korporal!“, rief sie und ein strammer Polizist trat ein.
„Führen Sie Frau Lindstrom in die Medamb und anschließend in die Psychamb. Sollte Sie sich irgendwie wehren, dann wird sie arretiert. Verstanden, Korporal?“
„Jawohl, Chief!“, kam es zackig zurück.
Agnes kam sich vor als wäre sie technisches Gut, das einer Wartung bedurfte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie.
Der Korporal nahm sie am Arm und führte sie ab. Es ging einen langen Gang entlang, dann mehrere Treppen in ein graues Kellergewölbe. Der Keller musste schon uralt sein. Er strahlte eine antike Würde aus. Agnes betrachtete es interessiert und sie kam zu dem Schluss, dass die Grundsubstanz des Bauwerkes irgendwann im beginnenden dritten Jahrtausend errichtet worden sein musste. Beton und Stahl. An manchen Stellen ragte das mächtige Stahlgerüst aus dem bröckelnden Betonresten. Agnes schauderte es.

Dann gingen sie durch ein Eisentor, das auch schon bessere Zeiten erlebt hatte und sie waren in einer anderen Welt. Hier war alles weiß und grell. Nach dem dunklen Gang war es fast ein Schock für die Sinne.

Ihre Angst nahm wieder zu. Während sie die Relikte aus der Vergangenheit vor Augen gehabt hatte, war es einfach gewesen, sie zu ignorieren. Nun pochte sie auf ihr Recht und lähmte die Gedanken. Links und rechts waren Öffnungen in der Wand, durch die man die Behandlungsräume sehen konnte. Überall Liegen über denen metallene Helme schwebten und die darunterliegenden Menschen mit einer Maschine verbanden. Es waren sogenannte Elektrogramme, die das telepathische Muster eines Individuums aufzeichneten und speicherten. So konnte jeder einzelne Mensch mittels dieses Musters aufgespürt werden. Dann gab es noch andere Vorrichtungen, über die Agnes lieber nichts wissen wollte.

Der Polizist führte sie weiter den Gang entlang und schob sie in einen Raum.
Die Tür fiel lautlos ins Schloss.
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****ra Frau
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Nun stand sie da in einem völlig weißen Raum. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Liege sonst war der Raum leer. Verwirrt drehte sie sich einmal rund um und erschrak als plötzlich ein Mann da stand. Sie hatte ihn nicht eintreten hören.

Panik durchströmte sie, dann erkannte sie ihn.
„Frederick, warum bin ich hier?“, fragte sie leise.
„Das weißt du Agnes. Du bekommst jetzt deine Medizin. Leg dich hin, bitte.“ Seine Stimme klang sehr sanft und Agnes hatte das Gefühl darin zu versinken.
„Ich will sie nicht nehmen“, versuchte sie sich an die Oberfläche zu kämpfen.
„Doch, du willst sie. Du brauchst sie. Ohne sie bist du nichts.“ Die Worte klangen in ihrem Hirn nach, bildeten eine Endlosschleife und zogen sie zur Liege. Noch einmal versuchte sie sich dagegen zu wehren.
„Frederick, du weißt was diese Dinger anrichten. Ich will sie nicht nehmen.“
„Wir sind keine Studenten mehr. Du legst dich jetzt auf die Liege und alles wird gut. Siehst du, wie alles gut werden wird? Niemandem wird etwas geschehen. Hier sind alle freundlich und friedlich. Ich tu dir nichts, Agnes.“
„Frederick, Freddie, warum nur, haben hier alle soviel Angst davor selbstständig zu denken?“
Eine Hand traf klatschend ihre Wange und sie erinnerte sich an ein anderes Mal als es so gewesen war.

Sie war mit Alex am Arbeiten gewesen. Ihr Buch über theoretische Zeitreisen war in der Endphase und sie nahmen die letzten Korrekturen daran vor. Alle hatten sie ausgelacht, weil sie das Werk auf herkömmliche Weise mittels einer Buchstabentastatur verfassten. Aber es war lustig gewesen und man war gezwungen die Gedanken besser beisammen zu halten. Gerade diskutierten sie amüsiert über die Möglichkeit einer ersten „Dienstreise“ mit ihrem selbst konstruierten Fahrzeug als Frederick in ihr Labor trat. Ihm folgten einige uniformierte Männer. Agnes und Alex erstarb das Lachen auf den Lippen. Die Soldaten nahmen Alex mit. Wortlos folgte er den Männern. Sein letzter Blick auf Agnes war flehend gewesen. Sie fühlte seine Angst wie die eigene. Dann trat Freddie zu ihr, nahm sie am Ärmel und sagte: „Agnes, du hast deine Pillen wieder nicht genommen. Es ist gefährlich wenn du sie nicht nimmst.“ Damit führte er sie in das benachbarte Labor und verpasste ihr eine Injektion. Danach war sie Lehrerin in einer Grundschule geworden. Lehrerin für Geschichte, verdrehte Geschichte, deshalb erzählte sie Geschichten.

Auch damals hatte sie ihm diese Frage gestellt und er hatte sie geohrfeigt, bevor er ihr die Droge gab.

„Keine Widerrede und spar dir deine dreckigen Gedanken“, seine Stimme wurde kälter, alles Sanfte war daraus verschwunden. Hart packte er Agnes am Arm und zog sie zur Liege.
Plötzlich stürmten mehrere Männer in Uniform den Raum und Frederik schrie: „Warum hat das solange gedauert? Haltet sie fest, damit ich ihr das Mittel geben kann.“ Die vier Hünen packten Agnes an Armen und Beinen und warfen sie auf die Liege.
„Frederik, das kannst du doch nicht machen. Das kann nicht dein ernst sein. Ich war immer der Meinung du magst mich“, flüsterte sie in einem verzweifelten Versuch ihn umzustimmen. „Weißt du, was da drin ist? Das ist Gift, Freddie, das ist Gift, was du mir gibst.“
Er achtete nicht auf ihre Worte, er wusste genau was in der Infusionsflasche war. Diese verbesserte Substanz hatte er selbst entwickelt.
„Fixieren“, war sein nächstes Kommando.
„Frederik. Dr. Hauser! Lass mich einfach gehen. Ich habe niemandem etwas getan.“
„Sei jetzt endlich still. Damit machst du alles nur viel schwerer für dich“, sagte er in beruhigendem Tonfall, so als würde man zu einem widerspenstigen Tier oder einem weinenden Kind sprechen.
„Kehr mir gegenüber nie wieder den Psych raus!“, schrie sie ihn jetzt an, dann war die Nadel in ihrem Arm und die ersten Tropfen des Wirkstoffs verbanden sich mit ihrem Blut.
„Du wirst bald ruhiger werden. Wenn du brav bist, kommst du nachher zu mir auf die Psych und du bekommst auch eine Koffeintablette.“
„Hau ab, du Mistkerl! Ich bin promovierte Historikerin und da brauchst du mir nicht mit diesem Blödsinn daherkommen! Du verdammter Ignorant!“
Frederiks Gesicht verlor alle Farbe, Zorn stand in seinen Augen und er begann vor unterdrückter Wut zu zittern. Zwischen zusammen gebissenen Zähnen sagte er: „Das hättest du besser nicht gesagt.“
Dann ging er rasch hinaus. Die vier Männer folgten ihm auf dem Fuß.
Sie lag langgestreckt da, Arme und Beine fixiert und verfluchte sich selbst für die unüberlegten Worte. Doch plötzlich war sie so voller Wut gewesen, dass sie nicht anders konnte. Das Gift tropfte unablässig weiter. Es würde sie nicht umbringen, nur den Geist verändern, die Sicht der Dinge umkehren. Das Leben würde in einer rosaroten Wolke versinken.
Als sie dem steten Tropfen zuschaute, dachte sie an ein Gespräch mit Alex. Sie hatten wieder einmal länger gearbeitet, da hatte er sie vor den Pillen gewarnt.
„Weißt du, was da drin ist, Agnes?“
„Das ist nur ein Vitaminpräparat, wie so viele andere auch.“
„Agnes, mach die Augen auf. Das sind Drogen. Einige Bestandteile davon sind Tetrahydrocannabinol, Cannabinol, jede Menge Saccharin und ein Mutterkornderivat, dessen Namen ich mir nicht gemerkt habe. Aber das sind hochwirksame Drogen. Natürlich ist die Dosierung so gering, dass sie nicht gefährlich werden und auch die Wirkstoffe sind abgeschwächt, trotzdem bleiben es Rauschmittel. Wo doch sogar Alkohol verboten ist.“
Agnes hatte ihn lange angeschaut und darüber nachgedacht, dann hatte sie die Pille in den Ausguss geschmissen. In den ersten Tagen war sie immer wieder versucht gewesen, nach der Tablette zu greifen. Ein Blick in die Augen ihres Kollegen genügte und die Pille landete im Abfluss. Nach und nach wurde das Bedürfnis nach der Betäubung geringer und sie merkte, dass ihr Gedächtnis effektiver arbeitete und sie besser im Voraus planen und Denken konnte.
„Warum geben sie uns das, Alex?“
„Das weiß der Teufel, aber es ist eine gute Methode, um euch bei der Stange zu halten. Auf der einen Seite, der künstliche Fraß, auf der anderen die Drogen. Ihr werdet verarscht auf ganzer Linie, Agnes. Die Gedanken sind frei – ha! Das ist der reinste Hohn!“ Er lachte bitter.
„Wie bist du dahinter gekommen?“
„Ich hab geschnüffelt“, war alles, was er dazu sagte. Er schaute sie nur geheimnisvoll aus tiefblauen Augen an. Agnes hatte es so hingenommen und nicht weiter gefragt. Vielleicht war es besser, nicht alles zu wissen?

Das ging ihr jetzt durch den Kopf. Krampfhaft versuchte sie nicht an die Drogen zu denken, die bereits in ihrem Hirn angelangt waren und die Sinne benebelten.
Etwa eine Stunde dauerte es, dann war die Flasche leer und Frederick kam wieder.
„Frau Lindstrom, wie geht es Ihnen jetzt?“, fragte er ruhig.
„Oh, danke Dr. Hauser. Mir geht es wieder ganz gut. Ihre Medizin wirkt Wunder.“ Sie strahlte ihn an.
Sie wurde von den Gurten befreit und fügsam folgte sie Frederick in den langen Gang und dann zur Psychamb. Es war ein ebenso heller Bereich, wie die Medamb. Aber ab und zu standen künstliche Pflanzen herum Nirgends war ein Fenster zu sehen. Für Tageslicht waren sie zu weit unter der Erde.

Agnes wurde in ein möbliertes Zimmer geschoben und wieder alleine eingeschlossen. Zufrieden legte sie sich auf das schön gerichtete Bett und wartete. Kurze Zeit später kam Frederik zurück. Er hatte zwei dampfende Becher mitgebracht und nahm am Tisch Platz.
„Agnes“, begann er. „Agnes, setz dich zu mir.“
Sie stand auf und kam zu ihm.
„Hier, hast du ein Koffeingetränk. Eigentlich hast du es dir nicht verdient, weil du böse warst, aber jetzt bist du wieder artig.“ Damit schob er einen Becher zu ihr.
„Vielen Dank, Doktor Hauser. Sie sind sehr liebenswürdig.“
„Aber nicht doch. Geht es dir wirklich wieder gut?“
„Oh, mir ist es nie besser gegangen. Muss ich noch lange hier bleiben?“
„Nein, noch ein Weilchen. Ich muss nur sehen, ob die Medizin wirkt und keine Nebenwirkungen aufgetreten sind. In einigen Stunden kannst du wieder heim gehen.“
„Danke, Doktor Hauser.“
„Trink ruhig, du hast sicher Durst. Nach der Behandlung ist der Mund immer sehr ausgetrocknet.“
„Das stimmt.“ Sie nahm den Becher und trank ihn in einem Zug leer. Ihr Mund war keineswegs trocken gewesen. „Das hat gut getan.“
„So, dann werde ich später noch einmal nach dir sehen, Agnes.“
„Machen Sie das. Ich werde jetzt etwas schlafen, wenn ich darf.“
„Leg dich hin, es wird das Beste sein.“

Als Agnes wieder allein war verkroch sie sich ins Bett und zog die Decke bis über den Kopf. Sie wusste, dass hier eine Kamera alles aufzeichnete. Warum das Mittel nicht gewirkt hatte, war ihr schleierhaft. Vielleicht war sie schon immun dagegen oder ihr Stoffwechsel war verändert, seit sie weitgehend auf künstliche Nahrungsmittel verzichtete. Es war zwar mühsam natürliche Güter zu bekommen, aber irgendwo gab es immer Quellen. Der Genuss war teuer, mit viel Zeitaufwand verbunden und stellte eine große Gefahr dar, nicht nur für sich, sondern auch für den Händler, es war streng verboten.

Jetzt lag sie da, vergraben unter einer leichten Synthetikdecke und versuchte alle Gedanken aus dem Hirn zu verbannen. Sie tastete in der Hosentasche herum und nahm das Bild darin fest in die Hand. Verzweifelt wehrte sie sich gegen den Schlaf. Aber ihr blieb keine Wahl, dem Getränk war ein Schlafmittel beigefügt gewesen.

‚Wenn sie nicht eine so verdammt gute Wissenschafterin wäre und diesen verfluchten Namen hätte, wäre sie schon tot – ich hätte sie eigenhändig hinüber befördert, dieses elende Miststück’, dachte Frederik in seinem Büro. Er hasste sie, fast noch mehr als diesen Smirnov. Bei ihm war es anders, den Hass konnte man leicht verstehen – Smirnov war ein Ausländer, auf ihn konnte man hinabsehen, ignorieren, so tun als wäre er nicht hier. Bei Agnes war es komplizierter. Sie sah unverschämt gut aus, stammte aus einer bekannten, wenn nicht gar berühmten Familie und dann machte sie mit diesem verdammten Untermenschen rum. Das war es, was Frederik so wütend gemacht hatte. Bei jedem anderen wäre es ihm gleich gewesen, aber dass sie mit dem ausgehen musste, das hatte ihn schwer getroffen. Seit dem belauerte und denunzierte er sie. Wenn es nichts zu berichten gab, so erfand er einfach etwas. Ihm glaubte jedermann. Die Hausers waren auch eine alte Familie. Alte Familien galten als über jeden Verdacht erhaben. Der Stammbaum musste rein sein. Es durfte keine Einflüsse anderer Kontinente geben – nur die alten zählten: Europa, Amerika und Eumeria.
„Hoch lebe Eumeria“, sagte er und lehnte sich im Stuhl zurück. Lässig legte er die Beine auf den Tisch und dachte daran, wie er Agnes weiter manipulieren konnte. Sie hatte besser auf die neue Substanz angesprochen als er gedacht oder gehofft hatte. Jetzt konnte er seine Forschungen fortsetzen. Sie war ein ausgesprochen gutes Exemplar: reinblütig, empathisch, wenn auch nicht telepathisch veranlagt, erfüllte sie doch alle Voraussetzungen.
„Ah! Ich werde gleich den Antrag stellen. Die sind schon ganz erpicht darauf, Ergebnisse zu bekommen.“ Damit setzte er sich wieder aufrecht hin und verband sein Gehirn mit der CPU. „Datentransfer. Zentrale Einheit, Hauptstadt Sunflower, erbitte Genehmigung für das Experiment C3 am menschlichen Objekt und dem menschlichen Genom. Objektbeschreibung: weiblich, Alter: 32 Jahre, Haarfarbe: dunkelblond, Augenfarbe: grün, Körpergröße: 167 cm, Gewicht: 60 Kilogramm, Telepathische Fähigkeiten: vorhanden, aber gering, dafür in starkem Maße empathisch; IQ: über 200; Stammbaum im Familienbuch Lindstrom nachzuweisen.“
Die Antwort kam prompt. „CPU, Centralstate Nebraska, Sunflower, Genehmigung erteilt. Wir erwarten raschest Ergebnisse.“
Zufrieden entfernte Frederik den Gedankenkommunikator und machte sich sofort an die Arbeit.

Agnes schlief die ganze Nacht durch und den folgenden halben Tag. Als sie erwachte wusste sie vorerst nicht wo sie war und wie sie hierher gekommen war. Nach und nach kamen die Erinnerungen wieder. Die linke Hand tat weh. Die Finger hatten sich um das Foto gekrampft. Mit steifen Gelenken schälte sie sich aus der Decke und setzte sich auf. Sie zwang sich, das Bild loszulassen und die Hand aus der Tasche zu nehmen. Trotz des langen Schlafs fühlte sie sich müde und ausgedörrt. Jetzt hieß es wieder lügen und ein gleichmütig, freundliches Gesicht zu machen. Ihre Gedanken konnte sie sehr gut kontrollieren. Sie musste einfach die Spannung im Körper aufrecht erhalten, an nichts und niemand durfte sie denken.
„Entschuldigen Sie, bitte“, sagte sie schließlich. „Kann ich hier wo auf die Toilette gehen?“
Lange antwortete niemand. Dann hörte sie eine Stimme aus dem Lautsprecher: „Geh hinter die Wand, dort findest du einen Waschraum und eine Toilette.“
Da war nichts. Sie wusste es genau. Es war alles ein Test. Sie hasste den Kerl, tat aber so, als würde sie genau das Gewünschte finden.
„Vielen Dank für die Hilfe“, war alles was sie sagte. Dann ging sie in den angewiesenen Bereich und tat genau das, was von ihr erwartet wurde. Es fiel ihr schwer, sich auch jetzt noch zu beherrschen. Sie hatte sich vorgenommen, solange wie möglich mitzuspielen, irgendwann würde sich die Möglichkeit zur Flucht bieten.

Dann ging sie wieder zum Bett und wartete. Sie beobachtete das Rinnsal, das sich von der linken, hinteren Ecke seinen Weg nach vor bahnte.
Es dauerte nicht lange, da trat Frederik ein.
„Warum hast du das getan?“, brüllte er. Sie starrte nur verständnislos zurück.
„Du hast das Zimmer beschmutzt! Das wirst du wegwaschen müssen! Wieso hast du nicht darum gebeten, dass dich jemand zur Toilette begleitet, du dummes Ding.“
Jetzt war sie doch erschüttert.
„Es hat mir jemand gesagt, dass da hinten die Toilette …“, begann sie, wurde aber brüsk unterbrochen.
„Aha! Und du glaubst jeden Blödsinn, den dir jemand erzählt? Ich dachte, du bist Akademikerin! Wer war das überhaupt, der dir das gesagt hat?“
„Ich – ich weiß nicht mehr …“ Jetzt fing sie wirklich bald zu weinen an.
„Siehst du, deshalb bist du hier und wirst wahrscheinlich noch etwas bleiben müssen. Du bist krank, Agnes. Ich kann dir aber helfen.“
Sie ließ den Tränen freien Lauf, das kühlte auch ihren Zorn etwas.
„Ja, Doktor Hauser, helfen Sie mir. – Darf ich Sie um etwas bitten?“
„Um alles, was du willst“, sagte er großmütig.
„Ich möchte gerne etwas trinken.“
„Natürlich. Du bekommst nachher etwas und auch zu essen auch. Aber vorher wischst du diese Schweinerei auf, die du angerichtet hast.“ Er sprach jetzt wieder sanft und mild, als wäre sie wirklich etwas dämlich. Ergeben senkte sie den Blick.

Erst viele Stunden später, in denen sie den Boden mehrmals gewischt hatte, bekam sie zu trinken. Einen Becher Wasser, das war alles, zwei Vitaminpillen, einen Kalorienriegel, und die rosa Pille. Agnes starrte alles an. Das war viel zuwenig Flüssigkeit. Sie wusste, dass sie so austrocknen würde. Dann hätten sie leichtes Spiel.

Zwei Tage war sie schon dort, als plötzlich die Tür aufging und Frederik eintrat. Er konnte seinen Zorn kaum verbergen. Eben hatte er Weisung von der CPU in Sunflower bekommen, dass er sein Experiment umgehend abbrechen musste. Das Militäroberkommando in Zurick brauchte dringend einen Experten für Zeitreisen und Geschichte. Ihnen war der andere Fachmann abhanden gekommen. Mehr Informationen gab es nicht.

Wieder schlüpfte sie ihm durch die Maschen. Diesmal hätte er sie beinahe so weit gehabt, dass sie tat, was er verlangte und auch noch sah, was er ihr suggerierte. Aber eines wusste er, sollte sich die Möglichkeit ergeben, würde er die Forschung fortführen. Ganz umsonst war es aber nicht gewesen, wie er sich eingestehen musste, er hatte ihre Gene und verschiedene Eizellen hatte er ebenfalls entnehmen können, als sie geschlafen hatte. So konnte er wenigstens an diesen Zellen experimentieren.

Agnes wurde wortlos rausgeführt. An der Trennwand zwischen Psychamb und Medamb standen mehrere Soldaten. Jetzt verstand sie die Welt überhaupt nicht mehr. Vorsichtig tastete sie in der Hosentasche und fasste nach dem Bild. Stumm wurde sie hinaus geschoben und den Männern übergeben. Auch hier sprach niemand. Sie nahmen sie einfach in die Mitte und brachten sie hinaus.

Sie wagte nicht zu sprechen oder sonst irgendetwas zu tun oder zu denken. Dabei hätte sie jetzt gerne ihre Angst rausgeschrien. Sie fühlte sich wie ein verurteilter Schwerverbrecher, der zum Richtplatz geführt wird. ‚Nein’, war das einzige, das sie sich zu denken gestattete. ‚Nein.’

Die Soldaten brachten sie zum Flugplatz. Sie wurde in eine Militärmaschine gesetzt und eine Stunde später, in der sie immer wieder die Frage nach dem Sinn der Reise quälte, kamen sie in Zurick an. Die Stadt war von einer hohen Gebirgskette umgeben, die sie wie ein Bollwerk umschloss und war nur auf dem Luftweg erreichbar. Hier war das Militäroberkommando – Zurick war die Zentrale für alle Militär- und Außenangelegenheiten.

Agnes fühlte das Herz zum Zerspringen schlagen. Noch nie war sie hier gewesen, nie wollte sie hierher kommen. Blitzartig dachte sie an Alex, der auch hierher gebracht worden sein musste. ‚Warum bin ich hier und werde ich ihn wieder sehen?’ Sie konnte diese Gedanken nicht verscheuchen. Aber sie straffte die Gestalt, stellte sich vor, eine Wirbelsäule aus Stahl zu haben, die nichts erschüttern konnte. Sie fror die Mimik ein und zwang sich, an nichts zu denken. Trotz aller Bemühungen konnte sie den heftigen Herzschlag nicht verlangsamen oder ruhiger machen. Die Anstrengung nahm ihr fast den Atem.

Sie wurde in das älteste Gebäude gebracht. Über dem Eingang stand in schwarzen Lettern geschrieben: „Wir machen die Welt frei“
Warum das da stand, entzog sich ihrer Kenntnis. Die wenigsten Leute konnten Lesen und es bestand kein Grund hier auf dem Hoheitsgebiet des Militärs noch Werbung für dieses zu machen. Eumeria kam ihr immer seltsamer vor. Alles hatte einen doppelten Sinn und sie fragte sich, wo das noch hinführen würde.
‚Das alles kann ich einfach nicht glauben. So etwas kann es nicht geben, darf es nicht’, dachte sie als sie einen langen, dunklen Gang entlang gingen. Sie wusste, dass es hier keine Möglichkeit zu entkommen gab.

Je tiefer sie in das Gebäude gebracht wurde, desto ängstlicher wurde ihr zumute. Sie fragte sich die ganze Zeit über, was sie hier sollte. Was das für ein teuflisches Spiel war, das sie mit ihr trieben? Zuerst die Gedankenpolizei, die Medamb, Frederik und nun das hier. In ihrem Inneren verkrampfte sich alles. Äußerlich wirkte sie starr und unbeteiligt, so als wäre es das Normalste auf der Welt einfach so abgeholt zu werden und an einen unbekannten, bedrohlichen Ort gebracht zu werden. Es war ihr schon mit der Milch eingeflößt worden, dass eine Lindstrom immer Haltung zu wahren hatte, sich nie gehen ließ. Eine Lindstrom hatte perfekt zu sein! Zumindest nach außen hin.
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****ra Frau
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Jetzt wurde sie in einen großen Raum geschoben. Dort stand sie einem Mann gegenüber, den sie von früher kannte. Er hatte stets Haltung bewahrt. Immer, in jeder Lebenslage, so auch jetzt. General Lindstrom starrte seine Nichte aus gleichgültigen, stahlblauen Augen an. Agnes starrte zurück. Ihr Hirn war plötzlich leer geworden. Seit einer Ewigkeit hatte sie den Onkel nicht mehr gesehen. Jetzt wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte. Er war der stärkste Telepath in der Familie und der unnachgiebigste Mensch, den sie kannte. Jetzt straffte sie den Rücken noch mehr, schluckte die Angst hinunter und befahl sich ruhig zu sein. ‚Aggie, bleib cool’, sagte sie sich. ‚Das ist nur der alte Onkel, du kennst das Ekel, also lass dich nicht einschüchtern.’ Dann verbannte sie alle Gedanken in den hintersten Winkel. Das gewittrige Gesicht des Generals ließ sie erahnen, dass er die Gedanken gelesen hatte.
„Frau Lindstrom“, begann er während er hinter einem filigranen Schreibtisch Platz nahm. Er war nur zur Zierde und erfüllte keinerlei Zweck. Ihr bot er keinen Stuhl an, so blieb sie eben stehen. Sie merkte, wie sich die Schultern und Pobacken langsam zu verkrampfen begannen. „Frau Lindstrom, wir haben Sie herkommen lassen, weil wir einen Historiker brauchen, jemanden, der noch die alten Schriften lesen kann.“
Sie hob fragend eine Augenbraue, wusste sie doch, dass sie nicht die einzige Historikerin mit diesen Fähigkeiten war.
„Was wollen Sie von mir, General? Es gibt hier noch mindestens einen Historiker mit den gleichen oder besseren Qualifikationen“, sagte sie und dachte dabei an den unglücklichen Alex. Auch der General empfing das Bild. Kurz zeigte sich Zorn in seinem Gesicht, dann war es wieder unbewegt.
„Sie haben mit ihm gearbeitet, darum brauchen wir Sie.“
„Aha.“ Agnes war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. „Dann holen Sie ihn einfach hierher, von wo auch immer. Er ist beim Militär – ich nicht.“
Agnes schluckte krampfhaft. Sie stand noch immer stocksteif da, hielt das Gesicht ausdruckslos und fühlte innen drin eine eisige Faust, die in den Magen schlug und die Arteria carotis zudrückte.

Der General hatte sich das Gespräch einfacher vorgestellt. Normalerweise taten die Menschen das was von ihnen verlangt wurde – widerspruchslos und ohne lästige Fragen zu stellen. Agnes begann gerade damit sehr unbequem zu werden. Aber wenn er ihre Mitarbeit wollte, so musste er etwas von dem Geheimnis enthüllen.
„Wir können ihn nicht zurückholen“, sagte er deshalb und hoffte, dass es damit erledigt war. Aber Agnes war fest entschlossen, Antworten zu erhalten.
„Warum? Was habt ihr mit ihm gemacht?“
„Fähnrich Smirnov ist in der Vergangenheit verschollen.“
„Das kann ich mir kaum vorstellen. Ich denke eher, er ist euch unbequem geworden und ihr habt ihn in der Vergangenheit entsorgt.“ Sie wusste nicht, wie sehr sie der Wahrheit nahe gekommen war, wie sehr sie die Tatsachen auf den Punkt gebracht hatte. Aber das Gesicht des Generals verriet es ihr. Deshalb wurde sie etwas kühner und sagte: „Holt ihn zurück. Er war der Fähigste von uns allen.“
„Das geht nicht. Wir finden ihn nicht mehr.“
Agnes begann zu lachen, was den General erst recht wütend machte. Er wurde so zornig, dass er seine Starrheit aufgab und Gefühle zeigte.
„Lass das, wenn du nicht noch mehr Ärger bekommen willst, als du ohnehin schon hast“, herrschte er sie an.
„General, ich denke ich kann damit leben. Alex hat euch also die lange Nase gedreht und ist in der Vergangenheit abgetaucht. Na, das finde ich geradezu genial von ihm.“
„Hör auf! Er hat die Vergangenheit verändert, was nicht geschehen hätte dürfen. Du musst erforschen, in wie weit das geschehen ist. Niemand anders kennt diese Maschine besser als du.“ Er versuchte es mit Schmeichelei. Aber damit biss er bei Agnes auf Granit. Auf Lobhudelei war sie noch nie reingefallen.
„Halte mich bitte nicht für blöd. Alex hat die Maschine gebaut, nur er kennt sie und ihr habt ihn einfach in die – wohin eigentlich? – geschickt.“
„Das geht dich nichts an! Du bist ab sofort hierher abkommandiert! Rekrut Lindstrom!“
„Ich bin kein Rekrut. Ich habe nichts unterschrieben. Ich bin Doktor der Geschichte und das bleibe ich. Auf das euer Militär, da gebe ich keinen Pfifferling! Ihr habt meinen Kollegen entführt und ihn dann einfach so in der Vergangenheit sitzen lassen. Er ist so schlau und lässt sich nicht unterkriegen und jetzt habt ihr die Hosen gestrichen voll, weil die Welt nicht so geht wie ihr das wollt. Nein, da spiele ich nicht mit!“
„Wann hast du deine Pillen zuletzt genommen? Laut den Aufzeichnungen, hattest du gestern eine Infusion – warum verhältst du dich nicht angemessen?“
„Bei mir wirken die Drogen nicht, General. Es ist alles nur Gift, das ihr uns gebt. Sollte ich für euch arbeiten, kann ich es so wie so nicht mehr nehmen, weil ich mit dem Zeug im Blut nicht denken kann.“
Das brachte den General an den Rand eines Zusammenbruchs. Er sprang auf und starrte sie hasserfüllt an.
„Wie kannst du es wagen?“, brüllte er. „Sergeant! Bringen Sie den Rekruten in sein neues Quartier!“
Bevor Agnes noch etwas sagen konnte, wurde sie gepackt und weggebracht.


Ich stehe an meinem persönlichen Abgrund und weiß nicht ob und wie es weitergeht.
„Was bringt es, wenn man weiß, wie die Vergangenheit war, wenn sich die Gegenwart dadurch nicht bewältigen lässt? Ich weiß, dass ich im Pleistozän gestrandet bin, doch was nützt mir das?“


Tagelang wanderte er durch die fast baumlose Steppe, immer mit der Angst vor wilden Tieren. Wenn er vor der Dämmerung eine Baumgruppe erreichen konnte war er heilfroh, dann konnte er Schutz in den Baumkronen suchen. Sein Ziel war eine Bergkette im Osten, darauf hielt er zu. Dort hoffte er Wasser zu finden und in den Wäldern essbare Pflanzen, die er kannte. Aber ob er es schaffen würde, das bezweifelte er immer mehr. Er war ein leichtes Fressen für die Hyänen, ständig schlichen sie ihm nach. Sie schienen zu merken, dass er dem Ende nahe war. Einmal hatte ein Löwe in der Nähe gebrüllt, das hätte sein Herz fast zum Stehen gebracht. Minutenlang stand er wie eingefroren da und versuchte sich wieder unter Kontrolle zu bringen.

Diese ständige Angst hätte ihn beinahe eine wichtige Lektion aus seinen Kindertagen vergessen lassen, als er mit Urgroßvater tagelang in der Tundra gewandert war. Er hatte nur diese eine Tour mit ihm gemacht und dabei einiges gelernt. Nie hatte er gedacht, dieses Wissen einmal zu brauchen.

Nun erinnerte er sich daran. Er entledigte sich der Uniform und rollte sich splitterfasernackt in einem Mammutdunghaufen. Der Geruch war atemberaubend. Aber das war ihm gleichgültig. Er hielt die Hyänen etwas auf Abstand.
Alex hatte nur einen langen Ast als Waffe, was angesichts der großen Zahl an Raubtieren lächerlich wenig war. Einzig sein Verstand konnte ihn hier am Leben halten und das Wissen seines Urgroßvaters, so wenig davon noch vorhanden war.

Ihn fror und er hoffte, dass er bald eine menschliche Ansiedlung finden würde. Ständig hielt er nach Rauchsäulen Ausschau. Er war so müde, durstig und ausgehungert, dass er einfach auf den Höhleneingang zu marschierte. Es war ihm gleich, ob er die Leute erschreckte oder nicht. Er dachte nur an Wasser, Wärme und vielleicht Nahrung. Vor der Höhle brach er zusammen, einen Arm in einer flehenden Geste ausgestreckt.

Die Menschen starrten den Fremden erstaunt an. Ein Raunen erhob sich. Sie überlegten, ob sie ihm helfen sollten oder nicht, ob es nicht besser wäre, ihn den Aasfressern zu überlassen. Und am wichtigsten war die Frage, warum sah er so anders aus und warum hatte er keine schützende Kleidung an, es war kalt.

Die Clanmutter trat aus der Höhle, scheuchte die Gaffer weg und betrachtete den Fremden von allen Seiten. Mit einem Stock hob sie seine Gliedmaßen und ließ sie wieder runterplumpsen. Er gab nur ein leises Stöhnen von sich, sonst nichts. Also war noch Leben in ihm. Er sah aus wie ein Mensch, aber doch nicht ganz. Ein Tier konnte es nicht sein, denn diese hatten am ganzen Körper Haare.

Die Mutter ließ sich auf die Knie nieder und schnüffelte an dem Fremden, dann zog sie ihn an den kurzen Haaren, die ebenfalls voller Mammutdung waren. Das bewies ihr, dass er Verstand hatte und sich zumindest halbwegs schützen konnte. Aber dass er so gar keine Waffen besaß, nur den Stock auf den er sich gestützt hatte, fand sie schon absonderlich. ‚Vielleicht ist er ein Ausgestoßener?’, überlegte sie. Es kam immer wieder vor, dass ein Clanmitglied aufgrund verschiedener Verfehlungen aus der Höhle vertrieben wurde. Aber er sah nicht ganz aus wie ein Mensch, zumindest musste er sehr jung sein, den kurzen Haaren im Gesicht zu urteilen. Die Mutter überlegte was zu tun sei und was das für ein Wesen sein könnte. Eine Entscheidung zu treffen war schwierig.

Sie setzte sich auf die Fersen und begann zu singen. Es war ein monotoner Singsang, dem sich bald die ganze Sippe anschloss. Abrupt brach sie ab und schickte eine Frau in die Höhle. Sie sollte Wasser holen, damit benetzte sie die Lippen des Fremden. Er regte sich und fuhr mit der Zunge darüber. Das wiederholte die Frau so lange bis er die Augen aufschlug. Sie fuhr zurück – die Augen waren blau wie der Himmel über ihr!
„Danke“, flüsterte er und die ganze Sippe floh in die Höhle.

Alex drehte sich auf die Seite und griff nach der Wasserschale. Gierig trank er das restliche Wasser. Dann versuchte er sich aufzurichten aber es gelang ihm nicht. Er war zu sehr geschwächt und fiel wieder um.

Die Mutter kam zu dem Entschluss, dass das Wesen nicht gefährlich sein konnte. Sie verließ sich dabei auf ihre Intuition – damit hatte sie die Sippe bislang gut geführt. Jetzt beriet sie sich aber mit ihrem Partner.
„Grah“, sagte sie. „Mein Gefühl sagt mir, dass wir dem da helfen sollen. Ich denke, es wäre gut.“
Grah brummte in seinen Bart. Er musste nachdenken. Es war eine schwere Entscheidung, bislang hatte er nur überlegen müssen, welche Herde sie verfolgen sollen und welches Tier am leichtesten zu erlegen ist. Das waren leichte Fragen. Aber was seine Gefährtin jetzt von ihm verlangte, war schon etwas viel.

„Mae, ich weiß es nicht. Ich vertraue auf dein Urteil als Mutter der Sippe“, sagte er schließlich zögernd. „Sollte er sich als gefährlich erweisen, stirbt er.“
„So sei es, Grah. Hat die Sippe das vernommen? Habt ihr es alle verstanden? Die Mutter hat gesprochen – wir helfen dem Fremden.“

Alex lag halb benommen auf dem Rücken und hörte die Höhlenmenschen reden. Es war eine sonderbare Lautsprache und er fühlte sich ausgeschlossen. Er nahm an, dass sie über ihn redeten, ein Urteil fällten. Es gab nichts, das er tun konnte, also schloss er die Augen und hoffte, dass sie ihn nicht zerstückelten und aufaßen.

Als sich ein Schatten über ihn warf, öffnete er erschrocken die Augen und sog scharf die Luft ein. „Tut mir nichts“, flüsterte er, obwohl er wusste, dass ihn diese Menschen ebenso wenig verstanden, wie er sie.

Die Frau redete ihn an, deutete auf ihn und dann wieder auf die Höhle. Er nahm an, dass sie ihn in die Behausung einlud. Also versuchte er sich hochzustemmen und kam auch auf die Knie, dann griff er nach der Frau, weil er Halt suchte. Sofort umringten ihn die Männer und richteten Speere auf ihn. Alex hielt inne. Er wollte niemanden bedrohen – er fühlte sich keineswegs als Bedrohung. Die Frau sagte etwas und die Speerspitzen wurden gesenkt. Alex atmete erleichtert auf. Verängstigt klammerte er sich an die Frau und zog sich in die Höhe. Sie half ihm, sich auf die Beine zu stellen, dabei viel ihr auf, dass er ebenso aufrecht gehen konnte wie sie selbst. Ein zufriedenes Brummen entfuhr ihr. Alex blickte sie an und lächelte dankbar. Sie brachte ihn in die Höhle ans Feuer. Er hatte nicht gemerkt, wie kalt es war, bis er sich aufwärmen konnte. Die Mutter drapierte noch einige Felle um ihn und jagte dann alle anderen weg.

Er war froh, dass er nicht mehr so angestarrt wurde. Ergeben senkte er den Blick und betrachtete die nackten, dreckigen Füße.
„Mann, ich stinke wie ein Skunk und sehe wahrscheinlich zum Fürchten aus, aber was bin ich froh, diese Leute gefunden zu haben“, dachte er und übergab sich dem Schlaf.

Mae betrachtete den Schlafenden. Er warf sich unruhig hin und her und murmelte vor sich hin. Alles in allem wirkte er wie ein Mensch, aber doch nicht ganz. Arme, Beine, die Nase, das Gesicht – alles war gerader als bei ihrer Sippe. Das Haar war kurz, als hätte es jemand abgeschnitten und der kurze Bartwuchs wies ihn als relativ jung aus, wogegen wieder die Behaarung in der Körpermitte sprach. Die Mutter war verwirrt. Auch die Muskulatur war nicht sonderlich ausgeprägt, dafür war er groß, größer als Grah und der war in der Sippe der größte. Nachdem sie ihn eingehend betrachtet hatte, deckte sie ihn wieder zu und machte Wasser heiß. Dann wartete sie, dass er wach wurde.
‚Wahrscheinlich ist er als schwächliche Missgeburt ausgestoßen worden’, überlegte sie. ‚Wir werden sehen, was daraus entsteht.’

In der Höhle herrschte Aufregung über den Fund. Es kam nur selten vor, dass sie nach dem langen Winter andere Menschen sahen. Sie trafen sich nur im Sommer mit Nachbarsippen zur Mammutjagd und tauschten Neuigkeiten und Mitglieder aus. Die Nahrung war knapp geworden im langen Winter und wenn jetzt noch jemand da war, würde es schwieriger werden. Aber auch die Jagdsaison hatte wieder begonnen und Grah hatte bereits einen erfolgreichen Beutezug hinter sich. Also war das Gemurre nur wenig und auf die scharfen Blicke der Clanmutter hörten die Beschwerden ganz auf.

Mit einem Ruck erwachte Alex. Im ersten Moment wusste er nicht wo er war. Dann erinnerte er sich wieder an die Höhle und die Frau. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf. Sie saß ihm gegenüber und beobachtete jede seiner Bewegungen. In einer demütigen Geste senkte er den Blick und streckte die Hände nach vor um zu zeigen, dass er keine Waffen hatte. Als nichts geschah, hob er vorsichtig den Blick. Die Frau saß noch in der gleichen abwartenden Haltung da.
‚Ob sie mich bemerkt hat?’, fragte er sich. ‚Ich werde wohl nur dann nicht übersehen, wenn ich etwas falsch mache. Hier werde ich wieder in jedes erdenkliche Fettnäpfchen treten’, dachte er resigniert. Er räusperte sich vernehmlich und blickte die Frau von unten an. Sie schien hier das Sagen zu haben. ‚So eine Art Clanmutter’, dachte er. Als er ihre Aufmerksamkeit hatte, deutete er auf sich uns sagte: „Alex.“ Dann zeigte er auf sie und hob fragend eine Augenbraue.
Die Frau verstand, denn sie antwortete prompt. „Mae.“ Alex verstand nicht viel mehr als „Mmm“. Er versuchte ihren Lauten zu folgen und wiederholte den Namen. Mae lachte. Er versuchte es noch einmal. „Maä“, sagte er schließlich. Sie nickte großzügig. Aber sein Name machte auch ihr Probleme. Sie brachte Aks zustande. Alex nickte eifrig, war er doch froh, dass sie ihn jetzt mit Namen anreden konnte.

Am nächsten Tag bekam er in der Höhle den kleinen Bereich am Eingang zugewiesen. Es war dort zwar sehr zugig, aber er war froh, einen trockenen Platz zu haben. Dann sah er zu, dass er den trockenen Mammutdung loswurde. In der ersten Zeit schlief er viel und bekam nur wenig mit, was in der Höhle geschah. Als es ihm besser ging schaute er sich interessiert um und beobachtete genau. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er hier gestrandet war, es brachte nichts, sich gedanklich Aufzeichnungen über die Lebensweise dieser Leute zu machen.

Je länger er hier war, desto fremder fühlte er sich. Nichts, das er in seinem bisherigen Leben gelernt hatte, war hier von Nutzen. Er war völlig hilflos. Wenn ihm nicht diese Menschen hier geholfen hätten, wäre er bereits tot.
Das wurde ihm so richtig klar, als er es nicht schaffte, ein Feuer zu entzünden. Selbst die kleinen Kinder lachten ihn aus. Tapfer versuchte er über seine Unkenntnisse zu lachen, aber irgendwann war es einfach zuviel und er kam nicht mehr unter den Fellen, die Mae ihm geschenkt hatte, hervor.
Er konnte nichts, nicht einmal seine Sprache war hier etwas wert, keiner verstand ihn – er war ganz alleine. Gestrandet in einer fernen Zeit an einem Ort, an dem er nicht sein wollte.

Was ist der Mensch wert? Nichts als die Summe seiner Fähigkeiten. Ich stehe am Rand des Abgrunds und überlege, ob ich nicht endgültig abrechne.

nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Von nun an war ihr neues Zuhause die Unterkunft der Rekruten. Den General sah sie monatelang nicht mehr. Der Tag begann um fünf Uhr morgens mit dem Wecken, danach mussten die Rekruten einige Kilometer laufen. Agnes fiel es schwer mit den anderen Schritt zu halten. Sport hatte sie in der Vergangenheit gemieden, wo es nur ging. Immer war sie die Letzte in der Reihe und wurde vom Ausbilder angebrüllt, schneller zu laufen, sonst müsste die ganze Gruppe wegen ihr eine Extrarunde drehen.
In ihrer Einheit war sie deswegen unbeliebt. Sie wurde gemieden und musste den Spott und die Gewalt die ihr innerhalb der Gruppe zugefügt wurde, ertragen.
Ständig gab es Extrarunden wegen ihr, oder sie versäumten das Frühstück und mussten den Tag über hungern, bis es abends wieder etwas gab. Agnes brachte dann oft trotz bohrenden Hungers keinen Bissen hinunter. Sie verfiel immer mehr.
Eines Tages entdeckte sie am Fußende ihres Bettes etwas. Feine Linien waren in den Lack geritzt. In einer alten Sprache stand geschrieben: „Du verdorrte Blüte im Rosenhain – so wie du, werde ich verloren sein.“
Es war der Anfang eines alten Gedichts aus den letzten Jahren bevor die große Hungerkatastrophe Afrasien heimsuchte und dort fast die Hälfte der Einwohner hinwegraffte. Das war im Jahr 3259, wenn sie es richtig in Erinnerung hatte. Irgendein Afrasier hatte das Gedicht geschrieben, als sie auf Hilfe von Eumeria hofften, die ihnen zugesagt worden war, aber dann scheinbar auf dem Seeweg verloren ging. So machten sie es immer – zuerst großspurig Hilfe anbieten, um dann unter fadenscheinigen Gründen doch nicht zu helfen, oder die Hilfe verschwand in dubiosen Kanälen.
Agnes begann ihre Herkunft abzulehnen. Alles an Eumeria schien ihr schlecht zu sein. Kein Gutes fand sie mehr darin. Das Gedicht spiegelte ihre Gefühlslage eins zu eins wider.

Die tägliche Schinderei, der Drill an der Waffe, das Laufen, wenig Schlaf, der scharfe Kommandoton, die feindseligen Rekruten. All das schlug sich ihr aufs Gemüt. Sie wurde immer niedergeschlagener, dadurch noch langsamer bis sie eines Abends vollends die Beherrschung verlor.
„Rekrut Lindstrom! Beweg dich, du faules Stück! Auf den Bauch! Stillgestanden!“ So ging es die ganze Zeit dahin. Sie war von oben bis unten mit Schlamm beschmiert. Die Ausrüstung war verdreckt. Die Kameraden standen in einer Reihe daneben und grinsten verhalten, als sie die Strafübungen absolvierte.
„Dafür, dass du deine Ausrüstung so verkommen lässt, wirst du die nächsten vierundzwanzig Stunden Wache schieben und anschließend deine Sachen reinigen – von Hand! Verstanden, Rekrut?“
„Ja! Sir!“, brüllte sie atemlos zurück und dann machte es Klick. Sie stand stramm wie immer, es war das Einzige, das sie perfekt beherrschte, blickte am Ausbilder vorbei und sagte: „Wenn du Arschloch glaubst, dass ich mir das noch weiter gefallen lasse, dann hast du dich gewaltig getäuscht.“
Dem Sergeant fror das Gesicht ein. Dann fragte er drohend: „Was hast du da eben gesagt?“
„Dass Sie ein Arschloch sind, Sir!“, brüllte sie zurück.
Der Sergeant drehte sich kurz zur Gruppe um und befahl: „Gruppe! Wegtreten!“
Nur Agnes und der Ausbilder standen sich gegenüber. Sie hatte genug von dieser Schinderei, des sinnlosen Drills und der Brüllerei. Nichts sehnte sie mehr herbei als Ruhe und Schlaf. Endlich einmal ausschlafen zu können und alleine zu sein, war alles, was sie wollte.

Stocksteif stand sie da und ließ die folgende Beschimpfung des Mannes über sich ergehen,
ohne ein Wort davon zu hören. Ihre Gedanken waren weit weg – in einer Vergangenheit von der sie nichts wusste, bei einem Kollegen, von dem sie nichts mehr wusste.
„Verstanden, Rekrut?“
Sie gab keine Antwort, stand nur da und starrte ins Leere.
„Rekrut!“
Noch immer war sie weit weg, hörte den Sergeant wie durch Watte. Dann kippte sie nach hinten, schlug hart mit dem Kopf auf und blieb liegen.

Erschrocken öffnete sie die Augen. Lichter tanzten um sie herum.
„Wo bin ich? Was ist passiert?“, sagte sie nach mehrmaligen Räuspern. Sie lag nach wie vor am kalten Boden auf dem Übungsgelände. Der Sergenat stand breitbeinig vor ihr, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Damit kommst du nicht durch, Rekrut! Dein Benehmen wird Folgen haben. Steh auf!“
Sie versuchte es, aber ihr war einfach zu schwindlig und sie fühlte sich schwach und zittrig.
„Ich kann das nicht mehr. Ich kann nicht mehr! Niemals wollte ich das machen! Lasst mich wieder nachhause!“, rief sie, obwohl ihr Kopf zu platzen drohte.
„Steh jetzt auf Rekrut! Und dann gehst du zum Leutnant, dort wirst du deine Strafe erhalten.“
Ganz langsam drehte sie sich auf den Bauch und kam auch auf alle Viere. Aber weiter ging es nicht. Sie erbrach noch das spärliche Mittagessen, stöhnte und jammerte, aber der Sergeant kannte kein Mitleid und bot ihr keine Hilfe an.
„Ich brauche einen Arzt“, murmelte sie hoffnungslos.
„Wenn du nicht gehen kannst, dann wirst du kriechen! Ich bin hinter dir, falls du nicht weiter kommst!“
Also kroch Agnes auf Händen und Knien durch den Dreck auf das nächste Verwaltungsgebäude zu. Der Sergeant trieb sie immer weiter an. Sie hatte keine Zeit und auch nicht mehr die Energie ihn zu beschimpfen. Mit Mühe schaffte sie es zur Tür. Am Rahmen zog sie sich hoch, immer den Sergeant im Rücken.

Endlich stand sie vor dem Leutnant.
„Rekrut Lindstrom! Stehen Sie gerade!“
Mühsam stand sie stramm und grüßte ordnungsgemäß.
„Rekrut Lindstrom meldet sich wie befohlen“, sagte sie matt. Sie ahnte, dass sie jetzt in Schwierigkeiten kommen würde.
„Sie sind eine totale Niete!“
„Ja, Sir.“
‚Warum nur, passiert mir so etwas?’, fragte sie sich verzweifelt. ‚Was habe ich bloß getan, um das hier zu verdienen? Ich wollte doch nur in Ruhe gelassen werden und den Kindern Geschichte und Geschichten näher bringen. Verdammtes Militär!’
Der Leutnant ignorierte diese Gedanken, aber an seinem Gesicht sah sie, dass er sie empfangen hatte. Sie seufzte vernehmlich. Wieder hatte sie nicht aufgepasst.
„Du meldest dich in fünfzehn Minuten bei der Abfallbeseitigung. Die nächsten zwei Wochen wirst du dort Dienst tun und etwas Nützliches für die Gemeinschaft leisten. Leider brauchen wir dich, sonst hätten wir nie auf jemand so Unfähigen wie dich zurückgegriffen“, fügte er ärgerlich hinzu.
‚Jetzt ist er wieder per du mit mir. Von mir verlangen sie Respekt, aber selber bespucken sie die Menschen. Ich hasse sie.’ Diesmal war es ihr gleichgültig, ob er ihre Gedanken lesen konnte.
„Verstanden, Sir. Ich werde etwas für die Gemeinschaft tun“, sagte sie schließlich ergeben.

Die Arbeit in der Abfallbeseitigung war langweilig, und gab ihr Gelegenheit über Vieles nachzudenken. Sie dachte an ihre sonderbare Beziehung zu Alex, den sie nicht vergessen konnte. Seine ganze Art war so was von aufreizend gewesen. Er benahm sich so gekünstelt unterwürfig, aber niemals konnte ihm jemand etwas nachweisen. Nur sie ahnte, und später erfuhr sie es von ihm, dass er sich über sie lustig machte. Aber er war einsam gewesen, so wie sie. Nur sie wollte es sich nie eingestehen. Jetzt war sie auch einsam, einsamer noch als an der Uni oder bis vor kurzem in der Schule. Als Lehrerin hatte sie wenigstens Kontakt zu ihren Mitmenschen aufbauen können und müssen. Hier herrschten Zwang, Disziplin und Ordnung. Wurde gegen eines der drei verstoßen gab es Strafen. Unpünktlichkeit war eines der am härtesten bestraften Vergehen. Einmal wurde sie deswegen mit dem Stock geschlagen. Sie hatte sich die Zunge blutig gebissen, um nicht zu schreien und später konnte sie nur mit Mühe gehen und stehen, sitzen und am Rücken liegen ging gar nicht. Es dauerte mehrere Tage bis sich die Schmerzen so weit legten, dass sie ihren Dienst in einer normalen Haltung wahrnehmen konnte. Sie war nie wieder unpünktlich.

Die Kameraden mieden sie. Agnes war die Älteste in der Gruppe. Es war üblich, dass ein Rekrut das zwanzigste Lebensjahr abgeschlossen hatte, wenn er dem Militär beitrat. Agnes war über dreißig und sie war Wissenschafterin, was es noch schwerer machte. Die meisten anderen hatten keine Berufsausbildung, zumindest nicht bei der Abfallbeseitigung. Sie wurde oft nicht verstanden, wenn sie etwas sagte. Hier redete sie nur mehr, wenn sie angesprochen wurde.
Eines Nachts hatte sie sich leise weinend vorgenommen, hart zu werden, wieder die beinharte Wissenschafterin zu sein, die sie vor fünf Jahren war, als man Alex wegholte. Wenn sie hart wäre, würden sie die anderen vielleicht in Ruhe lassen.
‚Ich mag nicht mehr so leben, mich verstellen müssen. Warum habe ich nur Geschichte studiert? Lasst mich in Ruhe’, schluchzte sie ins Kissen. Jeden Abend ging es so, bis sie äußerlich abgehärtet war. Niemand sah ihr den täglichen inneren Kampf an. Sie war eine Lindstrom und sie funktionierte perfekt.

Endlich war das Jahr der Ausbildung vorüber. Sie hatte die letzten Monate mit Gleichmut ertragen. War gelaufen, hatte gekämpft, sich demütigen lassen und geschwiegen. Am letzten Tag der Ausbildung schlug sie den Sergeant zusammen. Der war so überrascht davon, dass er von einer Anzeige Abstand nahm, sondern anerkennend sagte: „Siehst du Rekrut, du hast doch etwas gelernt.“ Dann ging er um das Nasenbluten zu stillen und seinen verletzten Stolz an einem der neuen Rekruten aufzupolieren.

Agnes wurde am nächsten Tag zum General gerufen. Wieder stand sie ihm in seinem Büro gegenüber. Diesmal in der Uniform eines Gefreiten. Sie hasste den Stern auf dem Hemd. Sie hasste die grüne Farbe. Sie hasste das Militär.
„Rühren, Gefreite. Jetzt bist du mit deiner Ausbildung fertig und du kannst deine neue Aufgabe wahrnehmen. Wir brauchen jemanden der mit dem Zeitreisefahrzeug umgehen kann.“
Agnes war erstaunt, dass es noch keinem gelungen war, hinter das Geheimnis des Moduls zu kommen. Eigentlich war es ganz simple, aber dazu musste man vertrauen haben, vertrauen in sich und seine Fähigkeiten und in die Menschen um sich. Das herrschte hier nicht. Hier hatte Misstrauen das Kommando.
„Wenn es euch in den letzten Jahren nicht gelungen ist, wieso sollte es mir jetzt gelingen? Vergessen Sie nicht, General, dass ich die vergangenen Jahre als Lehrerin gearbeitet und dann ein Jahr hier verbracht habe. Meine wissenschaftliche Neigung ist so ziemlich abgebrannt. Da ist nichts mehr vorhanden, Sir.“
„Agnes, wir brauchen dein Talent. Du hast es mit entworfen, du weißt wie es funktioniert.“
„Sir, darf ich offen sprechen?“
„Ich kann deine Gedanken lesen, schon vergessen. Sprich offen.“
„Ihr seid selbst schuld. Ich habe das schon einmal gesagt. Es ist euer Pech, das es nicht geht. Immer wollt ihr andere unterdrücken, spielt euch als die Herrenrasse auf. Ihr macht damit die Welt kaputt, ist euch diese Idee noch gar nicht gekommen? Doktor Smirnov wusste das. Er ist viel intelligenter als ihr alle annehmt und wahrhaben wollt. Denken Sie, es ist Zufall, dass das Gerät nicht mehr läuft? Was wollten Sie überhaupt in der Vergangenheit? Sicher nicht nur die Geschichte erforschen. Ich habe so die Befürchtung, dass das nur ein Vorwand war, eine der zahlreichen Lügen, die das Militär und die Administration den Menschen hier und anderswo auftischt. Sie suchen nicht nach Wahrheit. Ich denke eher, Ihnen ist es um das Einsammeln von Sklaven gegangen. Sie wollten wissen, zu welcher Zeit und in welchem Ausmaß man Menschen aus ihrer Zeit rauben kann und sie dann hier zur Arbeit zwingen. Ich habe Recht, Sir. Ihr Gesichtsausdruck bestätigt meine Annahme.“
„Agnes! Schweig still! Als ich sagte, dass du offen reden kannst, habe ich nicht mit so einer unbelegbaren Anklage gerechnet. Was bildest du dir ein, mit wem du hier sprichst?“
„Mit dem General der Streitkräfte von Eumeria, Sir!“, kam die prompte Antwort.

Die nächsten zwei Wochen verbrachte sie in Einzelhaft. Damit hätte sie rechnen müssen. Ihre Anschuldigung war als Angriff auf Eumeria gewertet worden.
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****ra Frau
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Die Zelle war kalt und dunkel. Nur selten fiel ein Sonnenstrahl durch das hoch liegende Oberlicht. Sie verlor alles Zeitgefühl. Um nicht verrückt zu werden, sagte sie sich alte Gedichte auf, rechnete in den Zeiten zurück und ging alle weltbewegenden Ereignisse vom wissenschaftlichen Standpunkt durch. Dann überlegte sie, was es mit dem Zeitreisemodul auf sich hatte. Alex musste es modifiziert haben, ein Sicherheitsprogramm, das keiner finden konnte. Sie war stolz auf ihn und seine Umsicht.
Im Geist machte sie sich Notizen über das Leben beim Militär. Sie verglich die derzeitigen Zustände mit den historisch belegten Tatsachen anderer Epochen und kam zu einem überraschenden Ergebnis. Viel hatte sich nicht verändert. Immer waren andere unterdrückt worden. Es gab in der Weltgeschichte immer wieder Perioden, in denen sich eine Gruppe über eine andere erhob. Diese Tatsache war erschreckend. Wenn sich eine Gruppierung schon so weit entwickelte, wie die in Eumeria, dann war es doch ihre Pflicht und Schuldigkeit, alle anderen an ihrem Fortschritt und Wissen teilhaben zu lassen und das ohne jeden Hintergedanken. Einmal erfand diese Gruppe etwas, ein anderes Mal eine andere Nation.
‚Was sind Nationen?’, fragte sie sich und begann im Geist eine Definition für sich zu formen. ‚Eigentlich gibt es so was wie Nationen gar nicht. Was soll das eigentlich sein, Nation? Ursprünglich sollte es soviel wie Abstammung heißen, oder Volk. Aber gibt es so etwas wie Völker überhaupt oder Rassen? Wir unterscheiden uns doch nur in unseren Sitten, und das sind zumeist auch nur Kleinigkeiten, die im täglichen Leben aber schwer wiegen.’ Sie hatte das Gefühl sich im Kreis zu bewegen. Aber die Beschäftigung mit dem Thema hatte ein Gutes, es hielt sie davon ab in diesem engen Kellerloch durchzudrehen. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass sich die Wände näherten. Dann zählte sie mit geschlossenen Augen bis hundert und es ging wieder. Nie war ihr eine Zeitspange so lang vorgekommen. Es passierte nichts. Zweimal am Tag wurde die Monotonie durch eine Uniform und einen darin steckenden Menschen unterbrochen, der ihr Essen brachte.
Agnes schlief immer wieder ein. Sie träumte von ihren Studien, vom Zeitreisemodul und wie sie es gebaut hatten. Sein Lachen hörte sie noch immer. Es kam selten und endete meist abrupt. Irgendwie war Alex ein Spiegel ihrer selbst gewesen. Sie vermisste ihn, hatte ihn immer vermisst. Ob es nur Gewohnheit war oder etwas anderes, daran wollte sie lieber nicht denken, denn diese Gefühle waren verboten. Es hatte keinen Namen, weil es nicht existierte. Aber Agnes wusste, dass es das Wort gab. Sie wusste es, weil sie es gelesen hatte, vor Jahren als sie alte Bücher auf historische Fakten absuchte.
Schweißgebadet erwachte sie. Für diese Gedanken, für diesen Traum alleine könnte sie weitere zwei Wochen in Einzelhaft gehalten werden. Tränen liefen wie kleine Silberperlen über ihr Gesicht, als sie an das Wort dachte. Sie würde es gerne sagen dürfen, zu den Gefühlen stehen, die in ihr waren.

Seit sie in Haft war, dachte sie immer öfter darüber nach. Ob Nationalität auch etwas mit diesem verbotenen Gefühl zu tun hatte? Sie versuchte nüchtern zu denken, damit sie nicht wieder zu weinen anfing. ‚Wo ist nur meine Mauer hin? Ich bin nicht mehr stark’, dachte sie und versuchte wieder den Panzer zu errichten. Er sollte sie schützen, vor schmerzenden Gefühlen und Erkenntnissen. Doch er war mit dem Weglassen der Pillen immer mehr verschwunden. Die Drogen hatten geholfen, eine Mauer des Selbstbetrugs zu errichten. ‚Alles ist gut’, dachte sie und heulte. „Nichts wird jemals gut werden!“, brüllte sie in der Zelle, dass es hallte. Sie erschrak und schrie es gleich noch einmal.
„Ich werde mir von euch meine Zukunft nicht stehlen lassen. Nein! Das ist vorbei. Ich hab genug davon. Mein Leben lang habt ihr mir vorgeschrieben, was und wie ich zu denken habe, welche Gefühle erlaubt sind und welche es nicht gibt. Wortloses Grauen habt ihr geschürt. Ihr elenden Lügner. Ich hoffe, ihr verreckt an eurem eigenen Betrug!“

Von der Einzelhaft wurde sie direkt auf eine Psychamb verlegt. Warum sie diese stationären Einrichtungen Amb nannten, nach einer alten Bezeichnung für ambulant, das soviel hieß wie herumgehen, wusste sie nicht. Es entsprach auch nicht den Tatsachen. Außer dem Personal ging dort niemand und schon gar nicht mehr hinaus. Wer in einer Psychamb landete blieb meistens auch dort.

„Wir müssen dein Gehirn untersuchen“, sagte der dortige Arzt. „Gefreite Lindstrom, legen Sie sich hin und entspannen Sie sich.“
Langgestreckt lag sie auf einer Bahre und fragte sich, ob sie diese Gedankensonden überleben würde. Im Moment war es ihr gleichgültig, sie hatte ein Beruhigungsmittel bekommen.
Als die Gedankensonden auch keine Ergebnisse brachten und sie schon von der wissenschaftlichen Abteilung heiß erwartet wurde, ließ man sie schlussendlich gehen. Agnes war die einzige Expertin was ganz frühe Kulturen anging und sie kannte fast alle alten Sprachen. Einzig Alt-Chinesisch entzog sich ihren Kenntnissen. Aber das wurde auch nicht von ihr verlangt. Sie musste Bücher aus der Zeit des ausgehenden zweiten und des beginnenden dritten Jahrtausends übersetzen.

Durch die Behandlungen und Infusionen hatte sie Angst, einen Dauerschaden am Hirn zu bekommen. Über die Langzeitfolgen dieser Medikamente war nichts bekannt, oder sie wussten es und sagten nichts.

Agnes tat jetzt als würde sie sich fügen. Noch einmal hatte der General mit ihr gesprochen und ihr die Deportation angedroht, sollte sie weiterhin auf ihren abstrusen Gedanken und Ideen beharren. „So etwas Unvernünftiges und Stures wie du ist mir in meiner gesamten Laufbahn noch nicht untergekommen. Der Samek wusste wenigstens wo sein Platz war. Entweder du fügst dich, oder du wirst ausgewiesen!“
Deportation. Sie ahnte, was das hieß. Es war eine schwerwiegende Bestrafung und hieß, dass man irgendwo im Eismeer ausgeladen wurde und man die Gelegenheit bekam, sich mit der Natur zu messen. Einer von Vielen überlebte, alle anderen starben innerhalb eines Monats. Agnes wollte sich das nicht antun. Also verbannte sie die verräterischen Gedanken in den hintersten Winkel und machte sich an die Arbeit.

Zuerst musste sie die Texte übersetzen. Da waren so abstruse Bücher dabei, wie „Mein Kampf“ von einem gewissen Adolf Hitler. ‚Das wird den Herrschenden gefallen’, dachte sie bitter. Sie wollte das schlecht gemachte Buch nicht weiterlesen. Aber hinter ihr stand ständig ein Offizier und überwachte ihr Fortkommen. Dann übersetzte sie noch die Schriften eines gewissen G.W. Bush und anschließend quälte sie sich durch die Worthülsen diverser Politiker Europas und Amerikas. Es fiel ihr zunehmend schwer, sich diesem Schwachsinn hinzugeben. Der Inhalt war immer gleich, nur die Verpackung war anders. Jeder lobte seine Nation in den höchsten Tönen. Da wurde von einer zweiten und einer dritten Welt geschrieben, von Schwellenländern, was immer das sein mochte. Warum konnte es nicht nur eine Welt geben? Auch damals schon war die erste Welt auf Europa und Amerika beschränkt – Eumeria.
‚Ich hasse, was ich da mache’, dachte sie traurig, als sie einen weiteren Mikrochip gelesen hatte. Die Administration hatte vor über tausend Jahren damit begonnen alle Bücher, Texte und sonstige Schriften auf Chip zu bannen, damit nichts verloren gehen konnte, was unter Umständen für die Untermauerung ihres Herrschaftsanspruchs dienlich sein konnte.

Als sie einen Großteil der Schriften übersetzt hatte, musste sie sich die Audio- und Videodateien vornehmen. Es war die reinste Qual. Wieder begann sie im ausgehenden zweiten Jahrtausend nach der Machtergreifung des Wahren Glaubens. Schon alleine die Stimme des Redners ließ sie schaudern und brachte ihren Magen zum Rebellieren.
Sie heulte sich die Augen aus, als sie die Bilder behinderter Kinder sah, die den Aufzeichnungen zufolge, einen schönen Tod gestorben waren, was soviel hieß, sie wurden entsorgt. Das geschah auf brutalere Art und Weise auch mit Andersdenkenden und Andersgläubigen. Agnes konnte mit den Religionen nicht viel anfangen, war sie doch in dem Glauben erzogen worden, dass es nur eine gäbe. Je mehr sie sich mit der Vergangenheit beschäftigte und je mehr sie darüber erfuhr, desto mehr lernte sie auch über ihr eigenes Volk, das Regime und wie es dachte.

Sie las über die Gefängnisse des beginnenden dritten Jahrtausends. Auch dort wurden Menschen getötet und gefoltert. Wenn sie nicht dem richtigen Glauben angehörten oder arm waren, geschah das umso schneller.

Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass sie gefoltert worden war. Einzelhaft war Folter. Sie hatte in den Dateien einen winzigen Hinweis auf eine Gruppe gefunden, die sich ai nannte, was immer das auch heißen mochte. Die hatten eine Liste der Foltermethoden aufgeführt. In späteren Jahren wurde diese Vereinigung aufgelöst und verboten. Jetzt gab es niemanden mehr, der die Menschenrechte schützte. Sie fragte sich, woher sie diese Gewissheit hatte.

Es dauerte fast zwei Jahre, bis sie alle Dateien soweit übersetzt hatte, dass sie einen Sinn ergaben. Dazu hatte sie täglich bis an die achtzehn Stunden gearbeitet. Sie fühlte, wie ihr Körper unter der Belastung litt. Essen war ihr mittlerweile nur mehr Pflichtübung und manchmal konnte sie es nicht bei sich behalten. Sie mochte das synthetische Essen nicht und wagte nicht, um etwas anderes zu bitten. Manchmal hatte sie Heißhunger auf einen Apfel, einen simplen Apfel und sie konnte nicht fragen, weil sie alle nur verständnislos angeblickt hätten. Agnes fühlte sich als wäre sie in einem fremden Land, oder auf einem fernen Planeten. Alles kam ihr zeitweilig so unwirklich vor. Einzig die Daten, die Stimmen und Bilder auf den Datenträgern waren echt. Sie versank in diesem Strudel der Geschichte, der sich vor ihr auftat und sie mitreißen wollte.

Bald konnte sie das alles nicht mehr ertragen. Sie ertrotzte sich einen freien Abend. Es kostete sie viel Überredung, aber dann bekam sie ihn.
„Endlich frei“, sagte sie und schlenderte durch die Militärstadt. Sie suchte einen bestimmten Bereich, den Ort, den der Bodensatz der Hierarchie aufsuchte, wo es Verbotenes gab. Dort wollte sie sich ablenken. Es wurde bald dunkel und sie hatte das Viertel noch immer nicht gefunden. Sie war müde, fußwund und verspürte endlich Hunger. Aber hier war nichts zu sehen. Weit und breit keine Kneipe, kein Ort, an dem sich jemand treffen würde, um sich zu amüsieren. Sie wollte schon umkehren, da hörte sie Gelächter aus einem Keller dringen. Entschlossen schritt sie darauf zu, ging die paar Stufen zum Eingang hinab und drückte gegen die Tür. Es war abgeschlossen. Also klopfte sie. Nach einiger Zeit wurde eine Klappe geöffnet und eine Nase heraus gestreckt.
„Was willst du? Hier ist eine Privatveranstaltung“, sagte die mürrische Stimme.
„Ich will da rein und mitfeiern“, sagte sie so bestimmt sie es wagte und fertig brachte.
„Ha! Das haben schon viele gesagt.“ Schon wollte er die Klappe schließen, da hörte sie eine andere Stimme.
„He, Josch, das ist die, die dem Alten eine auf die Birn gedroschen hat, lasse rein.“
Hinter der Tür wurde noch etwas diskutiert, dann schwang sie leise auf und Agnes wurde eingelassen. Es umfing sie eine sonderbare Nebelwolke, sie musste husten. An einer Bar drängten sich zahlreiche Menschen in den verschiedensten Uniformen. Aber keiner hatte mehr als den Gefreitenstern. Auch sie hatte es noch nicht weitergebracht, was ihr aber nichts ausmachte.
Da sah sie den Typ, der ihr den Einlass ermöglicht hatte. Er stand neben der Tür und grinste sie an. „Na Lahmarsch, wie geht’s dir so?“ Er konnte sich sehr gut an sie erinnern und Agnes wollte gerade wieder umdrehen, als sie merkte, dass das hier der normale Umgangston war. Sie wollte sich ablenken, die Bilder brachte sie nicht aus dem Kopf, immerzu musste sie daran denken. Manchmal waren die einen weiter vorn, manchmal die anderen, aber immer waren sie voller Grauen. Sie hatte viel aus der Zeit des Studiums vergessen gehabt, das meiste davon nicht einmal gelernt. Das dritte Jahrtausend war von Katastrophen gebeutelt und wurde von Bürgerkriegen und sogenannten Friedenseinsätzen heimgesucht, die keinen Frieden brachten, sondern jede andere Meinung abwürgten und die Einwohner damit niederzwangen. Es war eine Zeit, in der auf der ganzen Welt eine Mentalität der Verachtung und Gier herrschte.
„Ich will vergessen, Max“, sagte sie deshalb einfach. Etwas in ihrer Stimme musste den Mann stutzig gemacht haben, denn sein hämisches Grinsen verschwand aus dem Gesicht.
„Komm, setz dich dort hinten hin. Ich hol dir was zum Vergessen“, sagte er erstaunlich versöhnlich. Agnes ging zu dem angewiesenen Tisch und kurz darauf kam er zurück.
„Jetzt sag mal, was du vergessen willst, Lahmarsch“, forderte er und stellte zwei braune Flaschen auf den Tisch. „Aber vorher trinken wir darauf, dass du dem Alten eine verpasst hast. Prost.“
Er hob die Flasche an die Lippen und tat einen kräftigen Zug. Agnes probierte vorsichtig. Das Getränk schmeckte bitter und schmeckte ihr eigentlich nicht. Aber sie wollte nicht unhöflich sein, also trank sie das ungewohnte Zeug und verzog nur leicht das Gesicht.
„Ich muss übersetzen. Es ist soviel, nie kann ich mich ausruhen, sie lassen mich nicht“, begann sie leise zu reden. Ihre Stimme ging in dem Lärm fast unter.
„Was übersetzt du? Ich dachte die Obrigkeiten können alles. Du bist ja eine von denen.“
„Ich bin keine von denen – schon lange nicht mehr. Oh, Max, ich habe Bilder gesehen, die kann ich einfach nicht fassen und ich weiß genau, wie die das auslegen werden. Am liebsten würde ich alles vernichten. Ich habe gesehen, wie sie Leute einfach abschlachteten, nur weil sie anders aussahen – Kinder, Frauen, Männer – alle wurden … oder sie haben sie gezwungen unter unmenschlichen Bedingungen zu arbeiten, sie verhungerten während andere sich die Bäuche vollschlugen. Immer wieder habe ich so etwas gelesen. Ich habe bei der großen Dürre in Afrasien aufgehört. Das ist dann bekannte Geschichtsschreibung, oder sagen wir besser anerkannte. Ich fürchte …“
Max saß einfach da, starrte und trank. Er war schon lange dabei, zu lange. Er schien über etwas sehr angestrengt nachzudenken, dann murmelte er fast unhörbar: „Das hat mir schon mal jemand gesagt. Das Gerede hat keinen Sinn, Lahmarsch.“
„Du hörst nicht zu, Max. Es ist heute nicht anders – ich habe es gesehen, selbst erlebt.“
„Was kannst du schon erlebt haben? Du bist doch eine Privilegierte! Hast es uns ja die ganze Zeit, die du bei uns warst, unter die Nase gerieben. Dein ganzes Verhalten, zeigt doch deine Herkunft!“
Agnes war erschüttert. Aber sie musste zugeben, dass er recht hatte. Ihr ganzes Gebaren, ihre Haltung schien die eines Telepathen zu sein.
„Ich bin keine von denen“, sagte sie müde und trank das bittere Gebräu aus. „Ich will keine von denen sein!“ Die berauschende Wirkung des ungewohnten Alkohols tat bereits seine Wirkung. Sie stand auf und schritt steif zur Theke, zornig knallte sie die Flasche auf die Oberfläche und verlangte nach Nachschub. Der bittere Geschmack fing an ihr zu gefallen. Dann setzte sie sich wieder Max gegenüber und gab ihm eine Flasche.
„Mensch, hör auf, das Zeug so schnell zu trinken. Du bist das nicht gewöhnt. Wenn sie dich morgen sturzbetrunken erwischen, kommst du ins Loch und sie werden nachforschen, woher das Zeug kam.“
„Ich will vergessen – alles will ich vergessen. Nichts mehr sehen müssen von dieser grausamen Welt. Weißt du …“
„Hör auf! Geh in dein Quartier zurück und lass uns hier in Ruhe.“
Max wurde jetzt langsam wütend und er fragte sich schon, warum er sie herein gelassen hatte. Sie konnte alle hier in erhebliche Schwierigkeiten bringen.
Agnes begann zu lachen und sagte: „Denkst du, ich fürchte das Loch? Das kenne ich bereits und die Gedankensonden und das ganze Gift, das sie einen spritzen, wenn man nicht auf Linie ist. Ich habe das ganze Programm durchlaufen. Mir machst du damit keine Angst. Von mir wird keiner was erfahren. Ich weiß ja nicht, wo ich bin.“
„Warum sollte der General dich ins Loch stecken? Ihr seid ja verwandt. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, wie man so schön sagt.“
„Scheiß doch auf den alten Sack! Der hat mich da reingesteckt, nachdem ich ihm ein paar unangenehme Wahrheiten an den Kopf geschmissen habe.“ Sie lachte lange, laut und heftig, bis sie zu weinen begann und nicht mehr aufhören konnte. „Ich kann das nicht mehr“, schluchzte sie und legte den Kopf auf den Tisch. Max erhob sich und ging. Das wollte er nicht hören. Er war auch hier, um seinen Alltag zu vergessen, da brauchte er niemanden, der ihm das Elend anderer vor Augen führte. Er hatte sein eigenes.

Als sich Agnes wieder beruhigt hatte, stand sie auf und ging leise hinaus. Auch hier fühlte sie sich nicht willkommen. Müde wankte sie zu ihrer Unterkunft. Es war ein Wunder, dass sie es noch vor Mitternacht schaffte und ohne Probleme Einlass bekam. In ihrem Zimmer fiel sie aufs Bett und brach erneut in Tränen aus.
„Ich will hier weg! Die behandeln mich wie eine Maschine, ich will das nicht! Hört ihr! Ich bin keine Maschine! Ich bin ein Mensch!“ Ihre Verzweiflung war für alle Telepathen auf der Basis hörbar, aber sie waren zu verschlossen, um es zur Kenntnis zu nehmen. So etwas gab es nicht, durfte es nicht geben. Alle Eumerier waren froh, etwas für die Gemeinschaft tun zu können. Es gab nichts Höheres, als dem Land zu dienen.

Es dauerte lange bis sie sich beruhigt hatte und einschlief.
Unerbittlich war der Weckdienst am nächsten Morgen. Pünktlich um nullfünfhundert Uhr stand ihr persönlicher Assistent, der eigentlich ein Bewacher und ihr vorgesetzter Offizier war, vor der Tür und hämmerte dagegen.
„Aufmachen oder ich trete die Tür ein!“, brüllte er. Gegen den Befehl hatte sie einen Stuhl vor die Tür gerückt und damit die Klinke blockiert.
„Lass mich in Ruhe, ich hab heute frei!“
„Du hattest frei, jetzt hast du Dienst. Öffne, bevor ich ungemütlich werde!“
Ein tiefes Seufzen entrang sich ihrer Lunge und machte einem ärgerlichen Zischen platz. Sie wälzte sich aus dem Bett und ging mit hängenden Schultern zur Tür. Der Sessel hatte sich so gut verkeilt, dass sie jetzt Probleme bekam, ihn wegzubekommen. Schließlich gelang es ihr doch und der zornige Offizier stand vor ihr.
„Stillgestanden!“, brüllte er, als sie sich einfach umdrehte und zum Schrank ging. Sie wollte sich anziehen.
‚Leck mich. Sie zu, dass du Land gewinnst. Ich zieh mich jetzt an’, dachte sie und provozierte damit einen Wutanfall des Leutnants. Bewusst ignorierte sie ihn und kleidete sich an.
„Das wird Folgen haben. In fünf Minuten bist du vor der Tür!“
„Ja, Sir! Ich spüre die Folgen jeden Tag. Ihr lasst es mich nie vergessen.“ Sie war in massiv streitbarer Stimmung. Die ständige Arbeit, die Ablehnung durch die anderen Leute auf dem Stützpunkt, das alles machte sie fertig und sie hatte absolut keine Lust mehr, in den Archiven nach alten Texten zu suchen und diese so zu übersetzen, dass es der Administration passte. Wenn sie schon forschen sollte, dann wollte sie das so machen, dass sie der Wahrheit einer Begebenheit auf die Spur kam. Ganz genau würde man es nie erfahren – es gab zu viele Ebenen, die nie beleuchtet werden konnten. Immer spielten, bei einem Krieg zum Beispiel, mehrere Faktoren mit. Meistens hatte die Wirtschaft ihre Hand im Spiel, oder irgendwelche machthungrigen Politiker, Fanatiker oder einfach nur überhebliche Herrenrassenansprüche. Die Vergangenheit war ebenso zwiespältig zu betrachten wie die Gegenwart.

Als sie vor die Tür trat, salutierte sie nachlässig und ging hinter dem Leutnant her zu ihrem Labor.

Ergeben machte sie sich an die Arbeit und legte den ersten Stick des Tages ein. Es war nichts Neues zu finden. Nur eine Namensliste von Leuten, die in irgendwelchen Lagern eingesperrt waren und Listen mit Gegenständen, die requiriert worden waren. Eine Übersetzung wollte sie sich ersparen und beinahe hätte sie die Randnotiz übersehen. Da stand ganz unten in fein leserlichen, sehr kleinen Buchstaben: „Such im Archiv: Datenträger 00137.“ Sie traute ihren Augen nicht. Rieb einmal darüber und starrte wieder auf den Monitor. Es stand noch da. Also hatte sie es sich nicht eingebildet. Der Hinweis musste gelöscht werden. Also gab sie ihren Code ein und begann damit die Zeile zu entfernen.
„Was machst du da?“, fragte der ständig anwesende Leutnant.
„Ich korrigiere die Geschichte“, war ihre knappe Antwort. Das hatte sie in der Vergangenheit schon öfter gemacht, immer auf Befehl von oben, also hegte der Leutnant keinen Verdacht. Er konnte sie nicht einmal der Lüge bezichtigen, weil es die Wahrheit war.
Dann entfernte sie den Träger und sagte: „Ich brauche mehr Ruhe zum Arbeiten, Leutnant und dann einen neuen Stick, dieser hier ist fertig. Da war nicht viel zu übersetzen, hauptsächlich Namen und so. Sehr uninteressant.“
„Was meinst du mit Ruhe?“
„Ich will alleine hier sitzen und mir diese elenden Daten reinziehen. Es ist schon hart genug, das zu übersetzen und anzusehen, aber dann auch noch ständig ihre Anwesenheit im Rücken zu haben, macht es schier unerträglich. Hier herinnen bin ich Doktor Lindstrom und nicht einer Ihrer kleinen Untergebenen, da möchte ich das Sagen haben, solange ich arbeite. Wenn ich vor die Tür trete, bin ich gerne wieder bereit, die Gefreite zu sein, aber nicht hier mit der Geschichte. Oder wollen Sie das alles übersetzen? Ich bin sowieso in einigen Tagen fertig. Es fehlt nicht mehr viel. Dann wird das Labor geschlossen.“
„Na schön“, gab er nach einigem Überlegen nach. „Ich habe gesehen, dass du in den vergangenen Jahren hier wirklich gut gearbeitet hast, da kann ich dich jetzt allein lassen. Aber die Tür sperre ich ab und ich hole dich am Ende der Dienstzeit wieder.“
„Damit kann ich leben, Leutnant.“

Als sie endlich alleine war, rückte sie den Tisch um, damit sie das Kameraauge vor sich hatte und der Bildschirm nur von hinten zu sehen war. Dann holte sie den Stick mit der Nummer 00137 und schob ihn in das Abspielgerät. Es gab ein Rauschen und Flimmern, dann sah sie ihn und ihr stockte der Atem.
Er sah verändert aus, blasser, die Uniform trug dazu bei, dass er regelrecht mager wirkte.
„Agnes, wenn du das hier findest, bin ich entweder tot oder irgendwo verschollen. Dann werden sie dich hergeholt haben, um meine Arbeit fortzusetzen. Ich möchte, dass du dir die Geschichte genau ansiehst und Parallelen ziehst. Es läuft wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Ich werde versuchen so weit zurück zugehen, um den Anfang der Misere zu finden. Aber ich hege die Befürchtung, dass es keinen gibt und es sich einfach so entwickelt hat. Die Menschen sind von der natürlichen Neugier hin zur Raff- und Rachsucht gekommen. Je mehr sie entdeckten, desto mehr wollten sie haben und nie werden sie zufrieden sein. Ich hoffe, dass du an unsere gemeinsame Arbeit denkst und dich an die Dinge erinnerst, die wir erörterten. Agnes, mach ihnen das Leben zur Hölle, lass sie auflaufen an den Klippen ihrer eigenen Arroganz. Ich kann leider nicht deutlicher werden, aber ich weiß, dass du mich verstehst. Ich schicke dir das L-Wort von wo auch immer ich gerade bin.“ Damit war die Nachricht beendet. Wieder gab sie den Entsperrcode ein und löschte die Datei, dann warf sie den Stick zu Boden, stellte den Sessel darauf und zerdrückte ihn. Nun konnte keiner mehr etwas damit anfangen.

Sie legte einen Stick nach dem anderen ein und tat nur mehr so als würde sie arbeiten. Die Wahrheit interessierte hier keinen, also gab sie sich bei den letzten Dateien keine Mühe. Sie übersetzte oberflächlich und automatisch, ging einigen Querverweisen nach, die sich aber als wertlos erwiesen und stieß schließlich auf einen Namen, den sie kannte. Das machte sie stutzig. Sie fand eine Botschaft nach der anderen. War das Zufall? Oder hatte er alles geplant? Sainkoh Nikitina, stand am Rand eines Querverweises. Angestrengt überlegte sie, ob sie eine Frau mit diesem Namen kannte.
„Wenn du mal Hilfe brauchst, Agnes, dann geh zu Sainkoh, sie wird weiter wissen“, hatte Alex einmal gesagt, nachdem sie ihm von ihrer Angst berichtet hatte, einmal abgeholt und verschleppt zu werden. Ihm war es dann viel früher passiert. ‚Wo steckst du nur? Wohin haben dich diese Arschlöcher gesteckt?’, dachte sie verzweifelt.
‚Ich kann nicht zu Sainkoh gehen. Sie ist nicht hier, oder doch?’ Hier begannen sich ihre Gedanken wieder im Kreis zu drehen. Hilfe konnte sie von keinem erwarten. ‚Max? Aber ich glaube nicht, dass er aus seinem Schneckenhaus heraus will.’

Endlich wurde sie aus dem engen Labor entlassen. Müde grüßte sie den Offizier, bevor er sie zu den Unterkünften geleitete.
„Wie bist du voran gekommen?“
„Ich bin fertig und zwar im doppelten Sinn. Vierundzwanzig Stunden frei ist alles, was ich will, dann kann ich wieder arbeiten. Jetzt kommt das Modul dran, das ist verzwickter, als das andere. Bitte, Sir, nur einen Tag und eine Nacht.“ Sie klang genauso müde und verzweifelt wie sie sich fühlte. Der Leutnant schaute sie zum ersten Mal richtig an, die ganzen Monate, die letzten beiden Jahre, hatte er sie nie wirklich gesehen. Jetzt erkannte er, dass sie tatsächlich am Ende war.
„Morgen beginnst du mit dem Modul und dann werden wir weiter sehen“, sagte er etwas freundlicher. „Ich berichte dem Generalstab von deinen Fortschritten.“
„Danke, Sir.“ Mehr konnte sie nicht erwarten. Bis auf den Ausbruch am Morgen war sie immer ruhig gewesen und hatte sich an die Anweisungen gehalten, zwar etwas widerwillig, aber sie hatte funktioniert. Mehr wollten sie nicht von ihr. Mehr wurde von einer Lindstrom nicht erwartet – Haltung und Perfektion, arbeiten ohne zu murren.

Allein in der Unterkunft überlegte sie, wie und wo sie Hilfe bekommen könnte. Es gab jetzt keine Möglichkeit mehr, unbeaufsichtigt zu arbeiten. Am Modul würden Techniker dabei sein, die alles genau studieren wollten. Irgendwie musste sie dort Zeit schinden, sie hinhalten und für dumm verkaufen. Agnes ahnte, wo die Manipulation lag. Das lockte ihr ein befriedigtes Grinsen ins Gesicht. Wenn Alex das so schlau angestellt hatte, wie sie erwartete, dann konnte nicht einmal sie diesen Fehler beheben, denn dann wäre alles auf seine persönliche DNA, seinen Retinaabdruck und seine Stimme gespeichert. Niemand sonst hätte Zugang zu den Schaltkreisen, zu den Speicherdaten.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Mae beobachtete den Fremden. Er bemühte sich wirklich, war aber so sehr fremdartig, dass ihm sogar die einfachsten Handgriffe schwer fielen. Sie fragte sich, ob er nicht doch geistig etwas zurück geblieben war. Er konnte nicht einmal Feuer machen. Das einzige das er zusammen brachte, war Tiere häuten. Aber das war nun wirklich nicht sonderlich kompliziert, wenn man wusste, wo man den ersten Schnitt ansetzen musste. Wenn der richtig gesetzt war, zog sich der Balg fast von alleine ab. Man konnte ihn nur zum Holz sammeln und zum Wasser holen schicken, für alles andere war er zu unwissend.

Alex zog sich immer mehr zurück. Die Verständigung viel ihm schwer und er fürchtete diese freundlichen Leute zu beleidigen. Die Einzige, die sich mit ihm abgeben wollte, war Mae. Die Männer waren wieder auf Jagd, die jungen Frauen zogen täglich los um Kräuter, Samen, Wurzeln, Beeren oder ähnliches zu sammeln. So war er viel alleine. Mae leistete ihm ab und zu Gesellschaft.

Oft saßen sie schweigend beisammen und Alex fühlte immer mehr den Stachel der Einsamkeit. Dann kletterte er den Abhang hinauf, stellte sich an die Klippe und schrie seine Frustration in den Wind.

Zusammengekrümmt lag er, nur einen Handbreit, vor der Schlucht. Er heulte sich die Augen aus. So fremdartig hatte er sich nicht einmal bei den Eumeriern gefühlt.
„Niet! Das kann doch alles nicht wahr sein. Das gibt es nicht. Niet! Niet!“ Er hämmerte mit den Fäusten auf den Felsen, schluchzte und schrie. So fand ihn schließlich Mae.

Sie nahm ihn in die Arme und wiegte ihn tröstend. Dabei murmelte sie fremdartige Worte, die beruhigend wirkten. Dann wurde ihr Tonfall schärfer. Sie wies ihn an, ihr zu folgen.
„Aks! Geh mit! Ich glaube nicht, dass du dumm bist, du bist nur anders“, sagte sie. Er verstand nur seinen Namen und ihr Handzeichen. Also stand er auf und folgte ihr den Weg hinab zur Höhle.

Von diesem Tag an hatte er weniger Zeit, sich über seine Andersartigkeit Gedanken zu machen. Mae lehrte ihn ihre Sprache.
„Es ist wirklich an der Zeit, zu lernen, wie diese Menschen reden“, sagte er sich. Jeden Tag lernte er mehr. Er hatte keine Wahl, er musste.

Er sehnte die Zeit herbei, die er mit Mae alleine verbrachte. Bald konnte er sich verständlich machen und sie redete viel mit ihm, damit er in Übung blieb.
Besonders wenn er mit ihr und den alten Leuten allein war, hatte er das Gefühl doch dazu zu gehören. Aber wenn die jungen Leute von ihrer Tagesarbeit zurückkamen, fürchtete er, nur im Weg zu sein. Noch verstand er von den subtilen Zeichen und abstrakten Worten zuwenig. Abends wenn alle zusammen saßen, verzog er sich in seinen Winkel und beobachtete nur. Manchmal war er erstaunt über den Ausdrucksreichtum ihrer Gesten und Mimik. Die Sprache schien vielmehr aus Gesten zu bestehen, als aus Worten. Aber er verstand davon zuwenig. Damit musste man aufgewachsen sein. Als Erwachsener war es fast unmöglich zu lernen, die subtilen Zeichen richtig zu deuten oder auch nur passend einzusetzen. So wurde er häufig missverstanden. Ein freundliches Lächeln konnte fast zu einer handfesten Auseinandersetzung führen. Einmal hatte er dafür Schläge kassiert, jetzt vermied er tunlichst jedes Lächeln und war sehr sparsam mit den Gesten. Diese Leute waren kräftiger als er. Sie waren von der Natur mit mehr Muskelmasse versehen worden. Menschen einer späteren Zeit brauchten das nicht mehr, sie hatten ein effektiveres Gehirn entwickelt und nutzten mehr und bessere Werkzeuge.

Mae ging häufig mit den anderen in den Wald zum Sammeln, sie suchte Kräuter für ihren Vorrat. Dann war ihm langweilig. Die Alten redeten nicht mit ihm oder doch nur sehr wenig. Er saß für sich alleine auf dem Felsen und schnitzte. Zuhause hatte er das gerne gemacht. Hier war das Material ungewohnt. Die Messer aus Flint lagen scharf und unpraktisch in der Hand. Langsam gewöhnte er sich daran und er bekam sein erstes Stück fertig. Die Hände bluteten, weil er mit dem Messer, den Sticheln, Schabern und Keilen nicht richtig umgehen konnte, aber er war zufrieden als er fertig war und das Ergebnis betrachtete.
Aus einer alten Wurzel hatte er das Abbild eines Mammuts geschnitzt. Sorgfältig hütete er die Figur, noch wollte er sie keinem zeigen, nur Mae wusste davon. Er hatte einige Messer verbraucht. Der Werkzeugmacher, er wurde Groch genannt, war darüber nicht sehr erfreut. Groch war einer der Ältesten in der Sippe. Er schaffte die langen Jagdzüge der Männer und jungen Frauen nicht mehr. Also blieb er in der Höhle und verbrachte seine Zeit damit, aus den Steinen Messer, Stichel, Speerspitzen, Äxte und andere nützliche Gegenstände zu schaffen. Es war eine mühselige Aufgabe und es dauerte lange aus einem Stück Flint eine gute Spitze zu schlagen oder ein brauchbares Messer.

Alex beobachtete ihn oft. Eines Tages kam ihm die Idee, selber etwas Nützliches zu machen. Sehr zum Missvergnügen von Mae ging er allein in den Wald. Die Blätter verfärbten sich schon und kündeten vom Wechsel der Jahreszeiten. Der Wind wurde eisiger und die Jäger wurden sehnsüchtig zurück erwartet.
„Mae, ich gebe acht“, versprach er in seiner holprigen Sprache. Er hatte wirklich nicht die Absicht, etwas Unüberlegtes zu tun. Er suchte nur eine Idee und er wollte alleine sein. Mehrere Stunden wanderte er, ließ die Gedanken ziehen, weit zurück in die Vergangenheit – oder in die Zukunft. Es war eine Sache der Perspektive. Als Zeitreisender in einer fernen Vergangenheit gefangen zu sein, das wünschte er nicht einmal seinem schlimmsten Feind. Es war mehr als furchterregend. Nein, es war unfassbar! Gegen Mittag ließ er sich an einem Bachlauf nieder, trank von dem kühlen Wasser und kaute auf einem Stück Trockenobst. Hunger verspürte er keinen, aber er hatte es Mae versprochen. Wie er so am Bach saß, dachte er an den Kapitän und ihre letzten Worte bevor ihn Thomson hier abgesetzt hatte. Wieder sah er sie vor sich, wie sie in ihrer überheblichen Art von seinem Volk gesprochen hatte. Alex war sicher, dass die Samek bald nicht mehr existieren würden. Er war der letzte seines Volkes und sie wussten nichts davon. Oder war er der Anfang? Es war alles so verwirrend. Eigentlich dürfte es solche Situationen gar nicht geben.
„Zeitreisen sind gegen die Natur und gegen jede Vernunft“, erklärte er den Vögeln, die in den Zweigen über ihm zwitscherten. „Sie schaffen nur unwirkliche Situationen, die ein normaler Mensch nicht fassen kann. Ach, Scheiße, was mache ich hier? Ich bin unnützer als ein Säugling.“ Wieder umfasste ihn der Strudel der Unzulänglichkeit. Verstandesmäßig wusste er was ein Kulturschock ist, aber so richtig erlebt hatte er ihn erst hier.
Mittlerweile war er mehrere Monate bei der Sippe, und er fühlte die Fremdartigkeit nach wie vor. „Es wird schwerer werden, wenn die Männer vom Jagdzug zurückkommen“, prophezeite er den Steinen auf denen er stand. „Grah tötet mich, wenn ich unnütz oder gefährlich bin – und wenn ich unnütz bin, bin ich eine Gefahr für die Gruppe. Es ist hart genug für alle den Winter zu überstehen und wenn sie noch mich mitfüttern müssen, wird es umso härter werden. Ich muss mir was überlegen. Irgendwas. Nur was?“ Stundenlang quälte er sich durch den Wald und das Dickicht seiner Gedanken. Es war schon weit nach Mittag als er sich auf den Rückweg machte. Mit Schrecken stellte er fest, dass er weiter gewandert war, als er wollte und es die Zeit bis zum Dunkelwerden zuließ. Er beschleunigte seinen Schritt und lief. Da stolperte er über eine Unebenheit. Der Länge nach fiel er und blieb liegen.
„Alles habe ich diesen Menschen zu verdanken und ich kann ihnen nichts geben“, brüllte er, als er so am Boden lag. Am liebsten hätte er sich jetzt in das weiche Erdreich gegraben. Nur der Gedanke an Mae, die sich Sorgen machen würde, hielt ihn davon ab. Da fand er rein zufällig Saponaria. Hocherfreut pflückte er einige Blüten. Dann ging er wieder am Bachlauf entlang. Als er an einer Stauung ankam, beschloss er ein Bad zu nehmen. Er zog sich aus, auch die Felle hatte ihm Mae geschenkt, und stieg ins Wasser. Jetzt gedachte er dieses Seifenkraut zu testen. Er zerrieb die Blüten zwischen zwei Steinen und gab etwas Wasser dazu. Als sich Schaum bildete begann er sich abzuschrubben. „Endlich geht der ganze Dreck runter. Ich hasse es zu stinken“, sagte er dem Wind und dem Wasser. Als er das Gefühl hatte, dass er nun wirklich sauber war, stieg er heraus und kramte in seinen Sachen nach einem flachen Messer. Er hatte es zu seinem Schutz mitgenommen. Obwohl es zweifelhaft war, dass dieses Stück Stein ihm Schutz gewähren konnte, hatte es ihm ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Damit begann er nun im Blindflug den Bart abzuschaben. Es war mühsam und dauerte eine Ewigkeit. Glücklich fasste er sich an das haarlose Kinn. Tränen der Freude stiegen in ihm hoch. Dann genehmigte er sich noch ein Bad, rein aus Lust am Schwimmen.

Die ganze Zeit wähnte er sich unbeobachtet. Hier konnte er sein, wie er war. Ein Mann des fünften Jahrtausends. Er durfte er selbst sein, auch wenn er in einer fernen Vergangenheit einer fremden, furchterregenden Zukunft entgegensah. „Alex Smirnov“, sagte er dem Spiegelbild im Wasser. „Du bist Alex Smirnov. Vergiss dich nicht, Junge.“

Als es dämmerte machte er sich auf den Rückweg. Er hatte die Taschen voller Seifenkraut, war sauber und fühlte sich unerwartet gut. Unterwegs nahm er noch einige Äste für das abendliche Feuer mit, sodass er nicht mit gänzlich leeren Händen zurückkam.

Mae stand am Höhleneingang und starrte angestrengt in die zunehmende Finsternis. Die anderen fanden ihre Unruhe unbegründet und unnötig. Wenn sich der Fremde verirrte und starb, war das nicht ihr Problem – es löste eher eines. Bis jetzt hatte er sich als unbrauchbar erwiesen. Auch wenn er keine Gefahr für ihr unmittelbares Leben darstellte, wussten doch alle, dass im Winter jeder zu Fütternde einer zuviel war. Und der Fremde war einer zuviel. Doch Mae hatte ihr Urteil gesprochen und so fügten sie sich. Mae war die Mutter, die Weise. Sie wusste, wo die Herden zogen, welche Kräuter bei welchem Leiden halfen.
Mae konnte mit den Geistern reden.

Endlich sah sie ihn. Und sie war schockiert. Er war kahl im Gesicht.
„Aks!“, schrie sie. „Aks, was ist mit deinem Gesicht?“
„Nichts, nichts, Mae. Ich mich gewaschen und Haar weg. Gefunden.“ Er zeigte seinen Vorrat an Seifenkraut.
Mae betrachtete ihn ungläubig. Sie fasste ihm ins Gesicht. Noch nie hatte sie einen erwachsenen Mann ohne Bart gesehen. Er wirkte noch fremdartiger, aber nicht abstoßend und wie sie fand nicht unattraktiv.

‚Aks scheint sich ohne Haare wohl zu fühlen. Es steht ihm’, dachte sie und schluckte ihre zornige Rede hinunter. Sie war neugierig, was er für Kräuter mitgebracht hatte. Manchmal war sie erstaunt, dass er von Dingen wusste, die nur eine Mutter oder ein Schamane wissen konnte und von den einfachen Dingen des Lebens hatte er keinen Schimmer. Er blieb ihr ein Rätsel.
„Nicht nützlich“, sagte sie, als er es ihr zeigte.
„Doch, machen sauber, gut riechen“, erwiderte er. Dann holte er eine Schüssel Wasser, zwei Steine und zeigte ihr, wie man Seifenkraut verwendet. Mae hatte das in der Form noch nie gesehen und schaute interessiert zu. Sein Gesicht wirkte seltsam konzentriert, fast abwesend und in seinen Augen war ein Strahlen, das sie bei ihm noch nie gesehen hatte, wie er ihr die Anwendung zeigte und teilweise in seiner fremden Sprache redete.
‚Ich hatte recht ihn aufzunehmen. Woher weiß er das nur?’, dachte sie.

Alex blieb abends lieber für sich, zu groß war die Angst vor Zurückweisung. Wenn alle mit Essen fertig waren stand er auf und bat Mae um seinen Anteil. Manchmal war es mehr, meistens weniger, das machte ihm nicht mehr viel aus. Mit der Schüssel begab er sich dann an sein zugiges Feuer und aß für sich alleine, tief in Gedanken versunken. Er ahnte, dass er unter Depressionen litt, nur hatte er noch kein Kraut dagegen gefunden. Vielleicht ließ sich sein Leiden auch erst heilen, wenn er sich hier heimischer fühlte.
Wenn am Abend die Sonne unter ging spürte er die Einsamkeit tiefer und je früher sie unter ging, desto fester griff sie nach ihm.

Schlimmer wurde es als die Männer und jungen Frauen von der letzten Jagd des Jahres heimkehrten. Mae hatte bereits einen Abend zuvor ihre Ankunft prophezeit. Am Morgen wurde dann ein Kind auf den Felsen geschickt um Ausschau zu halten. Und tatsächlich gegen Abend kamen die Leute mit viel Fleisch in der Höhle an. Ein Teil davon war bereits getrocknet. Der Rest würde in den nächsten Tagen zum Dörren hergerichtet werden.

Grah war sehr zufrieden mit sich und den Jägern. Sie hatten reichlich Beute gemacht und es sah danach aus, als würden sie damit den Winter gut überstehen können. Dann fiel sein Blick auf Alex und sein Ausdruck wurde hart.
„Was? Der ist noch da?“, fragte er.
„Ja“, erwiderte Mae und sah ihrem Gefährten fest in die Augen. „Schön, dass du wieder da bist und ihr habt keine Verletzungen davon getragen und viel Beute gemacht. Ich freue mich für die ganze Sippe – du hast für unser Wohl gesorgt, Grah!“, sagte sie die Begrüßungsformel. Dann umarmte sie ihn und führte ihn an das große Feuer, wo schon ein Stück Fleisch briet.

Aber Alex verzog sich unter dem feindseligen Blick des Jagdführers in den letzten Winkel. Ganz nah an den Höhleneingang drückte er sich, raffte die Felle um sich und fühlte sich einsamer als je zuvor. Er wagte sich nicht ans Gemeinschaftsfeuer. Dort ging es lange lustig zu. Es wurde gefeiert, gelacht und gegessen. Alex wusste, dass er nach dem Gesetz des Clans hier keinerlei Rechte hatte. Wieder war er am Bodensatz der Gemeinschaft angelangt. Manchmal fühlte er den Blick der Mutter auf sich ruhen. Aber er tat als würde er schlafen. Das Mitleid in ihren Augen konnte er nicht ertragen. Sei schien ihm bis in die Seele zu blicken.

Gegen Morgen hielt er die Fröhlichkeit der anderen nicht mehr aus. Er dachte, sich unbemerkt aus der Höhe stehlen zu können. Aber Mae hatte ihn beobachtet.

Traurig schlich er hinaus und rannte dann hinauf auf den Felsen, der ihm Zuflucht geworden war, dort schrie er: „Warum nur hast du mich hierher geschickt? Was bringt es dir? Welche Befriedigung schafft es euch, verdammten Eumeriern, andere zu unterdrücken? Ich kann das nicht! Ich kann das nicht mehr aushalten! Niet, so nicht. So nicht.“ Weinend sank er zu Boden. So fand ihn wiederum Mae.
„Aks, komm. Aks! Alex“, sagte sie streng.
Er hob den Blick. Seine tränenverhangenen Augen zeigten ihm ein Bild der absoluten Schönheit. Mae. Seine Retterin.
„Alex, steh auf“, sagte sie wieder.
Er stand auf und wandte sich ihr zu, sah nur ihre ausgebreiteten Arme und warf sich in sie. Ganz fest drückte er sich an sie, küsste sie, immer heftiger. Dass sie seine Küsse erwiderte, bemerkte er nicht wirklich. Er küsste sie mit der Leidenschaft eines Ertrinkenden. Fühlte nur das Feuer der Einsamkeit, das er mit ihrer Gegenwart löschen konnte.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie einen Gefährten hatte und er ließ erschrocken von ihr. Wieder hatte er Angst gegen eines der Clangesetze verstoßen zu haben, wie schon öfter in den vergangenen Monaten. Als Kind hatte er gelernt, dass es schlecht war, was er jetzt getan hatte. Bei den Eumeriern war es sogar verboten den Partner eines anderen auch nur anzusehen und körperliche Berührungen waren ein Tabu.
Er rannte den Abhang weiter hinauf und ließ eine verwirrte Mae zurück. Doch diese verstand die Zeichen zu deuten. Nachdenklich ging sie den Weg zur Höhle zurück. Ihr Gefährte Grah war noch wach und unterhielt sich mit Groch über den vergangenen Jagdzug.
„Grah, wir müssen reden“, sagte sie einfach. Der bedeutete Groch sich zu entfernen und wandte seine Aufmerksamkeit der Gefährtin zu.
„In welcher Funktion willst du mit mir reden, Mae?“, fragte er.
„Ich weiß es nicht, Grah. Es ist wegen Alex. In den letzten Monaten habe ich ihn etwas kennen gelernt“, sagte sie einleitend.
„Willst du ihn in dein Bett einladen? Du weißt, dass du dir dein Vergnügen jederzeit holen kannst“, erwiderte er. „Ich halte es ja nicht anders.“
„Nein, das ist es nicht. Wenn es nur das wäre, gäbe es weniger Probleme.“ Sie machte eine nachdenkliche Pause. „Ich glaube, er ist so sehr fremd, dass er es nicht fassen kann. Er ist so voller Angst. Du weißt es nicht, aber ich hole ihn fast jeden Tag vom Felsen herunter. Dort oben kauert er und weiß nicht, ob er springen soll oder nicht. Dabei hätte er uns sicher vieles zu lehren. Er ist nicht dumm, nur glaube ich, haben ihm die Geister einen Streich gespielt.“ Dann holte sie das Mammut hervor, das er geschnitzt hatte. Grah war erstaunt. So ein schönes Schnitzwerk hatte er lange nicht gesehen. Es war so genau getroffen, dass man den Wind im Fell sehen konnte.
„Er hat das gemacht?“, fragte er, obwohl er die Antwort erahnte.
„Ja, Grah. Er hat das gemacht. Ich denke, er könnte mit den Geistern reden, nur ist er so voller Angst, dass er sich selbst nicht mehr sieht.“
„Ist das sein Name? Aks?“
„Ja, und ich möchte dich bitten, wenn du nicht zu erschöpft nach deiner langen Reise und der erfolgreichen Jagd bist, ob du nicht mit ihm reden kannst.“
„Warum? Ich sah ihn zuletzt am Höhleneingang. Er schien zu schlafen.“
„Nein, er ist hinausgelaufen, hinauf auf den Felsen.“
„Ich werde ihn für dich suchen, Gefährtin.“
„Ich danke dir, es liegt mir viel daran.“


Alex riss sich ernüchtert von Mae los. Er begehrte sie, mehr als jede Frau zuvor, aber sie hatte einen anderen Gefährten und in dieser Gesellschaft war er nichts. Deshalb entfernte er sich und lief den Weg weiter hinauf auf den Felsen. Tränen liefen seine Wangen hinab. Er hatte solche Angst wieder allein zu sein, abgeschnitten von ihr, jetzt wo ihr Gefährte wieder da war. Noch wusste er zuwenig über die Lebensweise des Clans. Unsicherheit und Angst vor Zurückweisung ließen ihn immer weiter laufen. Er lief und lief, bis ihm die Luft ausging. Sterne tanzten vor seinen Augen.
Er wollte der Gemeinschaft so wenig wie möglich zur Last fallen, deshalb aß er so wenig wie möglich und mit der Zeit wurde das Hungergefühl weniger. Nur der Hunger nach Zuneigung und Anerkennung nahm zu..
„Ich möchte doch nur ...“, schluchzte er in die Flechten unter sich. “Du hättest mich besser töten sollen! Verdammt seien eure Gesetze, nachdem es euch nicht mehr freisteht ein Todesurteil zu unterzeichnen!“, rief er dem Morgenrot zu.

Grah fand ihn so, schreiend, schluchzend. Aber er tat als bemerkte er ihn nicht. Er setzte sich einfach ein Stück entfernt auf einen Stein und redete seinerseits mit der Morgensonne.
„Ich verstehe zwar kein Wort, das der da spricht, aber ich bin auch zornig, wenn er es ist. Sonnenaufgang hörst du mich?“

Dann berichtete Grah von der Jagd. Wie erfolgreich sie gewesen waren und wie viel Fleisch sie hatten, dass es locker über den langen Winter reichen würde. Niemand müsste hungern, auch wenn die Sippe unerwartet gewachsen war. Er erzählte dem Morgen von dem sonderbaren Mann, der einfach vor ihre Höhle gefallen war und dem die Clanmutter sehr zugetan war, wie er von seinem Wissen teilte, ohne davon etwas zu ahnen, von der Rücksicht die er dem Clan gegenüber zeigte, indem er auf sein Essen verzichtete. Er erzählte von der Qual des Fremden, der sich hier nicht heimisch fühlen konnte, weil er so voller Angst und Zweifel war. Grah sagte viel, mehr als er wusste brachte er in dem Nichtgesagten unter.

Alex hörte stumm zu, konnte die Anerkennung in den Worten des Anführers nicht glauben, nicht fassen, dass er damit gemeint war. So weinte er umso mehr, weil er glaubte diese Worte nicht verdient zu haben. Zu oft in seinem Leben war ihm gesagt worden, dass er minderwertig war, unwert, ein Mensch zweiter oder dritter Klasse. Seit der Zeit auf der Universität war er als unwertes Lebewesen abgestempelt worden. Alles kam in den Worten Grah’s wieder hoch. Alex weinte um sein Leben, um die vergeudeten Momente, die nicht gesagten Worte. Wie gerne hätte er sich noch einmal von seinen Eltern verabschiedet.

Jetzt lag er hier im Pleistozän und wusste sich nicht zu helfen. Alle Schulbildung schien ihm unnütz, sein Leben war am Ende. So sah er sich – und der Abgrund lockte.

„Aber irgendwie Morgensonne, müssen wir den Mann davon überzeugen ein Mensch zu sein“, hörte er den Anführer weiterreden. „Mae glaubt er ist einer von uns, also glaube ich es auch. Mae ist die Mutter, sie weiß es.“

„Mutter!!“, rief nun Alex. „Mutter, komm doch zu mir! Hilf mir!“

Grah verstand nicht die Worte, aber den Sinn der dahinter stand. Rasch rannte er zur Höhle und holte Mae.
„Er braucht die Mutter oder eine Frau“, war alles was er sagte.

Mae fand den Verzweifelten am Abhang stehen. Noch immer rang er mit sich, wie beinahe jeden Tag.
„Alex, tu es nicht“, sagte sie. „Bleib bei uns. Sei einer von uns.“ Sanft berührte sie ihn an der Schulter. „Komm zu mir. Ich will dich.“
Alex stand still, wusste nicht, was er denken und glauben sollte, war doch sein Minderwertigkeitskomplex so tief verankert, dass er nicht so schnell daraus hervor konnte. Die wissenschaftliche Akribie mit der er stets gehandelt hatte, war sein Schutz vor Verletzungen gewesen. Jetzt begann dieser Panzer zu bröckeln und darunter kam der ganze Schmerz zum Vorschein.
„Alex, dreh dich bitte um und schau mich an.“
Langsam wandte er dem Abgrund den Rücken zu und versank in die feuchten, braunen Augen der Frau, die ihn vom ersten Augenblick angenommen hatte.
„O Mae!“, rief er. „Wenn du wüsstest! Aber du wirst es nie verstehen.“ Er sank an ihre Brust und hielt sich krampfhaft an ihr fest. In dem Moment war sie die Mutter für ihn, nicht mehr die Frau, in die er sich in den letzten Monaten verliebt hatte.
„Nein, ich werde es nie verstehen, Alex. Aber du kannst einer von uns werden.“ Bestimmt nahm sie sein Gesicht in die Hände, wischte die Tränen weg und blickte ihn fest an.
„Du kannst einer von uns sein, du musst es nur wollen.“
„Ja, Mae.“
Dann nahm sie ihn an der Hand und führte ihn in die Höhle.

Dort dachte Alex, er würde vor Schreck versteinern. Sein Platz am Höhleneingang war leer. Suchend blickte er sich um. Da sah er Grah winken.
„Dort ist es zu kalt“, sagte er einfach. „Und jetzt schlafen wir alle mal den Tag über und feiern am Abend. Heute gibt es frisches Fleisch. Es gibt einiges zu feiern, Leute. Schlaft wohl.“ Damit rollte sich der Anführer in die Felle und schnarchte.

Mae zog Alex lächelnd ans Feuer der Anführer. Er wusste nicht, wie ihm geschah, womit er diese Ehre verdient hatte, denn eine Ehre war es.
„Denk nicht an das was gewesen ist, Alex“, sagte sie und zog ihn zu sich heran. Doch Alex war noch so gefangen von sich widerstreitenden Gefühlen, dass er kaum denken konnte. „Alex, willst du mich nicht mehr?“
Das brachte ihn in die Gegenwart. Er sah Mae, die ihn erwartungsvoll anblickte, Grah, der zustimmend nickte und sich dann in seinen Fellen wieder umdrehte. Er verstand diese Kultur nicht. Hier war so vieles anders. Nur, daheim würde er sonst nirgends mehr sein. Das einzige Zuhause, das sich anbot war hier.

Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust und er nahm sie ganz fest in die Arme.
„Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich will“, flüsterte er.

Seit diesem Tag bin ich wieder ein Mensch. Der Clan hat mich vieles gelehrt.


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Das Grinsen in ihrem Gesicht wurde am nächsten Morgen noch breiter, als Agnes ihren Verdacht bestätigt fand. Es gab nirgends Aufzeichnungen über die Herstellung des Moduls. Sie hatten das ganz spontan ohne Plan zusammen gebastelt und einen irren Spaß dabei gehabt. Alles war ihrer Fantasie und einem großen Vertrauen zueinander entsprungen und der Liebe zum Leben. Alex war so voller Liebe gewesen, das stellte sie jetzt wieder fest. Die Administration hatte ihm deswegen das Leben ständig schwer gemacht. „Du warst wirklich der einzig anständige Mensch, den ich kennen gelernt habe, Alter“, sagte sie zur Maschine. Sie beachtete die Techniker nicht, die neugierig um sie standen.
„Wie soll uns wohl eine Historikerin helfen können? Das ist ein technisches Problem“, war der O-Ton der zukünftigen Kollegen. Damit hatte sie gerechnet. Aber die ständige Ablehnung ging ihr mittlerweile tief unter die Haut. Sie schnitt ihr ins Herz und begann an ihrem Selbstvertrauen zu nagen.
„Ich habe an dem Modul mitgebaut, also bin ich wohl genug qualifiziert, Herrschaften.“
Das nahm den Leuten den Wind aus den Segeln und sie mussten schweigend zu sehen, wie sie in den Mannschaftsraum des Moduls kroch und die Anzeigen studierte. Jetzt wusste sie auch, wo er abgeblieben war und sie wurde bleich vor Wut.
„Was ist los, Doktor?“, fragte einer der Techniker und steckte seinen Kopf zur Tür herein.
„Nichts, nichts. Ich hab nur gerade gesehen, wo die zuletzt waren.“
„Wo waren sie denn? Oder sollte ich eher fragen, wann waren sie hier?“
„Das ist gut, Sir. Wann waren sie … die perfekte Aussage. Sie denken wie ein Zeitreisender, oder jemand, der sich damit beschäftigen will. Sie waren im Pleistozän, dort muss auch der Konstrukteur verschollen sein.“
„Doktor?“
„Hm?“ Sie war mit den Gedanken in der Eiszeit. Weite Steppen, gefährliche Raubtiere und nur wenige Menschen, dazu kamen Kälte und stellenweise Wassermangel aufgrund des Eises und der Versteppung. „Alter Schwede“, murmelte sie, „wenn er da hingelangt ist, dann weiß ich auch nicht wie er das überleben soll und kann.“
„Was meinten Sie Doktor?“
Agnes kroch aus dem Modul und starrte den Mann an, der so respektvoll sprach. Er stand etwas abseits der anderen und in seinen Augen erkannte sie wissenschaftliche Neugier. Nur selten hatte sie dieses Leuchten bei jemandem gesehen. Einzig Alex hatte es gehabt und manchmal auch sie selbst.
„Wie heißen Sie?“, fragte sie deshalb und ignorierte die anderen Techniker.
„Erik Landmann“, sagte er knapp und reichte ihr die Hand.
Sie wandte sich an die übrigen Techniker und erklärte: „Ich habe einen Assistenten gefunden. Einer genügt. Sollte ich unerwartet doch mehr Hilfe benötigen, Sie sind ja nicht aus der Welt. Danke. Wenn Sie mich melden wollen, tun Sie sich keinen Zwang an und gehen Sie am besten gleich zum Generalstab, dann sparen Sie sich verschiedene Wege. Dort kennt man mich.“
Entrüstet begannen die Männer durcheinander zu reden, bevor sie schließlich doch abzogen, als sie erkennen mussten, dass sie nicht nachgeben würde.
„Ich bin Agnes. Wenn ich mit jemandem zusammen arbeite, dann sind wir per du, das vereinfacht so einiges.“
„Danke. Ja, es ist einfacher, wenn man nicht immer an Titel und Rang denken muss. Was hast du da drin entdeckt? Ich weiß, wo der Fehler liegt – zumindest denke ich es. Aber so wie es aussieht, werden wir den nicht beheben können.“
„Stimmt. Und ich erwarte von dir, dass wir uns mit der Entdeckung dieses Fehlers mindestens eine Woche Zeit lassen. Außerdem steht mir noch ein freier Tag zu. – Ich brauche frische Luft, gehen wir raus.“
Sie zog den Jüngeren am Ärmel aus dem Labor und hinaus auf freies Gelände. Der Wachoffizier am Tor hatte sie kurz aufzuhalten versucht, aber sie hatte überheblich gesagt: „Wenn wir Wissenschafter den ganzen Tag ohne Licht und Luft arbeiten müssen, steht uns das zumindest eine halbe Stunde am Tag zu. Wagen Sie nicht, uns aufzuhalten!“
Der Soldat hatte nur mehr gegrüßt und sie durchgelassen.
„Es hat wohl auch noch nie ein Korporal einen Gefreiten zuerst gegrüßt“, meinte Erik lachend, als sie auf einem freien Exerzierfeld standen.
„Und jetzt wird es ernst. Was denkst du, entdeckt zu haben?“ Agnes war neugierig, ob er richtig lag. Die Antwort kam prompt und ohne langes Zögern.
„Der Konstrukteur hat es dreifach gesichert. Stimme, Retina und DNA.“
„Wieso hast du das noch niemandem gesagt?“
„Weil ich ihn für ein Genie halte und sein Werk soll nicht missbraucht werden. Ich weiß, dass sie es falsch verwenden, wenn sie dahinter kommen.“
„Du bist anders als die anderen, Erik Landmann. Wer bist du?“
„Das gleiche könnte ich dich fragen. Aber du bist sicher Telepathin genug, um zu wissen, ob ich dich belüge.“
„Wenn du es noch nicht weißt, dann sage ich es dir gleich. Ich habe das Talent nicht.“
Erik schaute sie stumm an, dann fasste er einen Entschluss.
„Heute nach Dienstschluss werde ich dir etwas geben.“
Erstaunt und erschrocken zugleich schaute sie ihn an und entdeckte erst jetzt den Hauptmannstern. Schon war sie versucht ihre Haltung zu ändern und merkte, wie die rechte Hand an die Stirn wollte. Erik grinste als er die Bewegung bemerkte und meinte: „Lass das. Ich bin mehr Wissenschafter als Militär. Der Stern ist eher zufällig dahergekommen. Deshalb sind wohl auch die anderen Techniker etwas vorsichtig mir gegenüber. Ich bin Hauptmann und ein guter Telepath, das lässt alle etwas weniger laut erscheinen, sagen wir mal so. – Nach Dienstschluss, wenn wir fertig sind.“
Agnes war verblüfft. Sie hatte hier noch keinen Offizier getroffen, der so wenig diesem Bild entsprach wie Erik Landmann.
Als sie nichts erwiderte, fuhr er fort: „Und jetzt lass uns wieder reingehen, bevor die Wachhabenden noch auf dumme Ideen kommen.“

Als sie wieder vor dem Modul standen, wurde sich Agnes bewusst, dass sie das in jahrelanger Arbeit mit Alex geschaffen hatte, auch wenn es mehr seine Schöpfung war als ihre, empfand sie doch ein sonderbares Gefühl jetzt im Inneren zu sitzen. Alle Teile waren vertraut und riefen Erinnerungen an Gespräche wach.
„Du brauchst mir hier nicht alles zu erklären, Agnes. Ich will es nicht wissen“, sagte Erik schließlich. „Mich interessieren andere Dinge – aber das erst nach Dienstschluss.“
„In Ordnung. Aber irgendetwas müssen wir tun. Es ist erst Mittag.“
„Gut, dann machen wir jetzt Mittagspause, die steht uns jedenfalls zu.“
Es war das erste Mal seit langem, dass Agnes eine Pause machen durfte. Also folgte sie Erik in die Offiziersmesse.
„Da darf ich nicht hinein“, sagte sie vor dem Zugang. Aber Erik schob sie ungerührt weiter. „Das geht in Ordnung“, meinte er. Aber es ging nicht in Ordnung. Brüsk wurde sie des Raumes verwiesen. „Du da, du hast hier nichts verloren!“, brüllte ein Offizier. Zustimmendes Gemurmel erhob sich.
„Aber sie ist Wissenschafterin“, versuchte Erik zu vermitteln. „Dadurch hat sie einen anderen Status.“
„Hier zählt das nicht. Wir sind hier schließlich in der Offiziersmesse – raus mit ihr!“
Erik wollte gerade zu einer heftigen Erwiderung ansetzen, als Agnes schnell sagte: „Lass gut sein Erik, ich gehe wieder ins Labor. Ich bin das gewöhnt.“
„So sollte es nicht sein“, murmelte er zurück.
„Lass es einfach. Ich gehe.“
„Gut. Aber ich bring dir was mit. Es geht nicht, dass du nichts zu essen bekommst. Die Pause ist aus, bis du bei den anderen Speisesälen bist.“ Erik sah sie durchdringend an, dann ging er weiter. Er kochte vor Wut, dass ihn die Leute hier so brüskierten. Normalerweise sagte keiner etwas, wenn ein Offizier einen Gast mitbrachte. ‚Es ist immer das gleiche, wenn ich wo hinkomme’, dachte er bitter, besorgte sich seine Mahlzeit, für Agnes ließ er auch etwas richten. Es war weit weniger als er erhofft hatte. In der Offizierskantine wurde offenbar wieder einmal gespart.
So ausgesperrt war sich Agnes schon lange nicht mehr vorgekommen. Der Soldat am Eingang grinste sie hämisch an, als sie umkehrte und wieder zurück ins Labor ging. Frustriert setzte sie sich ins Modul und dachte an Alex.
Dann nahm sie das Bild, das sie ständig mit sich führte, aus der Jackentasche und redete zu ihm: „Alex, wie geht es dir, dort wo du jetzt bist? Es ist sicher saukalt, kälter als du es gewöhnt bist. Ach, es tut mir alles so leid.“
Sie legte sich im Sitz zurück, schloss die Augen und versuchte den knurrenden Magen nicht zu beachten. Seit dem Morgen des vergangenen Tages hatte sie nichts gegessen. Diese ständige Drängelei wegen der Übersetzungen und die gewonnenen Erkenntnisse, hatten ihr einen empfindlichen Magen beschert. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass Essen etwas war, das anderen passierte und ihr Verdauungssystem direkt mit den Augen verbunden war. Hatte sie grausame Tatsachen gefunden und übersetzt, dazu die Lügenmärchen, die sie erfinden musste, konnte sie nicht essen. Immerzu dachte sie an diese armen Menschen, die einfach nur aus einem fadenscheinigen Grund heraus abgeschlachtet worden waren. Noch jetzt trieb es ihr die Tränen aus den Augen, wenn sie an die Bilder der Kinder dachte, die in den sogenannten Heilanstalten auf ihre Tötung warteten. Es schnürte ihr die Kehle zu, hinderte sie daran weiter zu denken. Die offensichtlichen Lügen, die sie in den Krankenakten entdeckte und die Eltern hatten das alles für bare Münze genommen.
„Ein Leben war damals nur etwas wert, wenn es den Vorgaben des Regimes passte – so wie heute“, sagte sie leise und dachte noch weiter zurück in eine Zeit als es nur wenige Maschinen gab, als die Menschen noch viel von Hand erledigten, als es noch mehr Land als Menschen gab und wie die Menschen aus Europa Amerika besiedelten und die Ureinwohner massakrierten – sei es durch Krankheiten, die sie bewusst herbei führten, oder sie im Kugelhagel hinmetzelten. Dann dachte sie wieder nach vor. An die Kriege, die wegen Rohstoffen geführt worden waren. Bilder aus Afrika: Menschenmassen auf der Flucht vor der Dürre und verrückten habgierigen Kriminellen, die sich zum Herrscher machten. Müde, geschwächte und tote Körper neben dem Menschenzug – Leichenzug – lebende Leichen waren das. In jedem Zeitalter gab es solche Fluchtbewegungen. Alle Dokumente an die sie kommen konnte hatte sie übersetzt und nichts beschönigt, im Gegenteil, sie hatte das Leid der Menschen noch extra betont. Aber das würde nichts nützen. Die Administration hatte ihre Meinung und die deckte sich nicht mit ihrer.

„Irgendwann werden sie mich ebenso abservieren“, sagte sie zum Modul.
„Was ist los? Sieh mal, ich habe leider nur eine Kleinigkeit bekommen. Sie lassen keine Lebensmittel mehr aus. Wir scheinen wieder einmal auf einer Rationalisierungswelle dahin zu schwimmen. Ich hoffe, dir macht es nichts, dass ich nur Wasser bekommen habe. Aber alles andere schmeckt nicht gut, wenn es warm wird.“
„Ist schon in Ordnung, Erik“, antwortete sie müde. „Gib es mir herein, ich esse gleich hier.“
Erik kroch nun ebenfalls in das Modul und wartete bis Agnes fertig war. Sein Blick fiel immer wieder forschend auf sie. Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie hielt die Gedanken verschlossen, noch nie hatte er das bei einem Menschen ohne Talent so gefühlt. Er ahnte, dass mehr dahinter steckte und hoffte, sich nicht zu täuschen, das wäre fatal für ihn.
„Wann hattest du das letzte Mal frei?“, fragte er. Sie kam ihm so müde und ausgelaugt vor, zu müde um effektiv arbeiten zu können.
„Ich glaube, da war ich noch Lehrerin“, murmelte sie, beinahe unverständlich.
„Was? – Au!“ Er war aufgesprungen und hatte vergessen, dass das Modul niedrig gebaut war, und sich den Kopf an einer Kante angeschlagen. Smirnov war kleiner gewesen und sie hatten Material gespart. „Morgen hast du frei. Du brauchst mindestens einen freien Tag, sonst klappst du zusammen!“ Er stieg hinaus und ging zu einer Komm-Einrichtung. Agnes konnte nicht verstehen, was er sagte. Die Müdigkeit hatte sie jetzt voll im Griff. Bis zu der Pause hatte sie nicht gemerkt, wie erschöpft sie tatsächlich war. Sie vergrub den Kopf in den Händen und wurde von einem unterdrückten Schluchzen geschüttelt.
‚Es ist zuviel – zu viele Erinnerungen, zu viele Tote! Ich kann das nicht mehr. Behandelt mich doch wenigstens ab und zu wie einen Menschen.’
Ein zorniger Hauptmann kam zurück. Als er sie so zusammengesunken im Modul fand, weinend und am Ende ihrer Kraft, verpuffte der Ärger.
„Komm, Agnes, wir machen Schluss für heute“, sagte er sehr sanft.
„Alex?“, fragte sie „Sollen wir wirklich schon aufhören?“
„Ja, wir machen Feierabend. Du bist müde.“ Auf die falsche Anrede ging er nicht ein, er nahm sie einfach an der Hand und brachte sie weg.
Als sie schon auf den Weg zu den Unterkünften waren, wurde Agnes wach. Ihr Körper hatte zwar funktioniert, aber der Geist war weg gewesen.
„Wo gehen wir hin, Erik?“
„Schön, dass du mich wieder erkennst. Wir gehen jetzt zuerst in meine Unterkunft. Ich muss noch etwas regeln. Laut Personaleinteilung und Generalstab – ich weiß nicht, warum die sich da einmischen – bekommst du keinen freien Tag.“ Er hatte zornig gesprochen, dabei die Hände geballt.
„Was war denn?“ Noch immer war sie verwirrt und nicht ganz bei der Sache.
„Du warst völlig weggetreten, das war erschreckend. Was du dringend brauchst, ist Erholung und ich werde dafür sorgen. Es reicht jetzt. Ich will wissen, was da vorgeht.“ Noch immer war er erbost über die Vorgesetzten. ‚Diese Ignoranten, benutzen Menschen wie Dinge. Wenn sie nicht mehr funktionieren werden sie weggeworfen. Vielleicht habe ich jetzt endlich eine Chance etwas zu verändern’, waren seine Gedanken als er mit Agnes im Schlepptau zu seinem Quartier eilte.

Es dauerte nur wenige Minuten und er schob sie in ein beinahe luxuriös eingerichtetes Zimmer. „Du kannst dich hier ausruhen. Wenn du magst, kannst du auch duschen. Ich weiß, dass es in den Massenquartieren etwas kostet. Also, genieß das warme Wasser und dann legst du dich hin.“
Agnes war sprachlos. So gut war sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr behandelt worden. Tränen der Rührung stiegen ihr auf, als sie in der Dusche stand und das warme Wasser wie eine Liebkosung über die Haut floss. Danach wickelte sie sich in ein Handtuch und legte sich in Eriks Bett.
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Erik war unterdessen zum Kommandostab gefahren. Er wollte seinen Namen und seine Beziehungen spielen lassen. Da gab es Ungereimtheiten, denen er auf die Spur kommen wollte.
„John, alter Freund, kann ich heute eine Verbindung mit Sunflower bekommen?“
„Warum denn, Erik? Es ist nicht immer leicht mit der Zivilverwaltung.“
„Es ist dringend, John, und ich weiß, dass es schon spät ist.“
John sah ihn einige Minuten an, weil er Erik schon so lange kannte und er sich nie etwas zuschulden hatte kommen lassen gab er ihm eine Verbindung. „Du kannst die Kammer ganz hinten benutzen. Die Leitung ist frei.“
„Danke, John. Ich bin dir was schuldig.“
„Ach lass nur, Mann. Bleib weiter ein freundlicher Hauptmann, dann passt das für mich“, sagte er mit einem Zwinkern.

Erik ging zu dem ihm zugewiesenen Terminal und verband sich mit der CPU in Sunflower.
„CPU, hier Erik Landmann, Hauptmann und Telepath der ersten Klasse“, identifizierte er sich. „Informationen erbeten. Person: Agnes Lindstrom, Alter: 36 Jahre, Geschlecht: weiblich, militärischer Rang: Gefreite. Derzeitiger Aufenthaltsort: Zurick. Akademische Laufbahn und Verwandtschaftsverbindungen erbeten, sowie Verhaftungen und Notfallmaßnahmen.“
Es dauerte eine Weile, dann kam die Antwort direkt auf die Netzhaut: „Lindstrom Agnes, Doktor der Geschichte, akademische Laufbahn: studiert in Sunflower, Abschluss in Urgeschichte und neuer Geschichte, Doktorat anschließend Teamleiterin der Abteilung Theoretische Geschichtsforschung mit Doktor Alex Smirnov, Erbau des Zeitreisemoduls, mehrere Bücher zum Thema Zeitreisen und Altertumsforschung, später Notfallmaßnahme aufgrund der Weigerung die P1 zu nehmen, danach Lehramt in einer privaten Schule für Kinder von Militärangehörigen, wieder Notfallmaßnahme und Verhaftung, Deportation nach Zurick.“
„Danke CPU, gab es während der Verhaftung Untersuchungen?“
„Bitte spezifizieren Sie ‚Untersuchungen’.“
„Psychologische und physiologische.“
„Beides wurde bei der letzten Untersuchung gemacht, dabei wurden DNS-Proben und Eizellen entnommen.“
„Wozu? Wer war der behandelnde Arzt?“
„Geheimsache.“
„Na toll. Danke CPU. Sunflower ich melde mich ab.“

Erik löste die Verbindung. Seinen Zorn hatten die Informationen nicht kühlen können, sie hatten ihn noch geschürt. „Danke nochmals, John“, rief er, winkte kurz und lief hinaus. Er grübelte und dachte nach. Es ging ihm gegen den Strich, wenn ihm Informationen aufgrund einer ‚Geheimsache’ verweigert wurden. Wütend stapfte er zu seinem Fahrzeug und raste ins Quartier zurück.

Wütend wollte er die Tür zuschlagen, da bemerkte er Agnes, die nur in ein Badetuch gehüllt, auf dem Bett lag und schlief. So beherrschte er sich und schloss leise ab. Auf Zehenspitzen ging er hin und deckte sie zu, dann kramte er im Kasten nach Papier und Stift und begann eine Liste zu fertigen. Er schrieb alle Namen der Leute auf, die ihm einen Gefallen schuldig waren und vielleicht etwas wussten. Als er diese fertig hatte, es waren weniger Namen als er erwartet hatte, schrieb er auf, wen er außerhalb des Stützpunktes kannte. Das waren noch weniger. Auf einem Extrabogen notierte er: Alex, Agnes, Zeit, DNA-Proben, welcher Arzt und welches Projekt? Was wird erforscht? Geht es um Genmanipulation? Er schrieb alles auf, was ihm in den Sinn kam, so unsinnig es sich auf den ersten Blick auch las. Dann nahm er das Blatt, ging damit ins Badezimmer und verbrannte es. Es durften keine Spuren übrigbleiben. Die Asche spülte er in den Ausguss und dann goss er noch Chlor nach um wirklich alles zu vernichten.

Anschließend ging er in den Wohnschlafbereich und betrachtete nachdenklich die schlafende Frau. ‚Ich kann ihr vertrauen, hoffe ich. Ich muss es einfach wagen’, dachte er und wollte sich gerade umdrehen und sich selbst einen Schlafplatz richten, als sie erwachte. Sie drehte sich um, öffnete die Augen und wäre vor Schreck beinahe aus dem schmalen Bett gefallen.
„Entschuldige, dass ich hier einfach so eingeschlafen bin. Ich sollte wohl in meine Unterkunft gehen. Wie spät ist es eigentlich?“
„Zu spät. Wenn sie dich um diese Zeit draußen erwischen, bist du dran.“
„Aber wenn mich morgen früh der Leutnant beim Wecken nicht vorfindet bin ich auch dran.“ Sie klang jetzt verzweifelt. Auf irgendeine Art und Weise würde sie wieder einmal bestraft werden. Das Loch hing über ihr wie ein Damoklesschwert und sie dachte gerade intensiv an die Zeit der Einzelhaft.
„Nein, das werden sie nicht noch einmal machen können. Du hast gearbeitet. Ich kann es bezeugen. Jetzt bin ich dein Vorgesetzter, auch wenn du praktisch mehr von dem Modul verstehst als ich und die Untersuchung leitest.“
„Das ist alles so unsinnig.“
„Bleib liegen“, sagte er, als sie aufstehen wollte. „Du hast nichts an.“
„Tut mir leid. Ich wollte mich nach dem Duschen nur etwas ausruhen und bin dann eingeschlafen. Wo warst du?“
„Ich habe etwas nachgeprüft. Wusstest du, dass sie dir Eizellen entnommen haben und DNA-Proben? Weißt du noch, wer der Arzt auf der Medamb war?“
„Dieser verdammte Mistkerl!“, schrie sie, kaum dass er geendet hatte. „Natürlich kenne ich den. Wir waren zur selben Zeit an der Uni. Dieses Ekel! Frederik Hauser, was führst du im Schilde?“
Jetzt war sie doch aufgesprungen und lief im Zimmer herum. Die Müdigkeit war wie weggewischt. Erik hatte sich errötend umgedreht und starrte die Tür zum Badezimmer an, als wäre sie das Interessanteste, das er je gesehen hatte. „Ähm, Agnes, leg dich wieder hin oder zieh dir was an, bitte.“
„Oh“, machte sie nur und kroch wieder ins Bett.
Beide schwiegen eine Weile, jeder aus einem anderen Grund. Agnes musste erst verdauen, dass ohne ihr Wissen etwas aus ihr entnommen worden war und Erik brauchte dringend Ruhe um die Gedanken wieder in eine Reihe zu bringen. Es gab soviel zu bedenken und zu bereden und dann kamen da Gefühle, die er glaubte nicht zu haben, die kein Eumerier haben durfte. Er schluckte ein paar Mal bevor er das Schweigen brach.
„Agnes, ich wollte dir etwas geben. Aber ich weiß nicht, ob jetzt ein guter Zeitpunkt ist. Du bist sehr aufgeregt.“
„Ja, das stimmt. Obwohl aufgeregt würde ich nicht dazu sagen, ich koche vor Wut.“ Nur mühsam konnte sie sich beherrschen und liegen bleiben. Sie wollte ihn nicht noch einmal in Verlegenheit bringen.
„Aber ich möchte gerne wissen, was du mir geben willst.“
„Wenn du bereit bist, dann werde ich es auch sein. Einen Moment noch. Bleib einfach ruhig liegen und schließ die Augen. Ich werde dir nicht wehtun, sondern zu deinem Geist sprechen. Ich werde dir zeigen, was ich denke und wie du es selbst machen kannst.“
„Erik! Ich dachte das ist nicht möglich“, sagte sie und öffnete die Augen. Blanker Unglaube war darin zu sehen.
„Möglich ist es schon, mit meinem Talent. Aber es erfordert ein hohes Maß an Vertrauen. Ich vertraue dir. Die Frage ist nun, vertraust du mir? Du musst dich mir blindlings hingeben, sonst geht es nicht.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schaute er ihr direkt in die Augen.
„Puh, lass mich einen Moment nachdenken.“ Agnes war unsicher. Alex hatte sie blind vertraut, vom ersten Tag ihrer Zusammenarbeit. Dann dachte sie wieder an das gemeine Lied, das sie gedichtet hatte und wie sehr sie sich danach geschämt hatte und es noch immer tat. Wenn sie seine Anweisungen und seine Arbeit hier fortführen wollte, dann musste sie jemandem vertrauen auch auf die Gefahr hin, dass es ihr später Leid tun könnte. Sie war es Alex schuldig.
„Ich weiß, es ist ein Risiko, Agnes. Du kennst mich nicht und dennoch hast du darauf bestanden, mit mir alleine zu arbeiten. Warum, wenn du mir nicht schon vertraut hast?“
„Ja, aber das jetzt nüchtern zu überlegen und nicht einfach so aus dem Bauch heraus zu entscheiden, ist etwas anderes.“
„Dann überlege nicht lange, sondern handle nach deiner Intuition.“
Entschlossen atmete sie einige Male tief ein und aus bevor sie zustimmte.
„Was muss ich tun?“
„Leg dich entspannt hin und schließ die Augen. Ich werde dich führen.“

Sie schloss die Augen, hatte kurz den Eindruck als würde sie gleich wieder einschlafen und dann fühlte sie die Berührung. Es tat nicht weh aber es war eigenartig, so als würde sie jemand an einer intimen Stelle ganz leicht anfassen. Sie merkte wie sie schluckte und entspannte sich bewusst. „Vertrau mir, ich werde dir nichts tun“, flüsterte er, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Dann sah sie ihn. Die Familie Landmann und ihren Stolz auf ihre Herkunft, den ältesten Sohn, der sich nicht um den Namen scherte, sondern lieber an Fahrzeugen schraubte und auch mehr Talent dazu hatte als zum Offizier. Trotzdem folgte er den Anweisungen und absolvierte die Akademie. Aber in ihm keimte schon lange Widerstand. Heimlich hatte er P1 abgesetzt und tat nur noch so als würde er sie nehmen.
Dann zeigte er ihr seine Befürchtungen was die Maschine anging. Agnes keuchte auf vor Schreck. Es war genau das Bild, das sie in sich trug. Während sie diese Befürchtungen teilten, stiegen Erinnerungen auf, die Bilder der Vergangenheit. Daran wollte sie nicht denken. Sie konnte es nicht mehr zurückhalten. Bald fühlte sie Tränen über die Wangen laufen. Es hatte in den letzten dreitausend Jahren so viel Elend und Unterdrückung, Folter und politische Morde gegeben. Agnes sah jedes Bild, das sie in den Archiven gefunden hatte und Erik sah es mit ihr. Seine Hand verkrampfte sich und sie fühlte die Fingernägel tief ins Handgelenk schneiden.
„Aus!“, rief sie als sie das Gefühl hatte, nicht mehr zu können.
„Ja, aus“, flüsterte Erik und ließ los. Beide atmeten schwer und Schweiß stand ihnen auf der Stirn. „Danke für dein Vertrauen. Hast du mir die Vergangenheit gezeigt?“
„Ja, alles, was ich in den Archiven fand. Aber ich habe es nicht bewusst getan. Sie waren einfach da.“
„Ist schon gut. Wie geht es dir?“
„Müde.“
„Dann schlaf jetzt. Wir reden morgen früh darüber, oder besser heute Abend. In zwei Stunden geht die Sonne auf.“
„Was ist mir dir? Du solltest dich auch ausruhen und ich blockiere dein Bett.“
„Schlafen, Gefreite, das ist ein Befehl, kümmern Sie sich nicht um den Hauptmann.“
„Wie du meinst.“ Kurze Zeit später waren nur mehr leise Atemgeräusche von ihr zu vernehmen. Erik ging zum Fenster und riss es auf. Er brauchte Luft, dringend. Die Bilder, diese verfluchten Erinnerungen, hatten sich in ihn gebrannt. Sie waren so real gewesen – irgendwann einmal waren sie das auch – aber gerade so, als wäre das gestern erst geschehen. Vielleicht war es ja auch erst gestern? Wer weiß schon wie Zeit funktioniert?

Er stand am Fenster, ließ die kalte Morgenluft rein und fragte sich, warum er soviel von ihr gesehen hatte. Es waren mehr als nur die Archivbilder gewesen. Das wollte er alles nicht wissen und es beschäftigte ihn trotzdem. Von nun an musste er vorsichtiger mit seinen Gedanken umgehen. Die Gefahr einer unbewussten Weiterleitung dieser ungebetenen Betrachtung war einfach zu groß. ‚Sie kennt ebenfalls einige Leute auf der Liste.’ Entschlossen drehte er sich um und verbrannte auch dieses Papier. Dann duschte er ausgiebig, zog sich um und weckte Agnes.
„Komm, wir müssen los. Wenn wir jetzt schon im Labor sind, kann dir keiner was anhaben. Ich warte draußen bis du fertig bist.“

Sie waren bereits an der Arbeit, als ein zorniger Leutnant das Labor stürmte. Knapp und zackig grüßte er den Hauptmann, dann legte los: „Gefreite! Komm raus da! Was soll das? Du warst die letzte Nacht nicht in deinem Quartier! So wird das nichts mit deinem freien Tag! Gefreite, komm jetzt da raus!“
Agnes rührte sich nicht. Sie war wie versteinert. Es war das eingetroffen das sie gefürchtet hatte. Sie blieb wo sie war und bekam deshalb nicht mit, was außerhalb des Moduls vor sich ging.
Erik baute sich vor dem Leutnant auf und schaute ihn nur an, bis diesem unbehaglich wurde.
„Leutnant, wenn Sie sich meiner Untergebenen gegenüber nicht mäßigen, wird das Folgen haben. Wir haben die Nacht durchgearbeitet. Sie können das einfach nachprüfen, sollten Sie mir nicht glauben schenken.“ Er hatte ganz ruhig und beherrscht gesprochen, darunter lag aber eine große Kraft und Willensstärke.
Es war ein Kampf, den Erik ohne große Anstrengung gewann. Der andere war ihm an geistigen Fähigkeiten weit unterlegen und von Rang sowieso.
„Na schön. Aber das nächste Mal sagen Sie mir Bescheid. Ich bin für sie verantwortlich“, brummte er schließlich.
„Diese Verantwortung können Sie gerne an mich abgeben. Wir werden mit Sicherheit die eine oder andere Nacht durcharbeiten. Hier muss endlich was weiter gehen.“ Während er sprach warf er einen Blick auf das Modul. „Ich kläre das mit Ihren Vorgesetzten. Sie können wegtreten.“
Dem Leutnant blieb nichts weiter übrig als sich zurück zu ziehen.
Erik wartete einige Minuten, dann sagte er: „Du kannst rauskommen, er ist weg. Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich darum kümmern werde.“
Agnes steckte noch immer in ihrer Erstarrung und in einer Gedankenendlosschleife, in der sich alles um Einzelhaft und Gedankenkontrolle drehte. Als sie nicht reagierte, stieg Erik ein und berührte sie am Bein, es war das einzige, das er erreichen konnte.
„Lasst mich doch endlich einmal in Ruhe!“, rief sie erschrocken. „Ich will doch nur in Ruhe gelassen werden.“ Ihre Stimme wurde immer leiser, während sie fortfuhr: „Wieder ich sein. Ich will einfach nur sein dürfen. Was habt ihr nur alle gegen mich? Ich habe keinem was getan. Ich wollte nur in Ruhe meinen Forschungen nachgehen.“ Ihre Stimme ging in Schluchzen über.
Erik war erschüttert über den Ausbruch von Verzweiflung und Einsamkeit. Er hatte es in der Nacht schon gefühlt, aber nicht in diesem Ausmaß.
„Komm her, Agnes. Ich habe nichts gegen dich“, das wiederholt er mehrmals, bis sie den Kopf hob und sich ihm zuwandte.
„Erik? Bist du das? Ich kann nichts mehr erkennen.“
„Ja, ich bin es. Soll ich … soll ich dich halten?“, fragte er zögernd. Es war etwas, das in Eumeria nicht selbstverständlich war.
Agnes drehte sich um und sank schluchzend in seine Arme. Beide wussten nicht so recht, wohin mit den Händen. Aber für Agnes war es genug, die Anwesenheit eines freundlichen Menschen zu spüren. So verharrten sie mehrere Minuten bis sie sich wieder völlig beruhigt hatte. Sie schniefte kurz und sagte dann: „Entschuldige Erik. Ich bringe dich nur in Verlegenheit.“
„Nein, das tust du nicht. Wir müssen uns jetzt überlegen, was wir mit dem Geniestreich hier anfangen. Wie lange schätzt du, können wir sie hinhalten? Die anderen Techniker werden neugierig werden und zu fragen beginnen, sollten wir zu lange mit irgendwelchen Ergebnissen warten.“
Diese nüchterne Feststellung hatte sie wieder in die Realität gebracht. Sie einigten sich darauf, einige wichtige Teile auszubauen und sie heimlich zu vernichten. Das nahm mehrere Tage in Anspruch. Jeden Tag musste Erik dem General Bericht über die Fortschritte und das Benehmen der Gefreiten erstatten. Diese ständige Kontrolle nervte ihn und es kostete ihn täglich immense Energiemengen, sein Gedankenkonstrukt aufrecht zu erhalten. Die lesbaren Gedanken hatte er sich mühsam zu recht gelegt, es war ein Gespinst aus Lüge und Wahrheit, dabei musste er noch ehrlich wirken und die Mauer um die Wahrheit geschlossen halten.

Im Labor hatten sie sich Feldbetten aufstellen lassen und eine Ordonanz brachte ihnen das Essen. Es war so vom General angeordnet worden, nach dem sich Erik beschwert hatte, weil Agnes soviel Zeit beim täglichen Marsch in ihr Quartier verlor. So hatte er sich wenigstens in diesem Punkt durchgesetzt.

Sie bauten gerade eine Chipkarte aus als das Komm-Gerät zu rauschen begann. „Hauptmann Landmann wird zum Rapport gebeten“, sagte die Computerstimme.
„Ich war erst heute früh bei ihm. Was mag er nur wollen?“, grübelte er. Es gab seitdem keine neuen Erkenntnisse.
„Ruh dich in der Zwischenzeit aus, ich geh am besten gleich.“
„Ich habe kein gutes Gefühl, Erik.“

Agnes wanderte ziellos im Labor herum. Sie nahm hier einen Gegenstand auf und legte ihn an einer anderen Stelle wieder ab. Dann sortierte sie die Werkzeuge neu und kroch schließlich in das Modul. Normalerweise machte sie sich keine Gedanken, wenn Erik zum Rapport gerufen wurde, diesmal war es anders.

Erik fuhr so schnell es ging zum Hauptgebäude und meldete sich beim General.
„Hauptmann Landmann meldet sich wie befohlen zum Rapport, Sir!“
„Rühren, Landmann.“ Der General blickte auf und nickte ihm kurz zu. Die Landmanns waren eine alte, ehrbare Familie und über jeden Verdacht erhaben. Dennoch hatte der General den Eindruck, dass im Forschungslabor nicht alles so lief, wie es sollte.
„Ab morgen wird das gesamte Team mitarbeiten. Sie sind zu langsam. Ich brauche Ergebnisse und zwar so schnell es geht.“
„Ja, Sir. Obwohl ich nicht sehe, was sieben oder acht Ingenieure machen können, wenn jeweils nur einer am Modul arbeiten kann. Aber ich würde es nicht wagen, Ihrem Befehl nicht nach zu kommen, Sir. Wer wird das Kommando übernehmen?“ Er hielt den Atem an und hoffte, dass er der Teamleiter sein würde.
„Bis auf Widerruf werden Sie das Kommando haben. Aber ich behalte Sie im Auge. Wenn in absehbarer Zeit keine Ergebnisse bei mir eintreffen, dann bekommen Sie Probleme.“
„Ja, Sir!“ Erleichtert atmete er aus. Der General deutete das als Freude über das Kommando und entließ den Untergebenen.
Bevor er das Büro verließ, räusperte er sich und fragte in unterwürfigem Ton: „General, Sir. Ich habe eine große Bitte. Die Gefreite Lindstrom und ich, wir arbeiten seit Monaten beinahe Tag und Nacht, da wollte ich um ein oder zwei freie Tage bitten. Jetzt, wo sie in Sunflower die Raritätenshow neu bestückt haben.“
„Wenn die anderen jetzt übernehmen, spricht nichts dagegen. Die Raritätenshow ist sehenswert. Und Sie übernehmen die Verantwortung für die Gefreite! Wann wollen Sie fliegen?“
„Ich dachte in zwei Tagen. Bis dahin sind die neuen Ingenieure eingearbeitet und ich konnte sie einweisen.“
„Gut, Hauptmann. Sie bekommen zwei freie Tage. In drei Tagen haben Sie einen Flug. Und jetzt weggetreten.“
„Ja, Sir. Danke Sir.“

Erik eile ins Labor zurück und berichtete was vorgefallen war.
„Was ist da Neues im Raritätenkabinett?“
„Ich habe es vorhin gehört und beschlossen, dass wir handeln müssen. Sie haben die letzten Samek ausgestellt. Die Familie Nikitin haben sie hergeschleppt“, sagte er matt und ließ sich auf das Feldbett fallen.
„Nein. Nein, das kann nicht sein. Sag, dass das nicht wahr ist. Bitte, Erik, das kann nicht sein“, bettelte sie und wusste doch, dass es so war.
„In drei Tagen fliegen wir hin und unternehmen etwas. So kann man nicht mit Menschen umgehen. Agnes, bist du dabei?“
Sie war so wütend, dass sie nicht hörte was er sagte. „Du willst sie begaffen, sie anstarren und demütigen. Wie kannst du nur?“
„Agnes! Agnes, wach auf! Hör zu was ich sage.“ Er schüttelte sie und sie schaute ihn erstaunt aus tränenverschleierten Augen an. „Beruhige dich. Ich bin doch der gleichen Meinung wie du. Aber zuerst müssen wir hier alles auf die Reihe bekommen. Morgen treffen die anderen Ingenieure und Techniker wieder ein. Ich muss mir für die noch was überlegen und du baust jetzt die restlichen gefährlichen Teile aus, aber flott, Gefreite. An die Arbeit!“
Vor Verlegenheit wurde Agnes rot. „Du hast recht. Es tut mir leid, Erik. Ich mach jetzt weiter. Wir müssen es völlig unbrauchbar machen.“ Entschlossen kroch sie wieder unter das Armaturenbrett und begann damit die wichtigen Platinen auszubauen. Innerlich kochte sie aber vor Wut. So etwas durfte es nicht mehr geben. In alten Aufzeichnungen aus dem Ende des ersten Jahrtausends hatte sie gelesen, dass die Europäer Menschen mit anderer Hautfarbe ausgestellt und nach ihrem Tod präpariert hatten, damit sie weiter bestaunt werden konnten. Sie ekelte sich in Erinnerung an die gemalten Bilder dieser armen, benutzten, aus ihren Heimen gerissenen Menschen. ‚Wie kann man jemanden nur so etwas antun?’, fragte sie sich während sie Schraube um Schraube löste und mit Säure über die Platinen pinselte. Als diese unbrauchbar geworden waren, setzte sie sie wieder ein und machte weiter. Es dauerte fast bis zum Morgen, dann hatte sie es geschafft und das Modul konnte mit Sicherheit kein einziges System mehr starten.
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Müde und mit steifem Rücken kroch sie hervor und fand sich alleine im Labor wieder. Plötzlich durchfuhr sie Angst. Alles schien so verlassen und still. Während sie gearbeitet hatte, war es ihr nicht aufgefallen. Jetzt fragte sie sich, wo Erik wohl hingegangen war.
„Erik? Hauptmann, Sir!“, rief sie ängstlich. Aber sie bekam keine Antwort.
Durch ein Fenster konnte sie sehen, dass die Sonne bereits aufging und die ersten Techniker trafen ein. Feindselig blickten sie auf Agnes, bis diese ordnungsgemäße Haltung annahm und salutierte. Es wurde von ihr verlangt, auch wenn sie die Expertin war. So stand sie stramm und wartete auf den Befehl zum Rühren, der nicht kam. Erik brüllte als er eintraf: „Gefreite, rühren! – Ah, die Kollegen sind eingetroffen. Sehr schön. Wir haben schon einiges herausgefunden, aber wir würden uns über Ihre Mithilfe jetzt sehr freuen, weil wir auch mal einen freien Tag brauchen.“ Dann wandte er sich an Agnes: „Gefreite, du kannst dich jetzt ausruhen. Hier, nimm meine Schlüssel und geh in mein Quartier, dort hast du Ruhe. Wir sehen uns in fünf Stunden wieder.“ Damit war Agnes entlassen.
„Danke Sir. Aber ich brauche eine Erlaubnis von Ihnen, damit ich in Ihr Quartier komme.“
„Alles ist geregelt.“
So froh war sie schon lange nicht mehr gewesen. Sie durfte in einem richtigen Bett schlafen und sie konnte duschen. Erik hatte ihr noch gedanklich eine warme Mahlzeit zugesichert, die in seinem Quartier auf sie wartete. Auch darauf freute sie sich. Das war ein Luxus, den sie schon lange entbehren hatte müssen.
Noch einmal nahm sie Haltung an und hob die Hand zum Gruß, dann ging sie.

Erik wies die Techniker nun in das Modul ein und berichtete über alle Entdeckungen, die sie während der letzten Monate gemacht hatten. Er war sehr erfindungsreich, was diese Enthüllungen anging, aber er vermied Übertreibungen.
Verschiedentlich waren „Aha“ und „Mhm“ zu hören, aber ansonsten enthielten sich die Kollegen vorerst eines Kommentars. Erst als er geendet hatte, begannen sie durcheinander zu reden und Theorien aufzustellen.
„Ruhe!“, befahl Erik. „Damit das klar ist. Ich leite diese Aktion hier, das heißt keine Alleingänge von Ihrer Seite. Jedes Teil, das jemand ausbaut, bekomme ich zur Ansicht oder Doktor Lindstrom, die das Ding ja mit gebaut hat. Noch Fragen? Nein? Dann werde ich mich jetzt auch mal zur Ruhe begeben. Ich habe die letzten vierundzwanzig Stunden durchgearbeitet. Wenn etwas ist, dann rufen Sie mich über Komm. An die Arbeit!“
Damit drehte er sich um und verließ in sehr strammer Haltung das Labor. Fünf verblüffte Techniker und Ingenieure blieben zurück und begannen sofort ihre Theorien zu erörtern. Damit hatte Erik gerechnet. So schnell würde von denen keiner am Modul zu schrauben beginnen.

Nach einer ausgiebigen Dusche und einem sehr guten Abendessen schlief Agnes rasch ein. Ihre Sorgen hatte sie in den Hintergrund gedrängt. Es wäre niemandem geholfen, wenn sie vor Müdigkeit einging.
Erik trat leise ein und betrachtete sie. Sie tat ihm unendlich leid in ihrer Einsamkeit. Noch nie hatte er so einen verlorenen Menschen wie sie getroffen. Außer sich selbst und Agnes kannte er keinen der unter dieser Art der Einsamkeit litt. Ein Leiden war es, das war ihm bewusst geworden, als er seine Gedanken mit ihren verband. Entschlossen schob er diese Gedanken weg und richtete sich ein Lager auf dem Boden. Es war hart und unbequem aber er war so müde, dass es ihm nichts ausmachte. Vorher aß er die Reste vom Frühstück, das eigentlich das gestrige Abendessen gewesen war. Die Ordonanz hatte den Befehl tadellos ausgeführt. ‚Ich muss ihn noch loben’, dachte er und schlief ein.

Agnes träumte von Alex, der verloren in einer weiten, kalten Steppe wanderte, verzweifelt nach Wasser suchte und schließlich von einem Rudel Hyänen zerrissen wurde. Dann träumte sie von der letzten Samek-Familie, die gesichtslos blieb. Hinter Gitter standen sie und wurden von den Zuschauern begafft. Auch sie stand dort und zeigte auf die Menschen und machte sich lustig über sie. Durch einen lauten Schrei erwachte sie. Zitternd saß sie im Bett und konnte sich nicht orientieren. Erik saß an ihrer Seite und war sich unsicher was er tun sollte. „Halt mich“, sagte sie schließlich leise. „Bitte.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nahm er sie in den Arm, diesmal fester und fast selbstverständlich.
„Danke“, murmelte sie an seiner Schulter und ließ sich wieder ins Bett sinken. Erik legte sich an ihre Seite und so aneinandergeschmiegt und sich haltend schliefen sie wieder ein. Wenn sie jemand so gefunden hätte, wären beide in große Schwierigkeiten geraten. Die Administration war sehr hart, was Berührungen anging. Es durfte sich höchstens die Hand gereicht werden. Zwischen Ehepartnern war das etwas lockerer. Aber Kinder wurden im Labor gezeugt. Jemanden ein Kind der Natur zu nennen, war eine Beleidigung und kaum mit etwas zu überbieten. Nur jemand der im Labor erzeugt worden war, war wirklich ein Mensch, ein genetisch einwandfrei erzeugtes Produkt, das dann einer Gebärfrau eingepflanzt und nach der Geburt den Spendern übergeben wurde. So funktionierte alles reibungslos. Die einflussreichen, wichtigen Leute hatten die Kinder, die sie sich wünschten und alle anderen hatten eine gut bezahlte Arbeit und auch irgendwann einmal ein Kind, das stand jedem Paar in Eumeria zu. Ein Kind wurde vom Labor bezahlt, musste aber von der Spenderin selbst ausgetragen werden.

Drei Tage später saßen sie im Flugzeug nach Sunflower. Sie redeten kaum miteinander. Beiden war es noch immer peinlich, dass sie Arm in Arm eingeschlafen waren.
Ein leerer Mannschaftstransporter brachte sie zur Basis in der Hauptstadt. Der Flug dauerte nur eine Stunde, aber Agnes kam er wie eine Ewigkeit vor. Das Schweigen zog sich in die Länge und machte es noch kälter als es ohnehin schon war. Nur wegen ihnen heizten sie das Flugzeug nicht, so zitterte Agnes und wusste nicht, ob sie vor Kälte, unterdrücktem Zorn oder vor Scham bebte.
Erst nach der Landung sagte Erik: „Bin ich froh, dass wir hier sind. Als erstes müssen wir uns zivile Kleidung besorgen. So fallen wir zu sehr auf.“
„Ich habe doch nichts mehr“, entgegnete sie.
„Wir müssen uns etwas kaufen. Ich habe ein wenig Geld, das muss reichen für unser Vorhaben. Weißt du, wo man hier einkaufen kann? Das müssen wir zuerst erledigen, dann gehen wir in die Ausstellung.“
Agnes dachte darüber nach. Dann stimmte sie, wenn auch widerwillig zu. Erik hatte Recht, wenn sie in Uniform dort hin gingen, würde man sich auf jeden Fall an sie erinnern.
In der Innenstadt kleideten sie sich günstig ein und fuhren dann in den Außenbezirk zur Raritätenshow.

Für beide war der Anblick deprimierend. Was hier so alles präsentiert wurde, war einfach nur erschreckend. Verängstigte Menschen eingepfercht und zur Schau gestellt wie Vieh. Da waren Menschen mit Behinderungen dazwischen standen Tiere herum und dann die Familie Nikitin. Agnes ging ganz nahe ans Gitter und flüsterte: „Wir holen euch da raus. Irgendwie werden wir es schaffen. Ich verspreche es.“
Die Älteste trat vor und flüsterte: „Mädchen, wie willst du das schaffen? Wir sind hier eingesperrt und gut bewacht. Hier werden wir sterben und niemand wird es ändern können.“
„Doch, wir werden euch helfen.“ Agnes hatte sehr bestimmt gesprochen und mehr Sicherheit in die Worte gelegt als sie selbst fühlte.
„Geh, bevor die Wachen auf dich aufmerksam werden.“
„Agnes, sie hat recht, komm“, sagte jetzt auch Erik. Er wagte nicht, sie in der Öffentlichkeit zu berühren. Am liebsten hätte er sie gepackt und fortgezerrt.
„Ich habe gesehen, was ich wollte, jetzt gehen wir, aber schnell. Komm endlich und wisch dir die Tränen fort. Du machst uns verdächtig.“
Jetzt sah auch Agnes den in grün gekleideten Parkwächter auf sie zukommen. Schon von Weitem rief er: „Gnädigste, haben Se irgendwelche Probleme?“
Agnes fühlte wie ihr der Schweiß ausbrach, hastig überlegte sie eine passende Antwort, aber ihr wollte nichts einfallen, so starrte sie nur etwas dümmlich in der Gegend rum. Da rettete sie der Zufall. Den Weg weiter zurück, ging eine Familie und der Junge fing an, mit Stöcken gegen das Gitter zu schlagen und Steine ins Gehege zu werfen. Als der Parkwächter das sah, ließ er Agnes links liegen und begab sich zu den anderen Leuten. Lautstark schimpfte er mit dem Kind.

Agnes wandte sich noch einmal an die Nikitins, aber diese hatten sich zurückgezogen, als der Wachmann erschienen war. Sie kämpfte sich aus dem Trauerloch und folgte Erik, der bereits weitergegangen war.
„Tut mir leid, ich konnte nicht anders“, sagte sie, als sie ihn eingeholt hatte.
„Wir müssen nüchtern überlegen, sonst gehen wir alle drauf dabei. Ich habe gesehen was ich wollte. Lass uns hier noch ein Weilchen marschieren und dann kehren wir um. Wir müssen sie informieren.“
Erik schritt forsch aus, nur schwer gelang es ihm seine Gefühle beherrschen. Agnes ging es nicht anders. In ihr brodelte die Wut in einem heißen Feuer. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Aber ein Blick auf Eriks geraden Rücken und sie biss sich auf die Zunge. Energisch blinzelte sie die Tränen weg.
Eriks Gehirn arbeitete fieberhaft. Er überlegte einen Weg, wie sie die Gefangenen befreien konnten. Für die behinderten Menschen sah er keinen Weg zurück in die Freiheit. Die waren so mental an die Aufseher gebunden, dass sie beim Anblick eines Fremden in ihrem Quartier zu schreien anfangen würden.
Dann stieg eine Erinnerung in ihm hoch. Als fünfzehnjähriger hatte er seinen Physiklehrer manipuliert, sodass er ihm die Prüfungsfragen gegeben hatte mitsamt den Antworten. Der Lehrer hatte nicht bemerkt, was Erik mit seinem Gedächtnis angestellt hatte, aber sehr wohl die Eltern. Daraufhin wurde er in eine andere Schule versetzt und musste monatelang Strafdienst versehen. Schweigend hatte er sämtliche Internatstoiletten geputzt und die Böden der Schlafsäle auf den Knien geschrubbt. Er wurde von allen Mitschülern gemieden und die Lehrer hatten ihn besonders im Auge. So ging es den Rest der Schulzeit. Auch während des Studiums und der Militärzeit war er viel allein gewesen. Sein Talent war ihm zur Falle geworden. Keiner wollte zuviel mit ihm zu tun haben. Entschlossen drängte er die anderen Reminiszenzen in den Hintergrund, sie brachten ihn nicht weiter.
Es war ein Wunder, dass sie damals keine Veränderung an seiner Fähigkeit vorgenommen hatten. Davor hatte ihn wahrscheinlich der Familienname geschützt.

„Agnes, so geht’s. So machen wir es. Aber es wird hart werden“, sagte er und wandte sich um. Am liebsten hätte er sie jetzt in den Arm genommen und ganz fest gedrückt. Er war dahinter gekommen, dass ihm die Berührung gut tat und Agnes schien es auch so zu gehen. Aber hier in der Öffentlichkeit hätten sie nur vermeidbares Aufsehen erregt.

„Wir warten bis es dunkel wird. Jetzt muss ich noch etwas erledigen.“ Er kehrte um und zwang sich lässig zu schlendern. Agnes versuchte es ebenfalls. Beim Gehege angekommen rief er: „Na, da haben wir ja mal ein paar seltene Exemplare. Wie lange sie wohl aushalten werden?“ Der Aufseher, der gerade mit der „Fütterung“ begann, grinste breit und merkte nicht, dass Erik bereits in seinem Gehirn war. Er suggerierte dem Mann die Schlüssel bereits weggesteckt zu haben und dass alles in Ordnung ist. ‚Die Schlüssel sind sicher verwahrt und heute war ein ruhiger Tag, ohne Vorkommnisse. Ich gehe jetzt nachhause und dann ins Bett. Ich bin müde.’ Immer wieder sagte er ihm diese Unwahrheiten.

Der Aufseher ging tatsächlich davon, ohne den Schlüssel mitzunehmen. Erik atmete erleichtert auf. Die Anstrengung des erzwungenen Gedankenrapports stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er schwankte. So hatte er es nicht mehr in Erinnerung gehabt. Früher war ihm das leichter gefallen. Agnes eilte herbei und stützte ihn, sonst wäre er zu Boden gesunken.
„Was hast du gemacht? Du bist weiß wie die Wand“, flüsterte sie ängstlich.
„Ich habe … Lass mich irgendwo hin setzen. Langsam werde ich wohl alt.“
Agnes führte ihn zu einer nahen Bank. Dann fragte sie wieder: „Was hast du nur angestellt?“
„Ich habe etwas Verbotenes gemacht“, flüsterte er. „Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Endlich konnte ich mein Talent einmal für etwas Nützliches einsetzen, so es denn klappt und wir ungeschoren davon kommen.“
Er vergrub das Gesicht in den Händen und beugte sich ganz weit nach vor. Ein Bild des Jammers.
„Erik, Erik, was soll ich nur sagen?“ Kurz blickte sie sich um, als sie niemanden mehr sah, drückte sie ihn ganz fest an sich.

Langsam wurde es dunkel. Es waren weder Besucher noch Aufseher zu sehen. Sie versteckten sich in einem kleinen künstlichen Waldstück und warteten darauf, dass es noch dunkler wurde. Endlich wagten sie sich aus dem Versteck.
Ihr Plan war, soweit ihn Agnes verstanden hatte, die Gefangenen rauszulassen und dann mit ihnen abzutauchen. Erik hatte vor, das Flugzeug, das sie am nächsten Tag abholen sollte, zu stehlen. Agnes war darüber entsetzt. „Das geht nicht, wir haben dann die Armee auf den Fersen.“
„Das haben wir so oder so. Mit dem Flugzeug sind wir schneller.“
„Kannst du es denn fliegen?“
„Nein. Aber ich kenne jemanden der es kann und der wird morgen auch auf dem Rollfeld sein. Wir müssen nur schnell und unauffällig arbeiten, dann klappt es schon.“
„Du hast viel organisiert, während ich an dem Modul herumsabotiert habe.“

Jetzt schlichen sie an die Rückseite des Gebäudes und öffneten. Erik tastete sich in der Dunkelheit nach vor und sagte so laut er es wagte: „Leute, kommt, nehmt eure Sachen, wir verschwinden jetzt. Aber ihr müsst leise und schnell sein.“
Ein ungläubiges Murmeln hob an. „Pscht. Leise und kein Licht.“
Dann zog er sich vorsichtig zurück. Das Warten fühlte sich lang an, aber es dauerte in Wirklichkeit nicht mehr als ein paar Minuten, dann kamen sieben müde Gestalten aus dem Haus. „Da fehlt noch jemand“, zischte Agnes.
„Oma Nikitina hat gesagt, dass sie bleibt, sie ist zu langsam für die Flucht und würde uns nur aufhalten“, antwortete eine junge Frau.
„Mist. Aber es lässt sich wohl nicht ändern. Wenn die ihr Gedächtnis sondieren, werden sie wissen, wer euch befreit hat. Egal jetzt, wenn wir nicht sofort machen, dass wir wegkommen, sind wir gleich dran. Bis wir alle in Sicherheit sind, habe ich das Kommando.“
Alle nickten zustimmend.
„Wartet“, sagte Agnes, ihr war noch etwas eingefallen. Schnell rannte sie zurück und schloss das Haus wieder sorgfältig ab. Dann steckte sie die Schlüssel ein und wischte die Tür gründlich ab, bevor sie zu den anderen rannte. Atemlos bildete sie den Schluss der Reihe.

Sie krochen wie Geister durch ein Waldstück und gelangten schließlich zu einer hohen Mauer, die mit Stacheldraht gekrönt war. Dort entlang führte sie Erik bis sie an eine Seitentür gelangten. „Bleibt ruhig. Ich werde versuchen das Tor zu öffnen.“ Einige Male atmete er ganz bewusst und tief ein und aus. Dann begann er damit sich zu erden, er stellte sich vor, mit dem Boden verwachsen zu sein und direkt Energie von der Erde zu bekommen. Als er glaubte, die Kraft zu spüren, fokussierte er die Gedanken auf das Tor. Langsam drang er in das dicke Holz ein und begann damit die atomare Struktur zu verformen. Er seufzte als das Holz zu brechen begann. Vorsichtig blickte er durch das entstandene Loch. Es war nichts zu sehen.
„Raus hier“, befahl er und sackte zusammen. Die Anstrengung die Holzfasern nur mit dem Willen zu brechen, war einfach zu groß gewesen.
„Erik! Wartet, Leute, wir dürfen ihn nicht einfach so liegen lassen.“
Sieben bleiche Gestalten blickten zurück. Dann kam der Kräftigste von ihnen und hob Erik hoch. „Ich werde dich jetzt eine Weile tragen. Nur wohin sollen wir gehen?“
„Das weiß nur Erik“, antwortete Agnes verzweifelt.
„Dann bleiben wir vorerst hier im Wald. Er wird sich hoffentlich bald erholen. Du hast einen tapferen Freund. Wer seid ihr eigentlich?“
„Zuerst müssen wir hier weg, dann bekommt ihr Antworten.“
Jetzt ging Agnes voran. Sie schlichen tiefer in den Wald hinein.
Als sie merkte, selbst nicht mehr zu können machte sie Rast. Es war beinahe Mitternacht und es war kalt geworden. Der Herbst schritt voran. Hier war es ihr wärmer vorgekommen als in Zurick, aber nachts war es auch hier ganz schön frisch.
„Pause. Erik sollte langsam wieder zu sich kommen.“ Ihre Stimme klang sorgenvoll und ihr Blick klebte an ihm, auch wenn sie in der Dunkelheit nicht viel erkennen konnte.
„Wer seid ihr?“, fragte wieder der Mann, der Erik getragen hatte.
„Ich bin eine Freundin von Alex Smirnov und heiße Agnes Lindstrom, das da ist Erik Landmann.“
„Freut uns. Eine Freundin von Alex ist auch unsere Freundin. Wir wussten nicht, dass er hier Freunde hatte. Warum helft ihr uns? Ihr Eumerier, besonders die mit den Talenten wie dein Freund hier, kümmert euch herzlich wenig um andere.“
„Das stimmt, leider. Wir möchten etwas ändern. So kann es nicht weiter gehen. Unsere Regierung unterdrückt das eigene Volk, macht es mittels Pillen gefügig. Alles ist verboten und wird kontrolliert. Sie wollen alle vernichten, die nicht so sind wie sie. Das wird auf Dauer die Erde noch kaputter machen, als sie ohnehin schon ist. Menschen zur Schau zu stellen ist nur eine der Perversitäten der Administration.“
Lange Zeit herrschte Ruhe. Das mussten die Befreiten erst einmal verdauen. Bevor sie sich selbst vorstellen konnten, regte sich Erik.
„Wo bin ich? Mir ist so kalt“, sagte er mit klappernden Zähnen. Agnes stürzte auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. „Was hast du nur wieder gemacht? Deine Begabung ist erschreckend“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie versuchte etwas von ihrer Körperwärme abzugeben und drückte ihn ganz fest an sich. Langsam ließ das Zittern nach und er begann leise zu sprechen: „Ich weiß jetzt warum ich gezüchtet worden bin.“ Er machte eine Pause, das Reden war anstrengend. „Agnes, ich bin eine Waffe. Sie haben mich als perfekten Soldaten gezüchtet. Ich mag das nicht sein.“ Er klang verzweifelt, verloren. Agnes fühlte es und nahm einen Teil davon unbewusst in sich auf.
„Lass die Trauer und die Wut raus. Ich werde dich halten, Erik. Alle hier werden dich halten“, sagte sie bestimmt und die sieben Leute rückten enger um sie. Sie bildeten einen Kreis und berührten sich gegenseitig.
„Erik, ich kann dich fühlen. Lass die Trauer endlich raus, sonst bringt sie dich um.“
„Wir haben keine Zeit dafür“, redete er bestimmt dagegen.
„Die müssen wir haben. Im Dunkeln können wir nicht weiter gehen.“
„Agnes, wir verpassen das Flugzeug, wenn wir uns jetzt wegen mir aufhalten.“
„Vergiss den Flieger. Du bist wichtig. Wenn wir nicht auf uns Rücksicht nehmen, dann brauchen wir erst gar nicht damit beginnen, die Welt verändern zu wollen.“ Sie drehte sich etwas, damit er ihr Gesicht erkennen konnte, hielt ihn aber weiterhin fest umschlungen. „Erik, es macht nichts, wenn wir das Flugzeug verpassen. Irgendwie werden wir es schaffen.“
„Aber ich wollte die Leute wieder nachhause bringen.“
„Ich weiß. Aber du bist mir auch wichtig.“
„Hör auf deine Freundin, Erik Landmann. Du hast schon viel für uns getan. Wir werden es schon schaffen, irgendwie nachhause zu kommen oder anderswo ein neues zu finden.“ Eine Frau mittleren Alters hatte gesprochen.
„Du bist Sainkoh, nicht wahr“, sagte Erik. „Wir haben dich gesucht.“
„Woher? – Ja, es stimmt. Warum habt ihr mich gesucht? Es ist wegen Alex, er schickt euch. Aber warum nur?“
„Er hat gedacht, dass du etwas weißt“, antwortete Agnes. Sie hielt Erik noch immer umklammert.
„Da muss er sich getäuscht haben. Ich weiß nichts. Aber vielleicht …“, sie brach grübelnd ab. Die Stirn in Falten gelegt redete sie schließlich weiter: „Vielleicht war er in der Zukunft und er hat etwas gesehen. Wo ist er?“
„Er ist weg und wird nicht wiederkommen.“ Agnes klang resigniert und müde. Sehr gerne hätte sie den Kollegen und Freund wieder gesehen.
Alle schwiegen betreten. Die Nacht kroch langsam weiter und machte der Morgendämmerung platz.

„Agnes, du kannst mich jetzt loslassen. Mir ist wieder warm. Wir müssen weg hier. Kommt Leute.“ Erik stand auf, streckte die steifen Gliedmaßen und half dann Agnes, die so verkrampft war, dass sie nicht von alleine hochkam. Die Gedanken und Gefühle hatte er wieder unter Kontrolle. Agnes hatte ihm geholfen einen Teil davon anzunehmen, aber rauslassen konnte er sie nicht.
„Wir beide ziehen jetzt wieder unsere Uniformen an und dann gehen wir zum Flugplatz. Ich möchte an meinem Plan festhalten, so lange es geht. Noch ist Zeit.“
Er kramte im Rucksack und gab Agnes ihre Sachen. Schnell waren sie umgezogen und dann marschierten sie weiter. Erik bildete die Spitze des Zuges, Agnes machte den Schluss. So sah es aus, als hätten sie jemanden gefangen genommen oder für den Militärdienst requiriert.

Als sie an die Straße kamen wurde es einmal brenzlig. Eine Polizeikontrolle hielt auf sie zu. In Eumeria durften nie mehr als maximal drei Personen in einer Gruppe unterwegs sein. Ab vier Leuten wurde man der Polizei suspekt und musste mit unangenehmen Fragen rechnen. Als die Polizisten aber einen Hauptmann an der Zugspitze erkannten hoben sie nur die Hand zum Gruß und gingen weiter.
„Wir haben wohl mehr Glück als Verstand“, flüsterte Agnes ganz hinten. Wieder einmal hatte ihr die Ausstrahlung des Hauptmanns das Leben gerettet. „Ich sollte mehr Vertrauen in ihn haben“, murmelte sie und versuchte mit den anderen Schritt zu halten, das war von jeher ein Problem für sie gewesen – Schritt halten und Vertrauen schenken. Bis jetzt sah es so aus, als würde sich Erik ständig in Gefahr begeben. Plötzlich hatte sie das Gefühl nur eine Last zu sein, wieder einmal das Anhängsel eines anderen, der besser mit Situationen zu recht kam. Ihre Gedanken kreisten um dieses Thema während sie immer weiter gingen, die schnurgerade Straße entlang.

So marschierten sie beinahe zwei Stunden als sie vor sich den Tower erkannten. Jetzt mussten sie nur noch ungehindert auf das Rollfeld kommen und die Maschine entern.
‚Wenn Erik eine Waffe ist, warum hat er sich dann nicht als Menschenhasser entwickelt?’, fragte sich Agnes. ‚Er tut mir so unendlich leid. Soviel Kummer und Elend, ich konnte es kaum ertragen. Da ist noch mehr Einsamkeit drin als in mir.’ Sie gab sich keine Gelegenheit ihre Wut auf das System abkühlen zu lassen. Jetzt hatte sie neue Nahrung bekommen. Die züchteten Menschen mit bestimmten Genstrukturen, und machten sie zu Werkzeugen. Als sie sich dem Tor näherten zwang sie sich zu der typischen Lindstrom Maske. Augen geradeaus, kein Muskelzucken im Gesicht. Normale Atmung, Schultern entspannt, Rücken gerade, so durchschritt sie als Letzte das Tor.

Erik ging zum Piloten und Agnes wies den Leuten ihre Plätze zu. Sie wollte sich gerade selbst einen Sitz suchen, als Erik zurückkam. Er war kreidebleich und schwankte zur Tür.
„Erik, warte, was machst du?“, rief Agnes erschrocken.
„Ihr fliegt, ich bleibe hier. Es ist noch etwas zu erledigen, das ich beinahe vergessen hätte.“
„Was? Was ist so wichtig, dass du wieder aussteigst?“ Agnes war ihm nachgelaufen.
„Geh wieder auf deinen Platz. Die Maschine startet in fünf Minuten.“ Er klang müde aber bestimmt.
„Nicht bevor du mir gesagt hast, was du tun willst.“
„Ich werde deinem Kumpel einen Besuch abstatten und dabei ein ganzes Labor in die Luft jagen. Setz dich. Du fliegst mit.“
„Nein, ich komme mit dir. Ich werde mich nicht in Sicherheit bringen und dich hier allein zurücklassen. Entweder, wir fliegen beide oder keiner von uns. Was ist übrigens mit dem Piloten?“
„Ich habe ihn hypnotisiert. Mit etwas Glück hält sie an bis ihr gelandet seid. Und jetzt lass mich gehen.“
Agnes drehte sich kurz um, schaute die Samek der Reihe nach an, so als wollte sie abschätzen, wie sie reagieren würden. Dann ging sie zu Sainkoh. „Ihr müsst alleine zu recht kommen. Die Maschine fliegt euch nach Sibir, ich weiß nur nicht wohin. Aber es ist eure Heimat.“
Sainkoh schaute sie nur an. Schließlich sagte sie: „Geh mit ihm. Ihr habt uns eine Tür geöffnet, durchgehen werden wir alleine. Zuhause finden wir uns zu Recht. Mach dir keine Sorgen um uns. Nicht wahr, Leon, wir beide und die Kinder, wir schaffen das.“
Von Leon war ein zustimmendes Murren zu hören. „Und jetzt geh, bevor er die Tür endgültig schließt. Ihr müsst zusammenarbeiten. Ich denke Alex hat gewusst, dass wir Hilfe brauchen würden und dich zu uns geschickt, aus der Zukunft oder der Vergangenheit. Er ist sehr geschickt was das Überleben angeht. Wo immer er ist, er wird sich durchboxen.“
„Danke Sainkoh. Ich werde dich nie vergessen, keinen von euch.“ Dann rannte sie durch die Tür und die Leiter hinunter. Sie wurde schon weggeschoben, als sie noch halb oben war. Das Schott schloss sich mit einem leisen Zischen und die Maschine rollte los.
„Ich hoffe nur, dass sie nicht abgefangen werden“, murmelte sie unten angekommen.
„Hauptmann! Warten Sie“, rief sie und begann zu laufen.
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Erik hatte schon halb den Weg zum Ausgang geschafft als ihn Agnes einholte.
„Warte doch, du musst das nicht alleine machen.“ Atemlos hielt sie ihn an.
„Agnes. Ich wollte, dass du in relativer Sicherheit bist und dich um die Samek kümmerst.“
„Die schaffen das schon alleine. Du hast den Piloten instruiert und ich habe Sainkoh alles erklärt. Sie kommen klar. Und jetzt musst du dich einmal ausruhen. Wie lange schätzt du, haben wir Zeit, bis sie uns die MP auf den Hals hetzen?“
Erik starrte nur mehr. Er hatte damit gerechnet, das alleine zu machen und nicht gewusst, wie er es anstellen sollte, erschöpft wie er war. Ein kleines Lächeln stahl sich endlich in sein Gesicht und als er sprach klang er erleichtert: „Danke, dass du bleibst. Wir werden etwa drei, höchstens vier Stunden haben, bevor sie uns vermissen. Du weißt, dass wir desertiert sind und was das bedeutet?“
„Natürlich. Wenn sie uns erwischen, werden wir an die Wand gestellt und abgeknallt.“ Sie hatte absichtlich so brutal gesprochen, damit er sah, dass sie die Tragweite ihrer Entscheidung kannte.
„Na schön. Dann suchen wir uns einen geeigneten Platz zum Ausruhen. Wir werden genau zwei Stunden schlafen, dann müssen wir weg von hier.“

Zusammen gingen sie in das Hotel, das dem Flughafen angeschlossen war. Hier waren immer viele Soldaten untergebracht, also vielen sie nicht auf.

Beide duschten ausgiebig und legten sich dann nebeneinander in eines der Betten. Agnes hatte bemerkt, dass Erik die Berührung brauchte um sich nach der Anstrengung der telepathischen Arbeit wieder geistig einzurenken.
„Ich bin froh, dass du mich berühren willst. Es hilft mir, mich wieder zu erden, zu sammeln sonst würde ich verrückt werden und vielleicht doch noch die Waffe in mir freisetzen, zu der sie mich machen wollen.“ Ganz eng rückte er an sie heran und atmete ihren frischen Duft ein.
„Wieso sollte ich dich nicht berühren wollen? Ich mache es gerne und du fühlst dich gut an. Schade, dass die Menschen darauf verzichten müssen.“
„Mhm.“
Bald darauf waren beide eingeschlafen.
Erik hatte vergessen, den Weckdienst zu informieren und es wurde bereits dunkel als er mit einem Ruck erwachte.
„Scheiße!“, rief er, sprang aus dem Bett und war schon in den Hosen als auch Agnes erwachte.
„Wir haben verschlafen.“
„Ja, so ein Mist. Jetzt werden hier schon alle Polizeieinheiten informiert sein. Wir müssen zusehen, dass wir wegkommen.“ Erik drängte sie, sich zu beeilen. Sie nutzten die Hintertreppe für einen heimlichen Abgang. Die Treppe endete an einem lichtlosen Gang. Ratlos sahen sie sich kurz an, bevor sie die halbe Treppe wieder hochstiegen und aus einem Fenster kletterten. Vorsichtig schlichen sie um das Gebäude herum. Vor dem Eingang stand schon Militärpolizei.
„Wir ziehen wieder die zivile Kleidung an. Sie suchen Militärangehörige und keine Zivilisten. Keine Scheu jetzt vor der Nacktheit des anderen.“ Agnes grinste als sie das sagte.
„Du hast recht. Wir müssen uns beeilen. Warum habe ich nur vergessen, den Wecker zu informieren?“
„Mach dir jetzt keine Vorwürfe. Wir haben beide die Ruhe gebraucht.“

Ohne dass ihnen jemand Beachtung schenkte, kamen sie in die Stadt zurück. Ganz gemächlich schlenderten sie durch die Straßen und suchten das Gebäude der Gedankenpolizei. Dort hatte Frederik Hauser sein Labor. Zuerst wollten sie ihn holen und dann das große DNA- und Fötuslabor in die Luft jagen. Doch um da hinzugelangen brauchten sie Frederik.

Schnell hatten sie das Polizeigebäude gefunden.
„Die Gedanken sind frei“ las Erik laut und lachte. „Ist das nicht der beste Witz des Jahrtausends? Also, wer darüber nicht lachen kann, hat jeden Sinn für Humor verloren. Aber ich vergaß, es gibt ja keinen Humor.“
Sie standen vor dem Tor und betrachteten den schwarzen Schriftzug.
„Kein Humor, keine Liebe, keine Gefühle – nichts als Hass und Angst sind geblieben“, murmelte sie trübsinnig.
„Doch, etwas ist geblieben, Agnes. Ich würde gerne wissen, wie es ist, dich zu küssen. Aber nicht gerade hier auf der Straße und noch dazu vor dem Polizeigebäude“, er wurde immer verlegener, während der sprach.
„Oh“, machte sie und starrte ihn aus feuchten Augen an. „Danke. Lass uns reingehen. Ich kenne den Weg.“
Beide vermieden es, sich anzusehen oder gar zu berühren, obwohl sie am liebsten Hand in Hand gegangen wären. Als sie durch das erste Tor traten, strafften beide die Körper und ließen die Gesichter erstarren. Augen geradeaus, Wirbelsäule gerade, neutrales Lächeln um den Mund. Den Gesichtsausdruck gleichgültig zu halten war am schwersten.

Agnes ging als hätte sie einen dringenden Auftrag zu erledigen. Kurz grüßte sie den Portier und schritt dann voran zur Tür in die Ambulanzen. Hinab stiegen sie in das Kellergewölbe, durch die Medamb und dann standen sie vor der Tür zu Frederik Hausers Labor. Sie wunderten sich, warum sie nicht aufgehalten worden waren.
Es war sehr still hier, zu still. Keine Menschenseele ließ sich blicken.
„Erik, das gefällt mir nicht“, flüsterte Agnes und es hallte laut im leeren Gang wider.
„Mir auch nicht. Ich denke, wir ziehen uns lieber zurück.“
Sie wollten gerade den Rückzug antreten, als vor ihnen am Gang mehrere Türen aufschwangen und schwer bewaffnete MPs herausstürmten.
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Nun stehe ich auf dem Felsen, blicke ins Tal und frage mich, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, mich von den wilden Tieren zerfleischen zu lassen.

Alex lebte sich etwas ein. Er war zwar nach wie vor wortkarg und hielt sich zurück. Einerseits hatte er soviel Wissen in sich, das er den Menschen hier geben könnte, andererseits nagte der Zweifel an ihm, ob es so gut wäre, es zu teilen. Er wusste, dass er durch seine Anwesenheit schon eine Veränderung in die Zukunft gebracht hatte. Deshalb ging er immer wieder in sich, erforschte sein Tun und wie es sich auswirken könnte. Dabei entging ihm die Gegenwart.

„Es ist ein Eingriff in die Vergangenheit. Ich kann ihnen nicht einfach so etwas von der Zukunft geben“, murmelte er. Oft redete er mit sich in seiner Sprache. Mae beobachtete es mit Besorgnis. Sie fürchtete, dass er wieder in diese sonderbare Schwermut zurückfiel. Nur zögernd hatte sie zugestimmt, als er sein Lager wieder am Höhleneingang aufschlagen wollte.
„Mae, mir geht’s gut. Aber ich brauche einen Platz für mich“, hatte er ihr glaubhaft versichert. Er war noch immer fremdartig, das würde sich wohl nie ändern. Schon allein sein Äußeres sprach Bände. Er war größer als die meisten und er entfernte sich täglich den Bart, darauf schien er großen Wert zu legen. Auch auf ein Bad im nahen Bach verzichtete er selten. Anfangs hatte sie das belustigt. Sie war ihm ein paar Mal heimlich gefolgt und hatte ihn beobachtet. Die anderen Clanmitglieder machten sich über diese Eigenart lustig. Sie fanden es erheiternd, dass ein erwachsener Mann ein Kindergesicht haben wollte. Aber Alex hatte es in seiner Sippe schon gestört, wenn er Bart tragen musste. Seit der Hochschulzeit war er auf eine tägliche Rasur gedrillt worden.

Alex suchte oft den kleinen Biberteich auf, schwamm dort einige Runden und verwendete dann das Seifenkraut. Hier fühlte er sich nicht unter Druck und ließ seinem Selbst freien Lauf. Er redete mit den Bäumen, schlanke Birken wuchsen hier, mit den Kräutern am Ufer und mit den Vögeln. „So viele Erkenntnisse habe ich gewonnen. Kein Mensch aus meiner Zeit wird das je erfahren – und ich wünsche es auch niemanden. Ich werde ihnen etwas geben, etwas, das die Zukunft nicht verändern kann, oder doch nicht so sehr, dass es gefährlich werden könnte“, sagte er und tauchte unter. Das Wasser war klar und kalt. Bis zum Grund tauchte er hinab und ahnte nicht, dass Mae vor Schreck aus ihrem Versteck gelaufen kam. Erst als er freudestrahlend wieder auftauchte und atemlos lachte, bemerkte er sie. Abrupt verstummte er. „Alex, du hast mir Angst gemacht“, war alles was sie sagte. Schon wollte sie umkehren, aber er rief sie zurück. „Warte. Warte. Ich wollte dir keine Angst einjagen. Sieh nur, was ich Schönes gefunden habe“, sagte er und stieg aus dem Wasser. Er hielt seinen Fund in der ausgestreckten Hand und sie betrachtete den Stein bewundernd.
„Er gehört dir. Nimm ihn, Mae.“ Energisch drückte er ihr den Stein in die Hand und schloss die Finger darum. Dann wickelte er sich in die Felle und band sie mit einer Sehne, die um die Mitte geschlungen wurde, fest.
„Eine Nadel!“, schrie er. „Das ist es! Mae! Das kann ich euch geben!“ Er führte einen Freudentanz auf und Mae fragte sich, ob er jetzt komplett durchdrehte. Alex sprang zwischen den Birken herum, sang und redete in seiner Sprache – das verwirrte Mae noch mehr.
„Komm, lass uns zurück gehen. Ich muss mit Groch reden.“
„Was hast du?“
„Eine Idee, Mae, eine Idee, wie ich mich nützlich machen kann.“
Noch nie hatte sie ihn so glücklich gesehen. Die Freude sprang aus den blauen Augen und zuckte um den Mund.
Danach lachte er lange Zeit nicht mehr.

Bei der Höhle angekommen näherte er sich vorsichtig Groch. Er hockte an seinem Platz und bearbeitete gerade einen Stein. Alex fragte sich, ob ihn der Werkzeugmacher verstehen würde. Beiden fehlten die richtigen Worte um zu sagen was sie meinten.
Er ließ sich neben Groch nieder und wartete bis dieser seinen Schlag ausgeführt hatte, erst dann sprach er ihn an. Geduld war etwas, das er mühsam wieder lernen hatte müssen. Zeit spielte hier keine Rolle – sie hatten nicht einmal eine Bezeichnung dafür.
Pling – machte es und Groch brummte zufrieden.
„Schön“, sagte Alex bewundernd und er meinte es so. Es war eine perfekte Speerspitze geworden, schlank und tödlich. Nun hatte er die Aufmerksamkeit des anderen Mannes.
„Groch, ich weiß, du magst mich nicht besonders, weil ich so viele Messer verbrauche und auch sonst etwas ungeschickt bin. Aber ich möchte dich um noch ein Werkzeug bitten.“
„Was willst du damit machen? Sie stellen sich nicht von selbst her“, erwiderte er unwirsch.
„Ich weiß, Groch. Nur noch eines, wenn dir nicht gefällt, was ich herstelle, dann werde ich dich nie wieder um Werkzeug bitten.“
Neugierig geworden gab er schließlich nach. Alex nahm unter vielen Verbeugungen und Danksagungen das Messer entgegen. Dann verzog er sich an sein kleines Herdfeuer und entfachte es erneut. Hier war es kälter als draußen in der Sonne. Die letzten Herbststrahlen fielen sanft vom Himmel. Alles erzählte bereits vom nahen Winter.

Alex wollte nicht an die kalte Jahreszeit denken. Dagegen war es in seiner Heimat warm gewesen. Er dachte daran, dass er dann hier eingesperrt sein würde, dass er auf sein Bad verzichten, seine Persönlichkeit noch mehr beschneiden musste, um nicht noch mehr aufzufallen. Einzig Mae und wenn ihm der Sinn danach stand, auch Grah begegneten ihm freundschaftlich.

Das Bett hatte er noch einige Male mit Mae geteilt, aber er fühlte sich nicht gut dabei. Es war nicht, dass ihn alle beobachteten, es war eher so, dass sie ihn holte, wenn ihr danach war. Das bedrückte ihn und er hatte begonnen diese Begegnungen abzulehnen.

So schlug er jetzt die Beine unter und begutachtete die Knochen, die er aus einem Abfallhaufen mitgenommen hatte. Sorgfältig wählte er einen aus und begann zu schnitzen. Feine Späne flogen davon, landeten im Feuer oder auf den Schlaffellen. Er achtete nicht darauf, sondern senkte seine Konzentration in den Knochen und den Stein in der Hand. Blut tropfte zu Boden. Auch das ignorierte er. Während er das Messer über den Knochen wandern ließ, sang er leise vor sich hin. Es war ein Spottlied, dass die Kommilitonen in der Uni gesungen hatten, wenn er mal wieder das Wochenende alleine verbracht hatte: „Alex der Mönch … was kann er schon, was ist er schon, verschwend kein Ton, er ist ein Hohn – Smirnov, Smirnov, schnür dir lieber die Kehle zu, Sumpfratte du. Samek, Samek lass das …“ Erschrocken hielt er inne. Die Ungeheuerlichkeit dessen was er da gesungen hatte, kam ihm urplötzlich zu Bewusstsein. Und das Lied war viel länger und gemeiner. Er betrachtete das Messer, das wie zufällig an der Arteria radialis zu liegen gekommen war. Nur ein kleiner Schnitt um das Leben mit dem Tod zu verbinden. Gedankenlos saß er da und starrte auf das Messer. Das Blut, das von seinen Fingern tropfte, machte merkwürdige Muster auf dem Stein und dem Knochen. Wie hypnotisiert blickte er auf das Handgelenk. Er merkte nicht, wie ihn die Clanmitglieder anstarrten. Sie hatten seinem Lied gelauscht und aus seiner Haltung ihre Schlüsse über den Inhalt gezogen.
‚Er ist noch immer keiner von uns – ich glaube er wird es nie’, dachte Mae, wandte sich ab und bedeutete auch den anderen zu gehen.
‚Solange er an den Schnee des letzten Winters denkt, wird sich nichts ändern. Aber vielleicht kann er das nicht, vielleicht sind die Wurzeln zu tief. Ich weiß es nicht Ich habe nicht verstanden, wie fremd er wirklich ist. Er hat einmal versucht es mir zu sagen, aber dafür gibt es keine Worte.’

Entschlossen schluckte Alex die aufkommende Wut und Scham hinunter, legte das Messer zur Seite und betrachtete die blutige Ahle. Sie war noch nicht ganz fertig. Er wischte sie sauber und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Sein Verstand arbeitete wieder wissenschaftlich. Es war einfacher, so musste er sich nicht mit seinen Gefühlen beschäftigen. Aber die Arbeit ließ seine Gedanken wieder weiter wandern. In eine Vergangenheit, die eigentlich die Zukunft war.
Als er wusste, wie der nächste Schritt aussehen musste, ging er in die Dämmerung hinaus und zum Arbeitsplatz des Steinhauers hinüber. Der war ihm misstrauisch gefolgt. Aber Alex suchte nur in den Abfallsteinen herum, den unbrauchbaren mit Fremdgestein durchzogenen Bruchstücken. Er nahm zwei flache, runde Steine und ging wieder an seinen Platz. Mittlerweile war es dort fast zu dunkel um noch zu arbeiten. Er legte einen Ast auf das Feuer und es wurde etwas heller. Ganz in die Ahle versunken, legte er die Stirn in Falten und spitzte den Mund. Ein leiser Pfiff entfuhr ihm.

Am Gemeinschaftsfeuer wurde gelacht, erzählt und gegessen. Alex bemerkte es nicht. Er war in Gedanken gar nicht in der Höhle – weit weg war er, in einer anderen Zeit, einer anderen Umgebung, unter Leuten die ihn nicht mochten oder die ihre Sympathie nicht zu zeigen wagten. Während er an die vielen Menschen dachte, denen er nie wieder begegnen würde, feilte er an der Spitze. Dazu legte er einen Stein mit der rauen Seite nach oben auf den Boden, die Ahle darauf. Vorsichtig strich er langsam mit dem anderen Stein darüber. Er hielt die Luft an, als er glaubte fertig zu sein. Dann betrachtete er sie im Schein des Feuers und stieß den angehaltenen Atem mit einem Zischlaut aus.
„Gerade ist sie nicht geworden. Mal sehen, ob sie funktioniert“, murmelte er und entfernte die Fußlinge. Dann legte er sie auf einen flachen Stein und begann am Rand Löcher zu machen. Als das erledigt war nahm er die Sehne und schob sie mit der Rückseite der Ahle durch das erste Loch. Einmal oben durch, einmal unten durch, bis er einmal rundum war, dann probierte er den Fußling, ob er passte.
„Juhu! Alex ist kein Volltrottel! Agnes, das müsstest du sehen!“ Er hopste um die Feuerstelle herum, schrie und sang immer wieder den gleichen Satz, bis ihn Grah zornig unterbrach.
„Aks! Was soll das? Hier versuchen Leute zu schlafen und du machst soviel Lärm!“
Erschrocken erstarrte Alex mitten in der Bewegung und senkte den Blick. Er hatte ganz vergessen, wo er sich befand und wie spät es geworden war, während er in seine Arbeit vertieft gewesen war.
„Entschuldige Grah. Ich bin leise“, sagte er und setzte sich. Grah brummte und begab sich wieder an seine Lagerstatt.
Jetzt erst merkte Alex, wie durstig er war. Er hatte vergessen, sich etwas zu holen und nun wagte er nicht ans Gemeinschaftsfeuer zu gehen, aus Angst jemanden zu wecken. Also schlich er hinaus.

Die Nachtluft war frostig und verkündete den nahenden Winter. Der Bachlauf hatte schon Eisränder, die wie lange Finger in die Mitte zeigten. Zitternd legte er sich auf den Boden und schöpfte mit der hohlen Hand Wasser. Das Eis warf ein verschwommenes Spiegelbild – und er erkannte seinen Fehler.

Mit heftig klopfendem Herzen richtete er sich auf, lehnte sich an den nächsten Baum und dachte nach. Er sah sich mit den Augen des knallharten, gefühllosen Wissenschafters.
„Ich darf nicht vergessen, wer ich bin“, sagte er sich wieder einmal. „Ich darf ihnen kein Geschenk machen, niet, niemals, darf ich ihnen von meinem Wissen schenken.“ Das Entsetzen dieser Erkenntnis trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Panisch sprang er auf und rannte zu seinem Lager. Dort riss er hektisch die Fußlinge runter und überlegte, wie er sie entsorgen konnte. Dann suchte er nach der Ahle und betrachtete sie lange. Tränen rannen ihm übers Gesicht, als er sie mit einem schweren Stein zerschlug. Mit den Fußlingen ging er wieder hinaus. Der Morgen nahte. Ganz ferne im Osten sah er einen blassen Schimmer. Bald würde die Sonne aufgehen und mit ihr die Höhle erwachen. Bis dahin musst er sich wieder beruhigt haben.

„Niemals darf ein Zeitreisender in die Entwicklung einer Kultur eingreifen, ganz gleich was es ihn selbst kosten mag“, zitierte er sich. Er und Agnes hatte ein Buch über Zeitreisen verfasst, es war in bestimmten Kreisen zu einem Bestseller geworden.
„Ich darf ihnen nichts schenken und keine Kinder zeugen – niemals, sonst ändert sich alles. Das darf nicht geschehen, auch wenn ich es mir wünsche und ersehne. Ich muss der dumme Aks bleiben.“ Entschlossen vergrub er die Fußlinge.

Mae hatte seinem Treiben heimlich zugesehen und den fremden Worten gelauscht. Sie würde ihn so gerne verstehen, seine Gedanken teilen, aber er ließ es aus einem ihr unbekannten Grund nicht zu. Es hatte sie auch gekränkt, dass er nicht mehr die Felle mit ihr teilen wollte. Der Gedanke daran machte sie wütend. Wie konnte er nur so ein Geschenk zurückweisen? Und nun benahm er sich schon wieder so eigenartig.

Alex erhob sich, drehte sich um und wäre fast mit Mae zusammen gestoßen. Sie funkelte ihn zornig an.
„Was denkst du eigentlich, wer du bist? Wir helfen dir und du benimmst dich immer undankbarer! Ich bedaure schon, dich hier überhaupt willkommen geheißen zu haben. Sag mir, was mit dir ist!“
„Mae, ich – ich – ich kann es dir nicht erklären. Du hast keine Worte dafür.“ Seine Stimme klang angestrengt, so als würde er tiefe Gefühle zu verbergen suchen. Etwas das ganz tief ging, blankes Entsetzen, schwang darin.
„Versuch es!“ Ihre Stimme war schneidend. Er seufzte ergeben und begann mit dem Versuch einer Erklärung. „Ich komme aus … aus einer Zeit, die unzählige Winter nach dir liegt, verstehst du, nach dir. All mein Wissen könnt ihr hier nicht brauchen.“ Er verschwieg ihr, dass sein Wissen sie in der Entwicklung weit voran bringen könnte.
„Du lügst!“, spie sie ihm vor die Füße. Ihre Wut sprang aus den Augen und bohrte sich tief in sein Herz. Verzweifelt versuchte er es noch einmal.
„Nein, Mae, es ist die Wahrheit. Und es ist mir verdammt schwer gefallen es dir zu sagen.“
„Du lügst!“, rief sie wieder.
Jetzt war es an Alex zornig zu werden. „Glaub doch was du willst, verdammt noch mal! Ich bin es leid – ich bin es so leid, immer der Letzte zu sein, das kannst du mir glauben.“ Fast hätte er sie gepackt und geschüttelt, doch dann drehte er sich um und stapfte zornig in den Wald. Dass er barfuss war und zuwenig Kleidung an hatte, war ihm egal. Er wollte nur weg – weg von Mae und ihren Anschuldigungen.

Rasch lief er den Bachlauf entlang, das Hirn leer, die Füße wund. Immer wieder stolperte er über Wurzeln und Steine, schlug sich die Knie auf und lief weiter.
Endlich holte er sich selbst ein. Es hatte keinen Zweck. Er konnte nicht weglaufen – und schon gar nicht vor sich. Laut schreiend sank er an einer geraden Birke herab und schlug den Kopf immer wieder dagegen, bis er blutete.
„Ich will nicht immer der Letzte sein! Ich will auf gleicher Höhe stehen, nicht auf die Gnade anderer angewiesen sein, ihre Hilfe erbetteln müssen und mich dafür dumm stellen. Niet! Dmitro Smirnov, dein Sohn ist nicht dumm, er ist Akademiker! Myra Smirnova dein Sohn lebt!“, rief er den kahlen Bäumen zu, so laut, dass die Krähen aufschreckten und kreischend davon flogen. „Nein, nicht tot und nicht dumm – aber beides ist er, für alle Zeit und alle Welt“, schloss er resigniert.

Blutverschmiert lehnte er am Baum und schöpfte Atem. Der Kopf tat ihm weh, die Knie und die zerschnittenen Hände. Die Einsamkeit hatte sich durch die wissenschaftliche Analyse der Situation noch vertieft. Er beschloss hart zu werden, sich nichts mehr anmerken zu lassen. Wenn er leben wollte, musste er es tun, er musste eine Mauer errichten, die dicker war als je zuvor. Ganz tief musste er sich zurück ziehen. Es genügte, wenn er funktionierte. Zumindest hoffte er es.

Fest entschlossen stand er auf. Atmete ein paar Mal tief durch, straffte sich und ging langsam zum Lager zurück. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, sie musste die Mittagsstunde bereits überschritten haben. Am Platz vor der Höhle sprudelte es vor Leben. Groch hämmerte an seinen Steinen. Eine Frau schimpfte ein Kind. Felle wurden ausgeschüttelt. Jemand hatte draußen den Feuerplatz gerichtet, darum hockten Leute, tranken Tee und unterhielten sich. Einige Frauen hatten eine Antilopenhaut zum Trocknen aufgespannt. Alex beobachtete das alles. Er roch das Feuer, die Leute, das Leder, das Fleisch.
Die Eumerier ernährten sich nur von synthetisch hergestellten Lebensmitteln und so mussten alle, die für sie arbeiteten es auch tun. Er konnte die ersten Wochen hier kein Essen bei sich behalten. Nur langsam hatte sich sein Magen an das ungewohnte tierische Eiweiß gewöhnt und den Geruch des frischen Tierblutes konnte er immer noch schwer ertragen.
Dann sah er sie. Sie stand im Höhleneingang. Wie eine Göttin kam sie ihm vor, eine Rachegöttin. Als sie ihn sah drehte sie sich um und ging hinein.

Stumm ging er an den anderen vorbei in die Höhle, hin zu ihrem Feuer. Dort verharrte er in demütiger Haltung bis sie ihn ansah. „Es tut mir leid“, sagte er schließlich leise. „Ich habe gelogen. Du hast recht.“ Sie nickte nur und er ging müde zu seinem kleinen Lager. Dort rollte er sich zusammen und zwang sich zu schlafen.

Ich bin hart geworden – beinhart ist meine Schale. Nichts kann sie durchdringen. Nur so kann ich überleben. Mein Glaube an die Menschen ist versiegt. Ich glaube nichts mehr.
Irgendwann werden mich die wilden Tiere zerfleischen, wenn ich es nicht vorher selber mache. Ich habe gelernt mich selbst zu verleugnen, ich bin der letzte in der Reihe, der letzte meiner Ahnen – dabei wollte ich nur auf gleicher Höhe stehen.
Aber es gibt kein Zurück – die Zukunft muss ihren Lauf nehmen.

nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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„Stehenbleiben! Sie sind festgenommen!“
Erik und Agnes rannten sie schnell sie konnten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Agnes übernahm die Führung. Sie hatte verschiedentlich Durchgänge im Mauerwerk gesehen, durch so einen zwängten sie sich jetzt und hielten atemlos inne.
„Was jetzt?“, fragte sie.
„Keine Ahnung. Wo führt der Durchbruch hin?“
„Das weiß ich nicht. Es sieht so aus, als würde er noch weiter hinab führen. Es bleibt uns keine Wahl, lass uns hineingehen. Einen anderen Weg sehe ich nicht.“
„Warte.“
Agnes blieb stehen und drehte sich um, da nahm Erik sie in den Arm und drückte sie fest an sich. „Ich bin froh, dass du hier bist.“
„Geht mir auch so.“
„Jetzt geht’s wieder.“
Hintereinander und gebückt stiegen sie über Geröll. Vor ihnen tat sich ein schmaler Pfad auf, dem sie folgten. Er führte in ein unbekanntes Kellersystem. Immer wieder stießen sie mit den Köpfen oder den Füßen an herabhängende oder am Boden liegende Steinbrocken. Vorsichtig geworden tasteten sie sich Schritt um Schritt vor. Immer wieder blieben sie stehen und lauschten, ob von oben etwas zu hören war. Sie hofften, die Polizei abgehängt zu haben, wagten aber nicht, eine Pause einzulegen.

Plötzlich ging es nicht mehr weiter. Agnes hielt mit rudernden Armen vor einem Abgrund. Einzig Eriks rasche Reaktion hatte sie vor einem Absturz bewahrt. Jetzt standen sie da und starrten in den Schacht vor ihnen. Es war dort unten noch dunkler als die Dunkelheit, die sie umgab.

Agnes ging einige Schritt rückwärts und sank an einer Mauer herab. Dort blieb sie sitzen, vergrub den Kopf in den Händen und schluchzte wild und hemmungslos. Erik blickte sie hilflos an. Dann überwand er sich und legte tröstend einen Arm um sie.

„Was’n da los? Radau! Radau im Bau!“.
Eine Stimme näherte sich und es gab keine Möglichkeit zu entkommen. Geisterhaft sah das Irrlicht aus, das die Stimme vor sich her trug.

„Erik, ich habe solche Angst“, flüsterte Agnes. Noch nie hatte sie solche Angst verspürt wie seit dem Zeitpunkt als die Militärpolizei aus den Räumen gesprungen war und sie vorhin beinahe in den Abgrund gestürzt wäre. Das Herz hämmerte zum Zerspringen und in ihrem Kopf pochte es, als wollte das Hirn heraushüpfen.
„Übertrag etwas von deiner Angst auf mich“, flüsterte er zurück.
„Das kann ich nicht.“

„Wo is’n da Radau her? Hm? Wer’n da? Wo bist? Miezmiez … komm her“, sprach die Stimme wieder, nun in einem eher lockenden Tonfall.

Das Licht näherte sich und bald würden sie in seinem Lichtschein zu erkennen sein, selbst aber nichts erkennen können. Agnes drückte ganz fest die Hand ihres Begleiters und schaffte es, sich zu beruhigen. Das Hämmern wurde zu einem etwas festeren Pochen und die Kopfschmerzen ließen ganz nach. „Danke. Ich wäre gleich hysterisch geworden“, flüsterte sie wieder. „Gern geschehen“, antwortete er ebenso leise, aber nach Atem ringend.

Nun war das Licht direkt vor ihnen und sie kniffen die Augen vor der Helligkeit zu.
„Was’n das für’n Flohzirkus hier unten? Hä? Wer seid’s ihr, hä? Hm? Sprach verschlagen? Zunge abbisse? Was’n los? Sitz’n da wie de arme Seel, de de Höll ned will.“
Der Redeschwall verblüffte sie. Es war schwer, der Stimme zu folgen. Sie brummte immer wieder und der Dialekt war ihnen fremd.
„Wir kommen von oben“, sagte Erik schließlich. „Ich bin Erik und das ist Agnes. Können Sie uns helfen, hier wieder rauszukommen?“
Die Stimme lachte. „Hä, raus wollt’s ihr? Einfach Weg zurück. Nix leichter als des. Hähähä.“
„Den Weg können wir nicht nehmen. Wir brauchen einen anderen.“
„Aso ist das. Dann kommt’s amal mit. Werdet ihr verfolgt von den Schwarzen Wächtern?“
Zuerst wussten sie nicht, wen der Alte meinte. Aber dann fielen ihnen die schwarzen Uniformen der MP ein und Erik bejahte.
„Dann kommt’s mal mit. Ist nicht oft, dass wir hier Leut von oben sehen.“
Der Lichtkegel wurde von ihren Gesichtern genommen und in die Richtung geschwenkt aus der er gekommen war. Jetzt sahen sie eine gebeugte, sehr blasse Gestalt nur in einen Lendenschurz gekleidet vor ihnen hergehen. Um nicht den Anschluss an das freundliche Licht zu verlieren stolperten sie einfach hinterher. Es ging an dem Abgrund vorbei, tiefer hinab. Noch immer war zu beiden Seiten das uralte Mauerwerk zu erkennen. Agnes bemerkte, dass sie auf zerbröckelten Stufen hinabgingen, also musste der Abgrund ein eingebrochener Liftschacht sein. Sie schauderte bei dem Gedanken, dass sie beinahe hinab gefallen wäre. Erik berührte sie sanft an der Schulter und sie fühlte seine Sicherheit auf sie einströmen.

Lang stolperten sie dem Irrlicht hinterher und lauschten den sonderbaren Reden des Mannes vor ihnen. Er redete wirr daher. „So’n Radau, dacht’ ich, muss nachschauen. Die da oben, alle Plemplem, dacht’ ich. Jaja, plemplem.“ So in der Art ging es dahin, bis sie ebenen Grund erreichten. Dann atmete der Alte hörbar auf und beendete das Selbstgespräch.
„Halloho, ich hab heute was gefunden!“, rief er, dass es hallte.
Sofort strömten eine Menge blasser Menschen, alle nur dürftig gekleidet, auf den freien Platz. Nur wenige Lichter wurden angemacht. Sie konnten nur schemenhaft die Menschen sehen. Aber ihre Blässe schien im Dunkeln zu strahlen.
Agnes klammerte sich an Erik. Wieder fühlte sie Angst.
„Was ist das hier? Was sind das für Menschen?“, fragte sie flüsternd. Dennoch wurde sie gehört. Gelächter antwortete.
„Ihr braucht keine Angst zu haben, hier seid ihr vor den Schwarzröcken sicher“, sagte der Mann. Jetzt sah Agnes, dass er nicht alt war. Seine Haare waren weiß, wie auch die Haut, die Augen waren aber erschreckend. Noch nie hatte sie rote Augen gesehen.
Wie konnten diese Menschen in dieser Dunkelheit überleben? Wie waren sie überhaupt dorthin gekommen? Diese Fragen gingen Erik durch den Kopf, während er die Umstehenden betrachtete. Sie wurden ebenso verwundert gemustert. Hier unten hatten sie schon lange keinen mehr aus den oberen Bereichen gesehen.
„Euer Körper hat sich dieser Umwelt hier angepasst, nicht wahr?“, wagte Erik schließlich die Frage, die in ihm brannte seit er diese Menschen gesehen hatte. „Und wie seid ihr hierher gekommen?“
„So ist es. Kommt erstmal mit in meine Wohnung“, sagte der Mann, der sie gefunden hatte. „Ihr seht aus, als könntet ihr einen guten Schluck vertragen.“ Kichernd ging er voran.

Die Wohnung war erstaunlich luxuriös eingerichtet. Besser als so manches Quartier auf der Oberfläche. Es gab Polstermöbel zum Hinsetzen und schöne große Betten. „Das nennt man Grand lit“, erklärte er augenzwinkernd, als er den Blick der beiden bemerkt hatte. „Aber wahrscheinlich wisst ihr gar nichts damit anzufangen. Ihr tut mir leid, ihr Oberflächenheinis. Ach ja, ich heiße Robert Nielsson und wie sind eure Namen?“ Er drehte sich um und schaute sie der Reihe nach an.
„Ich bin Erik Landmann und das ist Agnes Lindstrom. Können wir uns irgendwohin setzen? Ich bin verdammt müde.“
„Klar doch. Ihr Oberflächler, haltet auch wirklich keinen kleinen Marsch aus“, sagte er und wies ihnen bequeme Sessel zu.
„Und jetzt einen guten Schluck, Leute, dann erzählt ihr mir, was euch hierher führt.“
Robert Nielsson stellte eine Flasche mit durchsichtigem Inhalt auf den Tisch, dazu winzige Gläser, die er bis zum Rand füllte.
„Prost“, sagte er und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter.
Agnes und Erik taten es ihm gleich, husteten und würgten anschließend.
„Huh! Was ist das für Zeug“, brachte Erik schließlich heraus. „Boah, ist das scharf!“
„Schnappes, nennen wir es. Wir erzeugen es aus Dunkelweizen, es ist eine eigene Züchtung, die nur hier unten gedeiht.“ Stolz war aus seiner Stimme zu hören, als er von der Züchtung berichtete. „Wir stellen auch Brot her und verschiedene Gemüsesorten, die unter der Erde wachsen. Mittlerweile haben wir auch Obstbäume so weit kultiviert, dass sie mit dem wenigen Licht auskommen, das wir hier haben.“
„Toll. Ich habe noch nie ein natürliches Produkt gegessen oder getrunken.“
„Und ich schon lange nicht mehr. Schau mich nicht so an, ich war regelmäßig auf dem Schwarzmarkt“, sagte Agnes. Der ungewohnte Alkohol hatte ihre Zunge etwas gelöst.
„Du hast was?“, fragte Erik und lachte laut los. „Das hätte ich mir denken können.“
Während sie redeten und von ihrer Flucht berichteten, füllte Robert die Gläser wieder und wieder. Mit der Zeit begann ihnen der feurige Geschmack immer weniger auszumachen. Agnes merkte, wie sie die Gefühle der Männer aufnahm. Robert war neugierig und wollte ihnen wirklich helfen. Eriks Gefühle erschreckten sie ein wenig. Es war eine Mischung aus unbändigem Hass auf das Regime, den er keine Sekunde ablegen konnte, Zorn auf seine Erzeuger und auf sich, weil er das war was er war und dann war da noch das unbekannte, warme Gefühl, das sie selbst immer öfter überkam, wenn sie ihn ansah. Schläfrig geworden lehnte sie sich an ihn, während Robert von den Errungenschaften seiner Leute erzählte. Sie hörte nicht mehr zu, sondern lauschte den Emotionen. Noch nie hatte sie ihre Fähigkeit so intensiv erlebt. Erik schien etwas davon abzubekommen. Ständig nahm er einen Teil ihrer Gefühle auf und kompensierte sie, besonders als sie diese ohnmächtige Angst verspürt hatte.
„Ich überlasse euch für heute mein Bett. Ihr seht wirklich hundemüde aus, ihr beiden. Eure Geschichte könnt ihr morgen ausführlicher erzählen. Die werden dann wohl mehr Leute hören wollen.“ Robert schob sie in sein Schlafzimmer und ging grinsend davon. Endlich hatte er einmal eine sensationelle Entdeckung gemacht. Vielleicht konnten diese beiden ihnen helfen. Das würde er morgen in Erfahrung bringen. Er genehmigte sich noch einen Schnappes.

Agnes staunte über den Luxus des großen Bettes und warf sich übermütig darauf.
„Du siehst glücklich aus“, sagte Erik sanft und legte sich neben sie.
„Ja, komischerweise fühle ich mich gut, auch wenn sich in meinem Kopf alles dreht und ich weiß, dass sie uns töten werden, wenn sie uns finden. Ich fühle mich lebendiger als je zuvor.“ Sie begann zu lachen und wandte sich Erik zu.
„Ich weiß was du meinst. Mir geht es genauso.“ Zärtlich strich er ihr das Haar aus dem Gesicht. „Du bist wunderschön, Agnes.“ Zögernd näherte er sich ihr, so weit bis seine Lippen ihre Wange berührten. Immer wieder tat er das, sie blieb ganz ruhig liegen und ließ es geschehen. Dann drehte sie den Kopf und erwiderte die scheuen Küsse, bis sich endlich ihre Lippen fanden. Sie hielten und küssten sich, genossen das beginnende Spiel ihrer Körper. Wie selbstverständlich entkleideten sie sich. Keinen Moment wollten sich dabei ihre Münder voneinander lösen. Sie hatten beide keine Vorstellung was mit ihnen geschah, reagierten einfach auf die Signale und gingen darauf ein. Gierig saugten sie sich auf und erkundeten die unbekannte Landschaft des anderen. Nacktheit war etwas Verpöntes und Kontakte zwischen den Geschlechtern gab es so gut wie nie. Von dem was sie gerade taten, hatten sie noch nie gehört und sie wussten, dass es verboten war.
Agnes hatte sich selbst noch nie in dem Ausmaß gespürt, wie sie es jetzt tat. Sie fühlte auch Eriks Erregung und ging darauf ein. Nicht nur ihre Körper verschmolzen zu einem, auch ihre Gedanken taten sich zusammen und verbanden sich zu einem einzigen.
„Ich liebe dich“, schrie Erik schließlich den einen Gedanken raus und drückte Agnes ganz fest an sich. „Ach, ich liebe dich auch“, nuschelte sie in seine Brustbehaarung. „Das war schön. Warum ist es verboten?“
„Wahrscheinlich, weil es die Menschen näher zueinander bringt, oder weil es die guten Gefühle offenbart. Ich weiß es nicht.“ Er legte sich ganz nah an Agnes ran und streichelte sanft ihren Körper. Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl, die Berührung, das Geborgensein, den Geruch und die Gedanken des Mannes neben ihr.
„Sie unterdrücken uns, beschneiden unsere Freiheit, unseren Willen und verneinen die Gefühle. Wir müssen denken was sie uns zu denken erlauben! Es macht mich rasend, wenn ich nur daran denke.“ Erik lag da und begann zu weinen. Noch nie hatte er der Trauer in sich Raum gegeben. Die körperliche Vereinigung hatte die Schleusen zu den anderen Bereichen geöffnet und jetzt musste er lernen damit umzugehen.
„Weißt du“, begann er, als er sich wieder gefangen hatte. „Die haben mich zu einer Tötungsmaschine gemacht. Ich habe es gesehen und gefühlt, als ich den Aufseher manipuliert habe. Es ist schwer, dem Impuls jemanden so zu verändern, dass er andere umbringt oder sich selbst, nicht nachzugeben. Die ganze Zeit muss ich mich konzentrieren, um ja nicht in den Kopf von irgendwem einzudringen und ihm zu befehlen, dass er aus dem Fenster springen soll. Es wird schlimmer, Agnes, es wird immer schwerer zu kontrollieren.“ Verzweifelt wandte er ihr den Rücken zu. Er schämte sich für die gezeigte Schwäche, die Trauer. Aber Agnes fühlte viel mehr. Sie spürte die Kraft eines eisernen Willens, der das System nicht gewinnen lassen wollte und etwas Neues, noch immer Unbekanntes.
„Erik, dreh dich wieder um. Vor mir kannst du dich nicht verstecken. Du hast mir damals das Geschenk deiner Gedanken gegeben. Jetzt möchte ich dir etwas geben. Sieh mich an – ich werde dir deine Gefühle zeigen.“
Zögernd drehte er sich wieder um. Ganz nah rückte sie nun an ihn, nahm sein Gesicht in die Hände und blickte ihm in die Augen.
„Lieber, ich weiß zwar nicht, wie man das macht, aber ich werde es versuchen. Du sollst deine Gefühle sehen – es sind gute Gefühle, weil es deine sind. Erschrecke bitte nicht, wenn es etwas wirr wird. Ich habe das noch nie gemacht und lasse sie jetzt frei …“
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihn. Nun sah sie, was sie ihn sehen lassen wollte.
„Agnes, was zeigst du mir?“, fragte er verzweifelt, als er alle Gefühle vor sich ausgebreitet wahrnahm. „Ich zeige dir, dass du mehr bist als eine Killermaschine. Du bist das, was du aus dir gemacht hast – was du geworden bist, weil du anders fühlst, als sie es von dir verlangen. Du bist ein guter Mensch. Ohne zu zögern hast du dein Leben riskiert um Leute zu retten, die du nicht kanntest. Ich liebe dich, mit der ganzen Unordnung in dir drinnen. Und jetzt sollen sie kommen und mich umbringen – dafür lohnt es wenigstens zu sterben. So habe ich dann wenigstens einmal im Leben geliebt.“
Nach dieser Rede verschränkte sie die Arme vor der Brust und machte energisch: „Hm!“
„Ach, du bist schon ein ganz besonderer Mensch“, meinte er nach einer Weile des Schweigens. „Du hast ganz Recht mit dem was du gesagt hast. Ich bin auch froh, lieben zu können. Was meinst du, wollen wir der Welt die Liebe wieder zeigen? Wir jagen das Labor in die Luft und dann machen wir die Tür auf für die Liebe.“
Er hatte ganz begeistert gesprochen und schaute sie jetzt aus treuherzig blickenden Augen eifrig Zustimmung heischend an.
„Das hört sich nach einer verdammt guten Idee an, Herr Landmann“, sagte sie lächelnd.
Sie machten es sich eng aneinander geschmiegt in diesem großen, weichen Bett bequem und jeder hing seinen Gedanken, ganz für sich alleine, nach. Nur durch eine dünne Wand waren sie voneinander getrennt. Aber sie brauchten das, die Sicherheit des eigenen unbeobachteten Raums und dennoch die fühlbare Nähe des anderen.
Erik begann damit sich wieder als normalen Menschen zu betrachten. Systematisch versuchte er, diese destruktiven Gedanken in sein Ich einzubauen, sie anzunehmen, als Teil seiner selbst. Er wusste, würde er das nicht schaffen, dann hätte das Establishment gewonnen.
„Ich will keine Killermaschine sein“, murmelte er bevor er einschlief und in einem tiefen Schlaf für eine Weile Vergessen fand.
Agnes klammerte sich im Schlaf an ihn, so als hätte sie Angst noch jemanden zu verlieren den sie mochte und der sie mochte.

Sie merkten es nicht, als gegen Morgen Robert eintrat und sie zudeckte. Er hatte einiges von dem Gespräch der vergangenen Nacht mitbekommen und sich seinen Reim darauf gemacht. So begann er mit den Vorbereitungen für ein besonderes Frühstück. Er tischte alle Leckereien auf, die er auf die Schnelle auftreiben konnte und holte dann den Bürgermeister. Als alles vorbereitet war, weckte er die Gäste.

Sie wurden vorgestellt und dann bekamen sie Ehrenplätze zugewiesen. Den beiden war es unangenehm, so bevorzugt behandelt zu werden.
Nachdem sie alle etwas gegessen und getrunken hatten, kam Robert zur Sache: „Ich habe euch heute Nacht zugehört. So wie ich das verstanden habe, seid ihr gegen eure Regierung. Bei uns verschwinden immer wieder Menschen. Es kommen von oben schwarz gekleidete Typen, die sich ein Kind schnappen und dann schnell wieder verschwinden. Was haben die mit unserem Nachwuchs vor?“

Agnes schaute Erik erstaunt an, dieser konnte seinen Ekel vor dem eigenen Volk kaum mehr verbergen. „Ich weiß nicht, was sie vorhaben, aber wir werden es herausfinden“, brachte er mühsam heraus. Blindlings griff er nach Agnes Hand, wieder drohte die Wut übermächtig zu werden. „Ihr müsst uns zeigen, wo sie eindringen, dann überlege ich, was wir tun können.“
Es herrschte eine Weile betretenes Schweigen. Mit der spontanen Hilfsbereitschaft hatten die Menschen hier nicht gerechnet.
„Ich habe es gestern schon gefragt, wie seid ihr hier hergekommen?“, fragte Erik. Er war noch immer neugierig. Auch war es wichtig, alles über die Leute hier in Erfahrung zu bringen, dann konnte er vielleicht einen Grund für die Entführungen finden, ohne lange suchen zu müssen.

Nun sprach der Bürgermeister: „Wir sind schon seit vielen, vielen Generationen hier unten.“ Er richtete den Blick nach innen und sah gleichzeitig in die Ferne. Diese roten Augen, die hier alle hatten, leuchteten unheimlich in dem Halbdunkel.
Er erzählte, wie nach dem großen Unglück, das die Hälfte der Weltbevölkerung umgebracht hatte, hier viele, viele Menschen eingeschlossen worden waren. Hier unten hatte sich ihnen eine neue Welt aufgetan. In vielen Generationen hatten sie gelernt hier zu überleben, nun konnten sie nicht mehr ins Sonnenlicht zurück, die Haut würde verbrennen. Sie wussten nicht, ob an der Oberfläche jemand die Katastrophe überlebt hatte und wie es dort aussah. Es gab auch keinen Weg hinaus. So richteten sie sich hier ein und begannen sich dieser neuen unbekannten, dunklen Umwelt anzupassen. Wahrscheinlich änderte sich ihre Genstruktur. Sie wussten es nicht, fanden es auch nicht wirklich erstrebenswert das zu erfahren.
„Zu viel Wissen über die Dinge, hat in der Vergangenheit vieles kaputt gemacht. Es wurde gelogen und betrogen und die Welt zerstört. Ich habe es in den alten Büchern gelesen. Wir haben hier unten eine gut bestückte Bibliothek und die Luftfeuchtigkeit ist konstant, also sind Papier und Druck noch soweit in Ordnung, dass man sie ab und zu herausnehmen und lesen kann. Wir haben nicht vor, die gleichen Fehler zu machen, wie früher und die ihr wiederholt“, schloss der Mann.
Eine Weile war es ruhig am Tisch. Robert reichte noch einmal eine Kanne mit dampfendem Tee herum. Dann sagte Erik ganz unvermittelt und richtete sich kerzengerade auf: „Es gibt jemanden, der zurückgekommen ist, nicht wahr?“
Der Bürgermeister verschluckte sich am Tee und hustete alles über den Tisch. Robert hielt mitten in der Bewegung inne. Er fing sich als erster wieder, atmete ein paar Mal tief durch und sagte dann: „Ich nehme mal an, ich habe zu stark an ihn gedacht, sonst hättest du es nicht gemerkt. Ja, es ist vor einigen Tagen ein junger Mann zurück gekommen. Er war vor einigen Wochen entführt worden. Plötzlich, wir hatten schon die Hoffnung aufgegeben ihn je wiederzusehen, stand er vor uns. Seitdem ist er da und auch nicht, wenn du verstehst was ich meine. Er liegt oder sitzt in einer Ecke, wiegte den Oberkörper vor und zurück und brabbelt vor sich hin.“
Erik war kreidebleich geworden, fast so weiß wie die Unterweltbewohner, sogar die Lippen hatten die Farbe verloren. Agnes hielt die Luft an und kämpfte mit den Tränen. Sie nahm die Gefühle der Leute wahr und konnte sie nicht mehr zurück drängen, es waren einfach zu viele.
„Kann ich zu ihm? Vielleicht kann ich ihm helfen.“ In Erik war eine Idee gekeimt, wenn er die Gedanken des Jungen erreichen konnte, sah er vielleicht wo die Kinder waren und was mit ihnen gemacht wurde. Unter Umständen vermochte er so dem Kranken zu helfen. Es hörte sich nach einem großen psychischen Schock an, was der junge Mann erlitten hatte.
Der Bürgermeister und Robert zögerten mit einer Antwort. Sie wollten Hilfe, aber was würde der fremde Mann mit einem der ihren machen? Was, wenn alles schlimmer wurde? Erik konnte das alles an ihren Gesichtern ablesen, dafür brauchte er sein Talent nicht. Agnes fühlte die plötzliche Unsicherheit und Reserviertheit sofort. Etwas war anders geworden. War es Eriks Frage?
„Ich werde ihm nicht wehtun und ihr habt recht, es gibt keine Garantie, dass ich ihm helfen kann. Unter Umständen wird es schlimmer.“
Er schaute den anderen Leuten am Tisch direkt ins Gesicht, einem nach dem anderen. Endlich gab der Bürgermeister nach.
„Na schön, du kannst zu ihm. Robert führ ihn hin und pass auf, dass er Will nichts antut.“

Wortlos erhob sich Robert und Erik folgte ihm. Als auch Agnes mitgehen wollte, schüttelte der Bürgermeister den Kopf. „Bleib hier, das sollen die beiden machen. Ich mag nicht, dass zu viele Leute um Will sind. Er ist schon unsicher genug.“
„Ich wollte eigentlich nur Erik helfen, es wird ihm viel Kraft kosten.“
Der Bürgermeister tat es mit einer Handbewegung ab. „Ihr seid einfach schwächlich, wenn euch der Anblick eines Kranken schon Kraft kostet.“ Es wurde verächtlich am Tisch gelacht. Diese Ungerechtigkeit machte jetzt Agnes wütend.
„Ihr sprecht von Dingen, von denen ihr keine Ahnung habt. Er wird in den Geist des Jungen eindringen und erleben, was er erlebt hat. Er wird ihm die Erinnerung daran nehmen und sie in sich aufnehmen. Es ist dann für euren jungen Mann so, als wäre nie etwas passiert und Erik …“ Sie konnte nicht mehr weiterreden. Das Vorhaben ihres Freundes erschütterte und entsetzte sie. Hastig trank sie den Rest kalten Tees bevor sie fort fuhr: „Ihr wisst nicht, wie viel Kraft das kostet.“
Jetzt war es am Bürgermeister betreten zu Boden zu schauen. Er sagte nichts mehr dazu, sondern stand auf und winkte Agnes, ihm zu folgen.

Will saß in einer Ecke des Zimmers und wippte vor und zurück. Als er die Ankömmlinge bemerkte wurde er schneller und begann an den Fingernägeln zu kauen. Erik ging in die Hocke und setzte sich dann vor den jungen Mann. Er mochte Anfang zwanzig sein. Ganz langsam streckte er die Arme aus und wies mit den Handflächen nach oben, dann beugte er den Kopf vor dem Jüngeren und begann ebenfalls zu wippen. Kurz nur hielt Will inne, dann ging sein Körper wieder in den gewohnten Rhythmus über.
Erik rückte ein Stück weiter vor. Ganz langsam näherte er sich. Er wusste, dass er für den jungen Mann ein Bild des Schreckens war, hatten doch seine Peiniger genauso ausgesehen. Es dauerte lange bis er die Hand fassen konnte. Die Berührung war federleicht. Dann war Erik in seinem Kopf. Er musste schnell handeln, bevor ihn der Mut verließ oder Will ihn fort stieß. Was er da in sich aufnahm war mehr, als er glaubte ertragen zu können. „Ah! Hört auf!“, rief er immer wieder, bis er selber eine Berührung spürte. „Lass mich mittragen, Erik“, flüsterte Agnes und nahm einen Teil des Schmerzes. Ganz genau beobachtete sie den jungen Mann. Seine Augen wurden wieder gegenwärtig und er hielt mitten in der Bewegung inne. Dann sah er Erik an und wollte zu schreien anfangen, nur wusste er nicht mehr so genau, wovor er sich fürchten musste. „Robert, was geht hier vor?“, fragte er stattdessen.
Sich mühsam unter Kontrolle haltend löste Erik die Verbindung und stand zitternd auf. Stumm ging er hinaus und auf die Stufen zu, die zum Abgrund führten. Jeder Schritt war von einem heftigen Beben begleitet, sodass er kaum vorwärtskam. Agnes eilte ihm hinterher. „Erik! Bitte, bleib stehen!“, rief sie ihm nach, aber er war schon außer Sicht.
Blind vor Schmerz und Scham stieg er die kaputten Stufen hinauf. Auf halber Höhe brach er zusammen und begann zu weinen. Immer wieder schlug er den Kopf gegen die Wand, in der Hoffnung diese Bilder aus sich herauszubekommen.
So fanden ihn schließlich Agnes, Robert und der Bürgermeister.
„Ich habe dir gesagt, dass es ihm zuviel wird. Ich bin zu spät gekommen, da hatte er schon alles aufgesogen“, sagte Agnes anklagend. Dann setzte sie sich neben Erik und nahm ihn in den Arm. „Gib mir was davon, mein Lieber. Du brauchst es nicht allein zu tragen.“ Sie strich ihm übers Haar, die Wangen und drückte ihn ganz fest an sich. So saßen sie zusammen und weinten beide über das Unglück dieser Kinder. Die beiden Männer zogen sich zurück und gingen wieder in die Siedlung. Sie wollten kontrollieren, ob es dem jungen Mann auch wirklich gut ging.

Langsam durchdrang Agnes den Nebel, der sich um Eriks Geist gelegt hatte und sie kam zu seinem wahren Selbst. „Mein Lieber, lass mir einen Teil der Bilder und komm wieder zurück zu mir“, sagte sie.
„Ach, Agnes – so etwas sollte keiner sehen müssen, so etwas darf nicht mehr passieren“, flüsterte er heiser. „Ich werde Frederik Hauser töten und dann sein Labor in die Luft jagen und die ganzen Verantwortlichen. Ich schwöre, dass ich das tun werde oder beim Versuch dabei sterben.“ Seine Stimme war hasserfüllt und steinhart.
„Ich weiß. Und wenn du das Scheusal nicht kriegst, dann stirbt er durch mich. Ich werde ihn fühlen lassen, was er anderen antut. Ich werde, ich werde …“
Eriks Erinnerungsbilder hatten sich mit den Bildern der Vergangenheit vermengt und steigerten ihren Zorn auf die Wissenschafter, die Kinder quälten.
„Agnes, hör auf, hör auf. Ich hab mich schon wieder in der Gewalt. Komm lass uns zurückkehren.“ Er hatte tapferer gesprochen als er sich fühlte. Vor dem geistigen Auge hatte er noch immer die Käfige, in denen die Kinder und Jugendlichen eingesperrt waren. Sie kauerten nur herum, manchen war die Haut durch die ständige Lichteinwirkung verbrannt und die Wunden eiterten. Andere hatten entzündete Augen, oder sie fehlten ganz. Alle waren kahlgeschoren und hatten Sonden die ins Hirn ragten. „Versuche am lebenden Menschen. Agnes, hilf mir auf. Ich kann mich nicht bewegen und ich sehe nichts mehr.“ Er flüsterte nur noch.
Sie stand auf und zog ihn auf die Beine. Schwankend kamen sie vorwärts. Erik tastete mit den Füßen den Boden nach Unebenheiten ab. Schwer stützte er sich auf sie.
„Wieso tun die das, Liebes? Warum?“ Das fragte er die ganze Strecke zurück und Tränen tropften die Wangen hinab.
„Wir sind gleich bei Robert, dort kannst du dich hinlegen und ausruhen. Bitte, Erik, noch ein paar Schritte, dann haben wir es geschafft“, sagte sie drängend und schmeichelnd. „Fünf Schritte und wir sind bei der Tür. Eins, zwei .. Siehst du, jetzt sind wir da. Ich öffne jetzt. Vorsicht, da ist eine Stufe und zieh den Kopf etwas ein, der Türstock ist niedrig.“ Sie zog ihn vorwärts und hielt ihn dabei aufrecht. Schwer lag sein Gewicht auf ihren Schultern. „Nur noch ein bisschen, Erik, es ist nicht mehr weit, dann kannst du dich ausruhen.“ Auch sie weinte die ganze Zeit über. Alle Gefühle nahm sie filterlos wahr. Es tat ihr noch einmal so weh, weil er litt und keiner der Bewohner dieser Siedlung half. Dann kam endlich Robert angelaufen und trug Erik ins Schlafzimmer. Sie legten ihn ins Bett und deckten ihn zu. „Ich kann nichts mehr sehen, nur die Bilder, die ich von ihm genommen habe. Agnes, bist du da? Wo bist du?“
Sie nahm seine Hand und sagte: „Ich bleibe bei dir. Ganz nahe, so wie du es brauchst.“
Auch Robert blieb und starrte sie verwundert an.
„Alle sind bei Will, dabei hättet ihr Hilfe nötiger gehabt. Es tut mir leid. Du hast ihm den Verstand zurückgegeben, aber zu welchem Preis? – Ich hole uns was zu trinken.“ Damit stand er auf und kam mit der Schnappesflasche und drei Gläsern zurück. Agnes hatte sich ganz nah an Erik gelegt. Er sollte sowohl ihren Körper als auch ihren Geist fühlen, damit er wusste, dass er nicht alleine war.
„Robert, schließ bitte die Haustür ab und wenn es dir nicht peinlich ist, dann leg dich auf die andere Seite ganz dicht an Erik ran. Er braucht die Nähe von freundlichen Menschen, um wieder zu sich zu finden.“
Verwundert tat er was ihm aufgetragen worden war. Als sie dann zu dritt dalagen und von dem feurigen Zeug tranken, fragte er: „Was seid ihr für Menschen? So jemanden wie euch habe ich noch nie gesehen.“
„Wir wollen uns nicht mehr manipulieren lassen. Wir wollen unser Leben selbst gestalten. Ich wurde ebenso entführt wie eure Kinder und in die Armee gesteckt. Erik ist von klein auf gemieden worden, wegen Fähigkeiten die er nicht wollte und erst jetzt zu verstehen beginnt. Er ist als Waffe erzeugt worden. Wir sind beide nicht so, wie sie uns geplant haben – Fehlkonstruktionen, wenn du so willst. Wenn uns das Militär oder ganz gleich wer, erwischt, dann sind wir tot. Sie werden uns auf der Stelle abknallen, einfach so und sie haben das Recht auf ihrer Seite, auf Desertion steht die Todesstrafe.“
„Seid ihr Soldaten?“ Robert wurde immer verwirrter.
Sie nickte nur mehr. Ihr stand nicht mehr der Sinn nach reden. „Ich werde dir später alle Fragen, die du noch hast beantworten. Sieh nur, Erik wird immer blasser. Wir müssen uns um ihn kümmern.“
„Was muss ich tun?“
„Leg dich enger an ihn ran und halte seine Hand, dann versuche schöne Gedanken auszustrahlen. Ich mache es auch so.“
Sie lag fast auf ihm und strich ihm über den Kopf. „Ich liebe dich“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Wach wieder auf, bitte.“
Es dauerte Stunden bis er sich ganz langsam zu rühren begann. Robert hielt seine Hand umklammert und war dabei eingeschlafen, Agnes Gewicht drückte auf seine Seite.
„He, wie geht’s dir?“, fragte sie und machte ihm mehr Platz.
„Danke. Oh, das war einfach nur schrecklich. Aber ich glaube, ich habe es verkraften können. Es ist aber noch immer in mir. Ich habe Angst, Agnes, dass ich langsam die Kontrolle verliere. Je stärker der Hass in mir ist, desto dünner wird die Barriere, die mich vom Killer trennt.“
Sie sah die Angst in seinen Augen und begann sie wegzuküssen. „Gegen den Hass schicken wir die Liebe ins Feld“, sagte sie und küsste ihn erneut. An Robert neben sich verschwendeten sie keine Gedanken, als sie erneut ihre Körper auf ein noch immer unverstandenes Verlangen reagieren ließen. „Lass dich auf mich ein, Erik, ich werde dich auffangen“, flüsterte sie. So war es. Heftig klammerte er sich an sie und gab seiner Liebe in einer Form Ausdruck die er weder verstand noch verstehen wollte. Aller Hass in ihm schrie dagegen an. „Lieb mich, bitte, lass mich dich fühlen als ganzes. Ich halte das nicht mehr aus!“, keuchte er. Da fühlte er neben sich Robert und bezog ihn ein. Der wollte sich erst erschrocken losreißen, doch etwas in Eriks Gesichtsausdruck ließ ihn innehalten. „Haltet mich, bevor ich mich auflöse und hier alles in Schutt und Asche lege – Agnes!“
Sie nahm nur einen Bruchteil der Gefühle wahr, die in ihm tobten und zu überwältigen drohten. Dann wusste sie, was sie zu tun hatte. Letzte Nacht hatte es geklappt, also würde es auch diesmal funktionieren. Es musste einfach! Sie merkte, dass Robert immer unsicherer wurde, je mehr sich Erik auch an ihn klammerte und von ihm etwas forderte, dass dieser nicht geben konnte, weil er nicht wusste, wie. „Halte ihn einfach. Nimm ihn in den Arm.“ Auch Agnes atmete schwer, teils vor Verlangen, teils aus Angst um Erik und ihrer aller Leben. Wenn er die Mauer nicht aufrecht halten konnte, dann war alles aus.
Entschlossen drängte sie die drohende Panik zurück und suchte die Lust und die Liebe, die sie letzte Nacht gefühlt hatte. Alles projizierte sie auf Erik und gab sich dann selbst hin, während sie ihn gehen und kommen ließ und ihn immer wieder auffing, in ihren Armen und Gedanken. Robert wurde in den Taumel mitgezogen. Auch er verlor die Scheu und klammerte sich an Erik und Agnes, streichelte und küsste, ohne zu wissen wen. Es war gleichgültig. Einzig der Ausdruck von Nähe und Liebe zählte in diesem Moment.

Endlich ließen sie ermattet von einander, ohne sich loszulassen lagen sie Körper an Körper und ruhten in atemloser Befriedigung.

„Versuch zu schlafen, Erik und später musst du was essen. Auch wenn du nicht hungrig zu sein glaubt, du wirst immer dünner. Das ist nicht gut. Für unser Vorhaben brauchst du alle Energie, die du bekommen kannst.“
„Ich kann weder das eine noch das andere. Du weißt, dass ich alles wieder erbrechen würde. Zu schlafen wage ich aus einem guten Grund nicht, dann habe ich die Barriere nicht unter Kontrolle.“ Er klang so müde wie er aussah.
„Tut mir leid“, sagte Robert.
„Was tut dir leid?“
„Dass ich dich für einen Schwächling gehalten habe. Du bist stärker als wir alle zusammen. Sogar ich habe einige der Bilder gesehen, die du aufgenommen hast. Ihr beide schlaft jetzt und ich treibe uns etwas zu essen auf.“ Er löste sich aus der gemeinschaftlichen Umarmung, band den Lendenschurz wieder fest und ging hinaus.
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Agnes schmiegte sich noch ein bisschen enger an Erik und summte ein Kinderlied. Es dauerte lange, aber dann schlief er endlich ein. Sie wagte nicht, sich wegzubewegen um seinen unruhigen Schlaf nicht zu stören. Ein wenig döste sie dahin, dann erschreckte sie ein lauter Schrei. Es war Erik, der kerzengerade im Bett saß, sich den Kopf hielt und brüllte.

Agnes sprang auf. Sie wollte ihn halten und beruhigen, aber er warf sie von sich, als wäre sie ein lästiges Anhängsel. Er schlug mit einer enormen mentalen Kraft zu, die sie durch das Zimmer schleuderte. An der gegenüberliegenden Wand blieb sie benommen liegen und konnte es kaum fassen was da gerade passiert war.
„Haltet mich auf! Irgendwie, aber haltet mich auf! Ich fürchte …“, flehte er, dann schlug ihn Robert mit einer Bratpfanne nieder. Er hatte gerade gekocht, als er den Schrei hörte. Jetzt kontrollierte er rasch die Atmung des Bewusstlosen und half dann Agnes auf, die mit zitternden Knien vor dem Schrank saß.
„Wir müssen zusehen, dass er die Barriere geschlossen halten kann“, murmelte sie. „Er hat das die ganze Zeit über gefürchtet. Deshalb wollte er wohl nicht, dass ich mitkomme.“
Sie ging zum Bett und versuchte in seine Gedanken einzudringen, die Mauer wieder zu stabilisieren. Mehr als einen Versuch würde sie nicht haben. Sie merkte, dass er sogar im bewusstlosen Zustand mit sich rang.

Es dauerte nicht lange und er erwachte wieder. Abermals griff er sich an den Kopf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er über die Beule und schaute sich suchend im Raum um. Niemand war zu sehen. Vorsichtig stand er auf, zog sich an und ging in die Küche. Dort fand er Agnes und Robert, die schweigend aßen.
„Entschuldige, Agnes, es tut mir so leid. Ich wollte dir nicht wehtun“, sagte er traurig und setzte sich zu ihnen an den Tisch.
„Ist schon gut, Erik. Du hast es nicht mit Absicht gemacht, ich hab es doch gespürt. Ich merke, dass du auch jetzt um Kontrolle ringst“, antwortete sie versöhnlich und gab ihm von der Suppe. „Iß“, befahl sie.
Erik schaute die ungewohnte Speise lange an. Irgendwelche Pflanzen schwammen in der wässrigen Lösung. Trotz seiner Abneigung nahm er den Löffel und begann zu essen. Er wusste, dass Agnes recht hatte. Wenn er nicht aß, würde er zusammenbrechen noch bevor sie ihr Ziel erreicht hatten.
Als er mit Essen fertig war, sagte er: „Wir dürfen uns nicht mehr länger aufhalten. Suchen wir das Labor und dann …“ Agnes nickte, sie ahnte was er sagen wollte. Schließlich flüsterte er kaum hörbar: „Der Killer in mir wollte dich töten und er will es immer noch. Haltet euch so fern wie möglich von mir.“ Entschlossen stand er auf und ging. Sein Gesicht wirkte maskenhaft und starr – unbeugsam. Robert und Agnes blickten sich kurz an und folgten ihm schweigend.

Erik hatte den Weg im Kopf. Während er ging, sprach er: „Ich hätte dem Jungen nicht helfen sollen. Diese Erinnerungen …ich kann sie nicht mehr ertragen.“ Immerzu befahl er sich stark zu sein, nicht aufzugeben und die Kinder zu befreien.
Agnes folgte Erik und Robert bildete den Schluss. So stiegen sie über Geröll und kletterten eine halbverfallene Treppe hoch. Es war stockdunkel und sie mussten sich mühevoll vorwärts tasten. Zeitweise krochen sie auf Händen und Knien dahin bis sie endlich an eine ebene Stelle kamen, wo sie wieder aufrecht gehen konnten.
Während der Kletterei hatten sie geschwiegen, jetzt sagte Erik: „Wir sind bald da.“
„Soll ich dir helfen, die Barriere zu verstärken?“, wagte sich Agnes endlich zu fragen.
„Nein, es muss so gehen. Du wirst deine Kraft für dich brauchen, Liebes.“ Er klang wieder sanft, wie der Erik, der er noch vor einem Tag gewesen war.
Agnes schluckte die Tränen runter, die sie aufsteigen fühlte, verbannte die Trauer über Eriks Leid in den hintersten Winkel ihres Geistes und folgte ihm dichtauf.

Nach einigen hundert Metern kamen sie an einen Durchgang.
„Agnes, benutze deine Gabe und erspüre, ob jemand in der Nähe ist. Ich will nicht noch einmal in eine Falle laufen“, befahl er flüsternd.
Zögernd trat sie vor und sandte ihren Geist hinaus und sofort wieder zurück. Sie keuchte erschrocken und angewidert auf. „Niemand da. Nur viel Leid“, sagte sie stockend.
„Gut, dann raus hier. Bleibt alle hinter mir, haltet euch einen Fluchtweg offen“, bestimmte er.
Agnes merkte an seiner Haltung, wie eisern er den Killer unter Kontrolle hielt und sie machte sich Sorgen.

Der Gang war gerade und eben. Weiter vorne erkannten sie eine weiße Tür. Noch während sie ging, benutzte Agnes abermals ihr Talent um zu lauschen. Das Leid wurde drängender und auch eine gewisse Gleichgültigkeit konnte sie erkennen. „Wir müssen durch diese Tür. Ich hoffe, sie ist nicht gesichert“, flüsterte sie.
Die Tür war versperrt. Erik öffnete sie mit seiner Gedankenkraft, diesmal gelang es ihm ganz einfach. Die Grenze zwischen den beiden Eriks in ihm verschwamm zunehmend und er steigerte die Konzentration. Agnes wollte ihn berühren, ihm ihre Anwesenheit versichern, aber ein Blick auf den starren Körper vor ihr, und sie unterließ es.
„Wo ist sein Labor? Ihr holt die Kinder und rennt mit ihnen so schnell es geht weg von hier.“ Er schaute sie nicht einmal an, als er diesen Befehl gab. „Erik, ich möchte nicht, dass du alleine weitergehst“, versuchte Agnes ihn umzustimmen. Aber er hatte seine Wahl getroffen.
„Tu was ich gesagt habe! Befreie die Leute und bring die Liebe zu den Menschen von Eumeria.“ Er schaute ihr tief in die Augen und bekam dabei einen weichen Ausdruck im Gesicht. „Ich liebe dich“, sagte er, wollte ihr Gesicht berühren und zog ruckartig die Hand zurück. „Tut mir leid, ich wage nicht, dich anzufassen. So wird es nicht mehr funktionieren. Die Mauer ist fast gefallen. Ich merke, wie die Veränderung in mir Oberhand gewinnt. Geht – beeilt euch. Ich werde euch Rückendeckung geben.“
„Erik …“, mehr brachte sie nicht heraus. Das ganze Elend und Leid der Umgebung strahlte auf sie ein und dann noch die bittere Verzweiflung des einen Menschen, den sie so sehr liebte. Sie konnte es nicht mehr ertragen ihn anzusehen. Deshalb nickte sie, salutierte aus Gewohnheit, drehte sich zur ersten Tür und ging rein. Robert stand dicht hinter ihr. Er hatte sich aus der Diskussion heraus gehalten und war froh, wenn er wieder nachhause kam. Hier war es viel zu hell für seine Augen.
Auch er erstarrte, als er hinter Agnes das Zimmer betrat. Es stank bestialisch nach Exkrementen und Angst. Leises Wimmern kam von den Seiten. Dort standen vier Käfige in denen jeweils zwei Kinder kauerten. Vor sich hatten sie Schüsseln mit verschmutztem Wasser stehen. Gekleidet waren sie nur notdürftig in schwarze Boxershorts, die ihnen bei ihrer Magerkeit über die Hüften rutschten, wenn sie eine Bewegung wagten. Einige der Kinder hatten keine Augen, die meisten wiesen Verbrennungen dritten Grades auf und aus allen Gehirnen ragten Sonden.
Agnes drehte sich um und übergab sich hinter der Tür. „Wie können die nur? Warum nur? Was haben sie davon?“ Sie weinte als sie den ersten Käfig aufmachte, die Sonden entfernte und die Kinder an Robert weitergab.
„Es geht heim“, sagte er ruhig. „Wir holen euch heim.“
Von den Kindern konnte kein einziges mehr gehen oder gar stehen. So war Robert gezwungen sie bis zum Durchbruch zu tragen. Er gab ein Klopfsignal und hoffte, dass seine Verwandten es richtig verstehen würden und die Kinder abholten. So lief er hin und zurück bis acht Kinder in dem Durchgang saßen und warteten. Wieder gab Robert das Signal, doch da sah er schon ein sich näherndes Licht. „Ihr werdet jetzt abgeholt und nachhause gebracht, ihr Lieben. Dann sehen wir zu, dass ihr wieder auf die Füße kommt, ihr kleinen Mäuschen.“ Er versuchte Mut und Zuversicht auszustrahlen, aber einige der Kinder waren zu schwer verletzt worden, um lange am Leben zu bleiben.

Agnes hatte sich unterdessen die nächsten Räume vorgenommen. Es wurde noch schlimmer und sie ging gar nicht mehr in die Nähe der Käfige. Die Kinder waren praktisch tot. Sie schaltete die lebenserhaltenden Maschinen ab und ging wieder. Am Gang brüllte sie: „Frederik Hauser, du elendes Schwein! Komm raus du Feigling, du Kinderschänder! Mörder im Namen der Wissenschaft!“
Robert lief erschrocken zu ihr und begann sie zu schütteln. „Hör auf, sie werden die Wachen auf uns hetzen, bitte, hör auf so zu schreien. Es sind noch nicht alle in Sicherheit“, bettelte er.
„Doch! Mehr werden wir nicht mehr retten können. Sieh in die anderen Labors – dort liegen lebende Leichen.“ Agnes konnte sich nicht beruhigen und Robert wurde langsam wütend, wegen ihrer Unvernunft. Kurz entschlossen gab er ihr eine Ohrfeige, die sie zur Besinnung brachte. „Komm, wir bringen die acht Kinder nachhause“, flüsterte er und zog sie mit sich.
„Was ist mit Erik?“, fragte sie.
„Das überlegen wir uns, wenn die Kinder sicher zuhause sind.“

Erik hatte von alldem nichts mehr mitbekommen. Geradeaus ging er weiter zum Hauptlabor. Energisch trat er ein. Vor sich an einem Glastisch saß Frederik Hauser. Er trug den weißen Anzug eines Mediziners und hielt ihm eine Pistole entgegen.
„Guten Tag, Erik Landmann. Ich habe dich erwartet“, sagte er selbstsicher und feuerte ein Geschoss ab.
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Ja, die Zukunft muss ihren Lauf nehmen. Laufen wird sie – so oder so, ganz gleich was ich mache oder nicht. Wieder stehe ich an der Klippe und lasse den Blick schweifen.

Alex verschloss sich gänzlich und litt mehr darunter als er sich eingestehen wollte. Tunlichst vermied er eine Begegnung mit Mae. Er hatte noch immer ihre kalte Stimme im Ohr, als sie ihn der Lüge bezichtigte.

Der Winter war schon weit fortgeschritten und kalt wehte der Wind am Windschutz vorbei, wobei er immer wieder etwas Schnee mitbrachte. Alex saß an seinem Feuer, das er mittlerweile selbst entfachen konnte und probierte sich an der Steinbearbeitung. Nach dem Fiasko mit der Nadel, hatte ihm Groch kein Werkzeug mehr gegeben. So hatte er notgedrungen beschlossen, zu lernen es selbst herzustellen. Ob er darin jemals ein Meister werden würde, wusste er nicht. Es war ihm egal. Wichtig war die Beschäftigung mit etwas Sinnvollem. Der Winter war zu lang, um untätig herum zu sitzen.

Wenn es das Wetter zuließ ging er raus, sammelte Brennholz, damit er auch für die Gemeinschaft etwas tat oder holte Wasser. Immer wieder schnitzte er kleine Tiere und verschenkte sie an die Kinder. Alex merkte, dass er Kinder mochte. Er spielte gerne mit ihnen, zeigte es aber nur selten. So mieden ihn auch die Kleinen, obwohl sie merkten, dass er sie gern um sich hatte.

„Lass ihn. Er ist eben eigenartig“, sagte Mae eines Tages zu Grah, als dieser sich aufregte, weil Alex so selten an der Gemeinschaft teilnahm und immer so missmutig dreinblickte.
„Warum muss er sich auch im Winter den Bart abkratzen? Er ist schon voller Narben.“ Grah war in streitbarer Stimmung, das Wetter war schon zu lange schlecht gewesen und er musste sich irgendwie Luft verschaffen. Normalerweise schimpfte er mit den Kindern, wenn sie zu laut waren. Aber diesmal gab es noch jemanden, an dem er seine Wut auslassen konnte.

Noch bevor Mae ihn zurückhalten konnte, schritt er zu Alex Lager und starrte ihn zornfunkelnd an. Dieser schien ihn nicht zu bemerken. Er hatte seine Aufmerksamkeit auf den Stein gerichtet, den er gerade bearbeitete. Es schien eine gute Klinge zu werden. Er hatte das Gefühl langsam besser zu werden und hatte vor, diese Spitze Grah zu schenken. Ein Teil seiner Gedanken war wieder zuhause. Je länger der Winter dauerte, desto öfter dachte er an daheim, sein früheres Zuhause. Die Abende, die er im Kreis der Familie verbracht hatte. Es war immer warm und niemand brauchte sich zu sorgen. Er dachte auch an die Raumstation, an die Freunde, die er dort gefunden hatte. Derek, der immer einen Scherz auf den Lippen hatte und Suzie, die oft mit ihm stritt und ihn dann schelmisch anlächelte Das alles ging ihm durch den Kopf während er überlegte wo er den letzten Schlag setzen sollte, damit die Speerspitze gut wurde.
Er hob den Schlagstein und zielte, da holte ihn eine barsche Stimme aus der Konzentration. Der Schlag ging daneben und die Spitze war ruiniert. Ein Tag Arbeit war dahin. Aus alter Gewohnheit sprang Alex auf und stand stramm. Dann war er wieder in der Höhle und er sah das kaputte Stück. Hass flammte in ihm auf, eine schier unbändige Wut und er stürzte sich auf Grah, der zwar ein Stück kleiner aber um ein Vielfaches kräftiger war als er selbst.
„Warum hast du das getan?“, rief er immer wieder, während er auf ihn einschlug. Grah seinerseits nutzte die Gelegenheit, um sich endlich abzureagieren. Sie schlugen aufeinander ein und rollten am Boden. Grah schnappte Alex und warf ihn aus der Höhle, dann sprang er ihm nach. Alex war schon wieder in der Höhe und benutzte rein instinktiv die Techniken, die er auf der Akademie gelernt hatte. Er konnte mit bloßen Händen töten, wenn es sein musste. Sein Zorn war so groß, dass er es getan hätte, wenn er nicht Mae aus den Augenwinkeln wahrgenommen hätte. Grah lag schwer atmend unter ihm und starrte ihn aus weit offenen Augen an. Ernüchtert ließ Alex von seinem Gegner und ging gesenkten Haupts zu seinem Platz.

Mae kümmerte sich um ihren Gefährten. Der lag im Schnee und konnte es kaum glauben, dass er von diesem schmalen Burschen eine Abreibung verpasst bekommen hatte.
„Ich habe dir doch gesagt, dass in dem mehr steckt als wir annehmen“, sagte sie, als sie wieder am Feuer saßen.
„Er hätte mich töten können.“ Grah’s Stimme war ungläubig.
„Ich fürchte, dass er das hätte tun können. Gut, dass er es nicht getan hat.“
„Morgen will ich mit allen reden. Er kann mich nicht einfach so angreifen.“ Grah war nicht geneigt, seinen Zorn abkühlen zu lassen. „Er muss gehen.“
„Grah, Lieber, schlafe erst einmal darüber und vergiss nicht, du hast seine Arbeit verdorben. Weißt du noch, wie Groch einmal mit dem Speer auf dich losging, weil du mit deiner unbedarften Art sein Meisterwerk ruiniert hast? Diese Werkzeugmacher sind ganz eigen, was ihre Sachen angeht. Alex hat den ganzen Tag daran gearbeitet und jetzt ist es kaputt. Sieh nur, wie er dort sitzt und auf die Trümmer starrt.“
Sie hatte eindringlich gesprochen und ihm dabei sanft den Rücken gekrault, sie wusste, dass er das mochte.
Grah brummte.
„Kratz etwas tiefer, Mae“, war alles, was er dazu noch sagte.

Man behandelte Alex jetzt mit noch mehr Zurückhaltung und dieser zog die Mauer um sich enger.

Trotzdem überwand er sich manchmal und ging zum Essen ans Gemeinschaftsfeuer. Er hatte sich mehrere Schalen geschnitzt und war froh, die geliehenen Stücke wieder zurück geben zu können. Es machte viel Arbeit, so etwas herzustellen. Wenn er mit den anderen aß, hielt er sich zurück, sprach nur wenn er angesprochen wurde und hielt den Blick gesenkt, besonders nach der Rauferei mit Grah. Er fühlte sich schlecht, weil er sich nicht unter Kontrolle gehabt, sondern blindwütig zugeschlagen hatte.

Besonders hart kamen ihn die Nächte an. Mittlerweile hasste er die Geräusche der Nacht, weil er sich dann noch einsamer fühlte. Die Höhle war so voll von Menschen, dass er nie Ruhe verspürte. Nicht einmal nachts war es still. Er hörte neben den üblichen Schlafgeräuschen und Kinderweinen auch lustvolles Gestöhn. Das machte ihm seine eigenen Bedürfnisse qualvoll bewusst. Aber er hatte freiwillig darauf verzichtet und er wusste nicht, wie er sich Mae jetzt wieder nähern sollte, wo er sie doch so brüsk zurück gewiesen hatte.
Nacht für Nacht quälte er sich mit dem Schlaf, der oft erst kurz vor dem Morgen eintraf.

Endlich wurde das Wetter wieder besser, der Sturm ließ nach und die Leute in der Höhle atmeten auf. Es waren zu viele Menschen auf engem Raum über zu lange Zeit eingeschlossen gewesen. Es mangelte zwar nicht an Essbarem, aber an Bewegung, Luft und Licht – und Platz. Die Veränderung war bereits in der Nacht merkbar. Der ständige Lärm durch den Wind war angenehmer Stille gewichen und am Morgen stahl sich ein feiner Sonnenstrahl durch einen Riss im Leder, das am Höhleneingang hing.

Es gab ein allgemeines Aufatmen und noch bevor die Feuer wieder entfacht wurden, rannten alle hinaus, sogen die kalte Winterluft ein und stießen den Frust des Eingesperrtseins wieder aus. Auch Alex ging hinaus. Die Sonne schien schon kräftiger, was den kommenden Frühling erahnen ließ. Er beschloss in den Wald zu gehen und auf dem Rückweg Feuerholz zu sammeln, der Vorrat war in den letzten, allzu kalten Tagen empfindlich geschrumpft.

Er ging wieder zu seinem Feuer, schnürte die Felle zusammen, nahm den Vorrat an Seifenkraut, den er im Herbst angelegt hatte, ein Messer, einen unhandlichen Speer und ging damit hinaus.
Auch wenn er oft dachte, dass er in der Gruppe unsichtbar war, so wurde sein Tun doch sehr genau registriert. Die Clanmitglieder hatten sich mit seinen Eigenheiten abgefunden, mit seiner Zurückhaltung und scheinbarer Humorlosigkeit.
Mae sah ihn mit dem großen Bündel in den Wald marschieren und folgte ihm in sicherem Abstand. Sie suchte eine Gelegenheit, um mit ihm zu reden. Es lag zuviel Unausgesprochenes in der Luft und ein weiterer Schneesturm konnte sie wieder alle tagelang in der Höhle festhalten. ‚Wir brauchen eine größere Behausung’, dachte sie. ‚Ich fürchte, im Frühling müssen wir weiterziehen. Vielleicht …’ Entschlossen beendete sie diese Gedanken, darüber wollte sie sich am Abend mit Grah unterhalten. Beinahe hätte sie Alex aus den Augen verloren. Aber sie ahnte wo er hin wollte und fand ihn rasch wieder.

Je weiter sich Alex von der Höhle entfernte, desto gelöster fühlte er sich. Der Panzer um ihn schmolz wie das Eis in der Sonne, das bereits kleine Rinnsale zu bilden begann.

Der Marsch war nicht weit. Unweit des Teichs legte er sein Bündel nieder und suchte einen dicken Stock. Er nahm auch noch einen schweren Stein mit. Beides legte er an den Rand des Teichs und entledigte sich der Felle. Dann nahm er den Stock und den Stein und ging aufs Eis hinaus. Er blickte zur Biberburg, die scheinbar erstarrt inmitten des Teichs lag und sagte: „Sei gegrüßt alter Nager. Ich hoffe, dein Schlaf ist angenehm.“
Mae freute sich, weil er in ihrer Sprache redete, und wunderte sich darüber, wie gut er sie beherrschte, nahezu fehlerfrei. Das war ihr nicht aufgefallen, weil er nie oder sehr selten sprach. „Ah ihr Birken, hat euch der Nager noch gar nicht probiert?“, redete er nun mit den Bäumen. Dann ging er in die Knie und schlug mit dem Stein auf das Eis ein, bis ein Loch entstand. Alex holte das Seifenkraut und zwei flache Steine.
Zu Mae’s Entsetzen sprang er in das eisige Wasser. Mit einem lauten Prusten und Keuchen tauchte er unter. Dann kam er lachend wieder hervor.
„Ah, das war gut. Ich mag das Wasser. Hast du gehört Wasser? Ich mag dich und du magst mich, nicht wahr? Du tust mir nichts und lässt mich sein wie ich bin.“
Er erzeugte den Schaum und wusch sich, wobei er leise pfiff. Dann tauchte er wieder unter und schob sich lachend aus dem Eisloch. Schnell lief er zu den Fellen und wickelte sich darin ein. Heftig zitterte er, aber er fühlte sich frei. Er breitete ein Fell aus und legte sich darauf, den Blick der Sonne zugewandt. „Endlich kann ich wieder ich sein“, murmelte er. Das ließ Mae aufhorchen. „Ein Mann des fünften Jahrtausends. Es ist absurd, einfach lächerlich. Ich habe soviel Bildung und kann nichts davon anwenden. Hier darf ich nur der Holzträger sein und vielleicht irgendwann ein Steinschläger, wenn mich Grah nicht vorher umbringt. Nach der Schlägerei würde ich ihm das nicht mal verdenken.“ Hier lachte er bis ihm die Tränen kamen. Mae lauschte noch immer diesem sonderbaren, für sie schwer verständlichen Selbstgespräch. Er verwendete manchmal Worte die sie nicht kannte.
Dann sagte er: „Ich bin wohl doch nicht so ganz der schwächliche Junge für den sie mich halten. Oh Mann, wenn die wüssten wie alt ich bin.“ Sein Lachen brach abrupt ab. Er hatte ein Geräusch vernommen. Mae trat aus dem Gebüsch hinter dem sie sich versteckt gehalten hatte.

Alex setzte sich auf und kam sich ertappt vor. Warum beobachtete sie ihn? Er verstand das nicht. Jetzt stand sie vor ihm. Er befürchtete schon wieder eine Standpauke, aber sie sagte nur: „Alex, wir müssen reden. Ich glaube, ich habe einiges nicht verstanden, was du mir vor dem Wechsel der Jahreszeiten gesagt hast.“
Sie stand da, und blickte fast ängstlich auf ihn nieder. Er rückte zur Seite und lud sie mit einer Handbewegung ein Platz zu nehmen. Als sie saß, schaute er sie einfach stumm an. Seine Augen waren blauer als in ihrer Erinnerung und sein Gesicht wurde wieder starr. Sie seufzte, dann stellte sie die Frage, die sie seit ihrem Streit quälte: „Alex, was hast du damals hergestellt? Du weißt schon, in der Nacht, in der wir so stritten.“
Er starrte sie an und überlegte krampfhaft was er sagen sollte. Qualvoll war er sich ihrer Nähe bewusst, mehr als er wahrhaben wollte. Doch bevor er etwas sagen konnte, redete sie weiter: „Ich habe dich in der Nacht gesehen. Du hast am Tag vorher gesagt, dass du uns was geben willst, dass wir noch nicht haben. Alex, du warst so voller Freude darüber. Dann hast du es gemacht und mit deiner Freude alle geweckt. Später in der Nacht hatte ich den Eindruck, du würdest dich selbst erschlagen, als du dein Werk kaputt gemacht hast.“
Alex fiel in sich zusammen. Hier konnte man nichts geheim halten. Mae wusste alles. Noch immer sagte er nichts. Er war erschüttert, weil sie so genau gesehen hatte, dass er seine Zukunft unter Steinen begraben hatte.
Mae fasste unter den Überwurf, zog die Fußlinge hervor und hielt sie Alex vor die Nase. Überrascht sprang er auf.
„Wo hast du das her, Mae? Ich hatte sie vergraben“, sagte er schließlich kaum hörbar.
„Ich habe dich beobachtet. Als du in den Wald gelaufen bist, habe ich sie ausgegraben und nach einer Möglichkeit gesucht in Ruhe mit dir darüber zu reden. Wie hast du die Löcher da reingemacht? Ich kenne kein Messer und keinen Stichel, der fein genug dafür ist. Zeig mir, wie das geht.“ Sie blickte ihn aus wissbegierigen braunen Augen an. Alex setzte sich wieder, nahm ihr die Fußlinge aus der Hand und legte sie weg. Lange schaute er Mae an. Dann berührte er ganz sanft ihre Wangen, strich das strähnige Haar aus ihrer Stirn und platzierte viele kleine Küsse auf ihrem Gesicht.
Er lächelte sie an und hoffte, nicht wieder missverstanden zu werden. Als sie das Lächeln erwiderte sagte er zu seiner Vergangenheit, die zwanzigtausend Jahre in der Zukunft lag: „Vergiss es Doktor. Die Theorien haben sich überholt. Ich lebe hier und ich will leben.“ Dann wandte er sich wieder Mae zu und sagte in seiner neuen Sprache: „Ich denke, langsam werde ich doch hier ankommen. Irgendwann einmal werde ich dir von meiner absonderlichen Reise erzählen und warum ich manchmal so eigenartig bin. Für euch muss ich ja unverständlich und kompliziert sein. Hilf mir, damit es leichter geht. Aber vorher mache ich dir eine Nadel, dann kannst du die Felle zusammenbinden. Ich zeige dir, wie man das macht.“

Er legte sich auf den Rücken und betrachtete die kahlen Äste über sich.
„Weißt du, ich muss mit Groch reden. Meine Messer sind nicht so gut wie seine, nur fürchte ich, wird er mir keines mehr geben wollen. Kannst du mir helfen ihn zu überreden?“

Ich bin noch immer der letzte in der Reihe aber jetzt stehen wir neben einander, auf gleicher Höhe.

Nun betrachte ich meine Vergangenheit, die gleichzeitig die Zukunft ist.
Diese Zukunft, die zwanzigtausend Jahre vor mir liegt, ist mir gleichgültig geworden.


nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Eine Nadel bohrte sich in Erik. Verwirrt zog er sie heraus und hob fragend eine Augenbraue. „Nur ein kleines Mittelchen, das deinen Killer besänftigt. Du hättest deine Pillen regelmäßig nehmen sollen. So bist du eine Gefahr für die Menschheit. Aber bitte, tritt doch näher. Du bist ein Phänomen, weißt du das? Und das Militär hat mir zugesichert, auf deine Hinrichtung zu verzichten, wenn ich dich untersuche.“
Erik stand mit der Nadel in der Hand da und starrte. Die Mauer in seinem Hirn verstärkte sich durch das injizierte Gift und er merkte, wie er ruhiger wurde. Seine Sinne wurden gedämpft. Es war so, als hätte jemand einen Schleier um ihn gelegt.
Mit hängenden Schultern ging er weiter ins Labor hinein. Einen Schritt vor dem Tisch blieb er stehen.
„Nun, sag mir aber, was dich hierher führt. Doch hoffentlich nicht meine kleine bescheidene Forschungseinrichtung? Oder ist es etwas das mit Agnes Lindstrom zusammenhängt?“ Er machte eine Pause und gab Erik die Gelegenheit zu antworten. Dieser konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er hatte vorgehabt hier hereinzustürmen, den Arzt zu überraschen und zu vernichten. Nun war er überrumpelt, seiner Fähigkeiten beraubt und durch Drogen matt gesetzt worden.
„Aha, sie ist auch da. Aber sie ist nicht wichtig, von ihr habe ich was ich wollte. Die MP wird sich ihrer annehmen“, sprach Frederik munter weiter. Er redete in einem Ton, als würde er niemals jemanden etwas zu leide tun.
„Du bist ein Kindermörder und wirst dafür bezahlen müssen“, sagte Erik endlich.
„Denkst du? Ich bin Forscher. Hier untersuchen wir die Auswirkungen von Hitze, Licht und Kälte auf die Haut und die anderen Körperzellen. Die Haut der Unterweltler eignet sich ausgezeichnet für diese Studien und diese Leute gehen niemanden ab. Ihre Augen sind auch sehr interessant. Ich möchte erforschen, wie sich ihre Gene der Dunkelheit angepasst haben. Es wäre ein Durchbruch in der Genforschung. So etwas wie ich hier, hat noch keiner gewagt und jetzt habe ich noch dich hier. Es wird immer besser. Ich kann jetzt meine Forschung auch auf die Vererbung von telekinetischen und hypnotischen Fähigkeiten ausweiten.“ Er sprach voller Enthusiasmus. Noch nie hatte er so viel Forschungsmaterial zur Verfügung gehabt. Jetzt würden die Kollegen endlich sein Genie anerkennen müssen. Er scherte sich nicht darum, dass er jemanden Leid zufügte, wichtig war das Ergebnis. Die Firmenleitung verlangte bereits energisch Resultate. In wenigen Tagen würden einige Senatoren zu einer Besichtigung eintreffen, da wollte er etwas vorzuweisen haben.
„Du bist verrückt. Ihre Familien haben verzweifelt nach ihnen gesucht, keiner lässt mehr sein Kind aus den Augen, wenn es weiter als einen Steinwurf von zuhause weggeht. Deine Forschung ist pervers. Niemand braucht das.“ Erik versuchte etwas von dem Abscheu den er noch immer empfand an sein Gegenüber zu senden. Aber er wurde blockiert.
„Gib dir keine Mühe, Landmann, ich bin dir haushoch überlegen. Gegen meine geistigen Fähigkeiten sind deine nichts.“
Erik versuchte es noch einmal und wurde wieder geblockt.

Ruckartig drehte er sich um, als er von hinten Hände spürte, die ihn packten und wegbrachten. „Was willst du von mir?“ Die Frage klang hoffnungslos und Erik hasste sich dafür.
„Ach, ich will bloß einige deiner Gene und dann werde ich noch das eine oder andere neue Präparat an dir testen, jetzt, wo Agnes meine Versuchstiere gestohlen hat, bist du eine echte Alternative.“ Er wandte sich an die Pfleger und befahl: „Bringt ihn ins Sicherheitslabor, Käfig Nummer 18.“

Agnes stolperte hinter Robert den Gang hinab. Sie schlitterte über das Geröll und landete unsanft. „Beeil dich, wir müssen ins Dorf. Steh auf“, drängte er.
„Ich weiß, dass du zurück willst. Aber ich kann in dieser Dunkelheit nicht so gut sehen wie du. Wo habt ihr die Kinder hingebracht? Habt ihr Krankenhäuser?“
„Sie sind zuhause bei ihren Familien und werden dort betreut. Und bevor du fragst, wir haben Ärzte und Pfleger, die kommen ins Haus wenn man Hilfe braucht. So ist es angenehmer und die Kranken werden schneller gesund“, erklärte er. Agnes interessierte das im Moment nicht im Geringsten.
Robert steuerte auf einen prächtigen Eingang zu und drängte Agnes hindurch. „Wir gehen jetzt zum Bürgermeister. Die Durchgänge müssen gesperrt werden.“ Er klang sehr entschieden.
„Was ist mit Erik? Ich habe kein gutes Gefühl. Es ist als wäre er weg. In letzter Zeit habe ich seine Gedanken immer gespürt, jetzt ist es so als wären sie abgeschnitten. Ich muss wieder ins Labor.“
„Was, wenn er tot ist?“
„Nein! Er lebt!“ Sie klang sicher. Seinen Tod konnte und wollte sie sich nicht vorstellen.

Robert ging rasch weiter und trat ohne zu klopfen in das Zimmer des Bürgermeisters.
„Grüß dich, Albert. Die Kinder sind wieder daheim, nun wird es Zeit, die Löcher zu schließen. Ich fürchte, dass Erik das Labor nicht zerstören kann.“
„Ich habe schon daran gedacht und die ersten Leute sind bereits an der Arbeit. Es geht nicht, dass diese arroganten Eumerier unsere Welt hier unten bedrohen.“ Jetzt wandte er sich an Agnes und fuhr in geschäftlichem Ton fort: „Ich danke dir im Namen aller Eltern für die Rückgabe ihrer Kinder. Sie werden jetzt bestens versorgt. Um deinen Freund tut es mir ehrlich gesagt nicht wirklich leid, er ist eine Gefahr für sich und alle, die in seiner Gesellschaft sind. Robert wird dir eine Belohnung zukommen lassen und dann zu einem Ausgang bringen, der dich in sicherer Entfernung dieses Labors an die Oberfläche führt.“
Agnes war entsetzt. Jetzt abgeschoben zu werden, war das Letzte das sie wollte.
„Ich dulde keinen Widerspruch. Du wirst uns verlassen. Robert, sorge bitte für alles Nötige.“ Dann drehte sich der Bürgermeister zur Seite und Robert neigte kurz den Kopf, um sein Einverständnis zu zeigen. Er winkte Agnes ihm zu folgen und schob sie wieder auf den Weg hinaus.
„Ich kann ihn nicht seinem Schicksal überlassen. Das geht nicht. Ich liebe ihn! Er ist so ein hilfsbereiter und fürsorglicher Mensch. Robert, du hast selbst gesehen, was er mit Will gemacht hat – er hat seinen eigenen Verstand riskiert um ihn zu retten. Und jetzt wollt ihr ihn im Stich lassen, nur weil er nicht so ist wie ihr! Das bin ich auch nicht. Uns war es egal, wer ihr seid und trotzdem haben wir etwas getan. Aber bitte, wenn ihr nur Euresgleichen unterstützt, dann auf Wiedersehen und alles Gute!“ Zornig war sie weitergelaufen, direkt in Will, den sie übersehen hatte. „Entschuldige“, brummte sie und wollte schon weiter gehen.
„Warte!“, rief der junge Mann und hielt sie am Ärmel fest. „Robert, lass uns in deine Wohnung gehen.“

Zusammen saßen sie in der Küche und tranken Tee. Der Jüngere hatte sich alles über Erik und die Rettung der Kinder berichten lassen und staunte immer mehr, fand aber keine Worte um seine Gefühle auszudrücken.
„Ich gehe wieder ins Labor zurück. Ich bin mir sicher, dass er dort ist. Frederik ist ein Scheusal, er wird Erik unter Drogen setzen und dann allerhand Versuche mit ihm anstellen. Ich mag mir das gar nicht vorstellen.“ Während sie sprach weinte sie immer heftiger. „Wir haben davon geträumt, die Welt zu verändern, den Leuten die Liebe zu bringen. Wie sollen wir das schaffen, wenn wir nicht zusammen halten? Soll ich ihn fallen lassen, sobald es für mich gefährlich wird? Das werde ich nicht!“ Entschieden schüttelte sie den Kopf, wischte die Tränen weg und stand auf. „Bestimmt nicht! Ich gehe jetzt und wenn ihr mir schon nicht helfen wollt, dann hindert mich wenigstens nicht daran!“
Sie drehte sich um und ging auf die Tür zu. Wieder rief Will, dass sie warten solle. Er schaute zuerst Robert fest ins Gesicht, dann Agnes, bevor er bestimmte: „Ein Leben für ein Leben – ich komme mit.“
„Aber vorher werden wir uns einen Plan zurecht legen. So einfach wird das nicht mehr gehen. Die haben ja mehr oder weniger auf Erik gewartet, so wie ich das sehe“, meinte jetzt Robert und ein feines Lächeln umspielte seinen Mund. „Setz dich wieder Agnes. Wir müssen dich irgendwo verstecken und einen anderen Aufgang zum Forschungszentrum finden. Kennst du einen Weg, Willy?“
Sie besprachen alle möglichen Ausgänge und wo sie mündeten bevor sie sich einigten und mit Agnes zu einem halbwegs sicheren Versteck gingen.
„Noch nie habe ich etwas getan, das gegen die Gemeinschaft gerichtet ist“, murmelte Robert.
„Wieso gegen die Gemeinschaft?“, fragte Will. „Was wir hier tun, ist für alle gut. Wenn das Labor über uns weg ist, werden wir alle sicherer leben. Sollte das der Bürgermeister nicht einsehen, dann tut er mir leid.“
„Er will ja die Durchgänge sperren.“
„Das hilft doch nichts. Oder denkt er, dass die blöd sind?“
Dann schwiegen sie bis sie das Versteck erreicht hatten. Agnes war nur mehr hinterher gestolpert, denn sie hatten auf Lampen verzichtet und sie konnte kaum etwas erkennen. Immer wieder strauchelte sie über Unebenheiten.
„Wir sind da. Hier ist die große Quelle, also hast du sogar Frischwasser. Brauchst du noch etwas?“
„Ich brauche eine Waffe“, sagte sie. „Ganz gleich was für eine. Habt ihr Schusswaffen?“
„Massenweise“, antwortete Will. „Im Museum, werden sie gut gepflegt. Aber ob auch Patronen, Kugeln oder wie man das nennt, das vorne rauskommt, da ist, das weiß ich nicht.“
„Könnt ihr mir so etwas besorgen?“
„Es wird einige Zeit dauern, aber ich werde es versuchen.“
Damit verabschiedeten sich die Männer und kehrten in die Siedlung zurück.
Agnes war es unheimlich in dieser Dunkelheit so alleine zu sein. Wasser tropfte irgendwo von einem Stein in den Teich. Sie hörte der Melodie des Wassers zu und dachte an Erik und Alex.

Erik wurde in den Käfig geschoben und allein gelassen. Durch das Gift war er so ruhig geworden, dass er sich weder wehren noch zusammenhängend denken konnte. Stundenlang wartete er, dass etwas geschah. Über der Tür hing eine große Uhr. Langsam verstrichen die Minuten. Immer wieder glitt sein Blick dorthin. Er fühlte sich so hoffnungslos wie noch nie im Leben. Immer hatte er einen Ausweg, ein Licht am Ende des Dunkels, gesehen. Diesmal sah er nichts. Er dachte an Agnes und wünschte sich, dass sie in Sicherheit war. Aber auch diese Aussicht war gering.

Endlich ging die Tür auf und Frederik trat ein, gefolgt von zwei Männern, die ihn aus dem Käfig zerrten und auf einer Bahre fixierten.
Frederik zog sich Handschuhe über und grinste zufrieden. Nie hatte er erwartet so ein Versuchsobjekt vor sich zu haben. Das mit den weißen Kindern war nur Spielerei gewesen, notwendige Grundlagenforschung. Hier ging es jetzt um was anderes, etwas Größeres. Und was am schönsten war, mit diesem Objekt konnte er reden.
Aber vorerst nahm er die Handlungen stumm vor. Er wollte ihn noch etwas verunsichern und dann das Blut auf die Anwesenheit bestimmter Hormone testen.

Erik merkte, wie etwas Kaltes seinen Hals traf. Es roch sonderbar, er nahm an, dass es ein Desinfektionsmittel war. Dann fühlte er einen unangenehmen, beinahe schmerzhaften Stich und ein furchtbares Ziehen, als etwas in die Halsvene eingeführt wurde.
Schließlich war Frederik mit dem ersten Teil fertig. Er hatte einige Blutproben genommen und stellte sie in die Zentrifuge. Dann ging er wieder zu Erik und blickte grinsend auf ihn nieder. „Ich brauche eine Speichelprobe von dir. Mach den Mund auf.“
Erik presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte den Kopf.
„Ach jetzt sei nicht so. Auf den Mund, ich tu dir auch bestimmt nicht weh“, sagte er im Plauderton. Als sich der andere noch immer weigerte, meinte er: „Macht nichts. Ich setzte mich jetzt hierher, lasse mir ein Koffeinpräparat bringen und werde dir von meinen Forschungen erzählen. Das interessiert dich sicher. Du bist doch klug genug, den tieferen Sinn meiner Studien zu erkennen.“ Erik starrte weiterhin stur an die Decke und hielt den Mund geschlossen. So stand Frederik auf und ließ sich sein Getränk kommen. Als er mit einem dampfenden Becher wieder Platz genommen hatte, fuhr er in seinem Monolog fort: „Sicher hast du dich schon einmal gefragt, warum eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ein gewisses Alter nicht überschreitet.“ Jetzt hatte er Eriks Aufmerksamkeit erreicht. Er richtete den Blick weg von der Decke auf Frederik, dieser lächelte jovial. „Ich sehe, du hast dir diese Frage schon gestellt. Nun, das war ein Geniestreich unserer Genforscher. Zugegeben, ich wäre gerne dabei gewesen, aber ich habe einige Verbesserungen vornehmen können, die Lorbeeren hat leider ein anderer eingeheimst. Jetzt werde ich ihnen aber zeigen, wer der Bessere ist. Diese Leute, von denen ich hier spreche, sind nicht wirklich etwas wert. Sie helfen uns, den wichtigen Menschen, sie produzieren für sich selbst und dienen uns. Du kennst das ja von der Armee her. Wir haben sie so programmiert, dass sie ab einem gewissen Alter Nachwuchs wollen. Es dürfen aber nie mehr als zwei sein, ein männliches und ein weibliches Kind. Wenn diese Jungen dann groß genug sind, um arbeiten zu können, dann greift die Programmierung und die Zellen sterben rapide ab. So sorgen wir dafür, dass immer ausreichend Arbeitsplätze vorhanden sind und wir nicht mit einer Horde alter, unnützer Menschen überschwemmt werden. Das war ein großes Problem des ausgehenden zweiten und beginnenden dritten Jahrtausends. Die dortige Elite wusste nicht mehr, wie sie das System finanzieren sollte. Wir haben das klug gelöst und keiner von denen ahnt etwas davon. Du musst zugeben, Erik, dass wir vorausschauend handeln.“ Er stellte den Becher ab und stand wieder auf.
„An so eine abgrundtiefe Schweinerei hätte ich im Leben nie gedacht. Ihr lasst die Leute vor ihrer Zeit sterben! Was ist nur los mit euch?“ Erik war entsetzt aber das Gift hatte ihn soweit unterdrückt, dass er seinen Gefühlen keinen Ausdruck verleihen konnte. So starrte er wieder an die Decke.
„Ich brauche jetzt deine Speichelprobe, sie ist wichtig, um deinen Hormonstatus zu bestimmen. Durch deine Genmanipulation hast du eine geringe Abweichung in der Anzahl der Hormone und ich will wissen, wie sich die Höhe von einem anderen Menschen unterscheidet. Dann werde ich mir noch deine DNA genauer ansehen. Deine Erzeuger haben Mist gebaut, als sie dir Gefühle ließen. Wenn ich dich konstruiert hätte, dann wärest du ein eiskalter Killer geworden, der nicht lange redet und nachdenkt, sondern handelt. Jetzt mach den Mund auf, sonst werde ich grob.“
Erik sah keine andere Möglichkeit, also öffnete er den Mund und ließ die Probe entnehmen. Dann kamen die Pfleger wieder, brachten ihn in den Käfig zurück und machten seine Hände am Gitter fest.
„Tut mir leid, dass deine Unterkunft so klein ist, aber ich habe nie mit jemanden von deiner Größe hier gerechnet. Du bist ja überdurchschnittlich groß, Erik. Bis später. Vielleicht morgen oder übermorgen. Solange wirst du hier warten müssen, aber die beiden Herren da werden für dein leibliches Wohl sorgen. Es sind übrigens Harry und Brian. Aber rede sie nicht an, sie müssen jedes Gespräch melden. Das mit den Handschellen ist leider auch nötig. Du bist einfach zu stur.“
Bevor Frederik endgültig ging, schloss er eine Infusion an die Venenkanüle.
„Was ist da drin?“, verlange Erik zu wissen.
„Das gleiche Mittel, das ich dir mit der Injektion verpasst habe. Ich will ja nicht, dass deine Fähigkeiten wieder kommen. Nun gute Nacht oder guten Morgen, so genau kann man das bei der Beleuchtung nicht sagen.“
„Du bist eine miese kleine Ratte. Ein Feigling, ein Giftmischer, der sich an Kindern vergreift.“
„Du kannst mich nicht provozieren“, sagte Frederik kalt und kehrte ihm den Rücken zu.
Die Tür schloss sich und Erik betrachtete müde die Leitung, die von dem Beutel mit dem Gift zu seinem Hals führte. Er hatte keine Lust, das Zeug in sich zu haben. Also versuchte er den Schlauch mit dem Mund zu erreichen und ihn durchzubeißen. Es dauerte lange, bis er ihn endlich erwischt hatte und dann begann er daran herumzukauen. Etwas anderes hatte er nicht zu tun.
Seine Gedanken hingen bei Agnes und dem Abend wo sie die Liebe kennen gelernt und ihre Körper entdeckt hatten. Beinahe wäre ihm der Schlauch aus dem Mund gefallen als er sich an jede Einzelheit ihres Körpers erinnerte. Deshalb konzentrierte er sich wieder auf die Röhre.
Die Schultern und Ellbogen begannen zu schmerzen, ebenso der Rücken und die Knie. Er wollte sich gerne ausstrecken können, doch die Größe des Käfigs ließ es nicht zu. So rutschte er etwas hin und her um sich Erleichterung zu verschaffen. Es half nicht viel. Dabei hielt er immer den Schlauch zwischen den Zähnen. Nur zögernd schien der Kunststoff nachzugeben, aber dann war er durch und die Flüssigkeit schoss in einem Schwall aus dem Beutel.

Im Laufe seines Lebens hatte Erik gelernt, dass der Wille eine große Waffe war. Diese Entschlossenheit wollte er jetzt einsetzen. So lehnte er sich an die Gitterstäbe, schloss die Augen und begann damit den Geist vom Körper zu lösen. Es war kraftraubend, aber schlussendlich hatte er es geschafft, eine Botschaft zu senden. Wen er damit erreichte, wusste er nicht.
„Ich lebe, bleib dem Labor fern.“ Er hatte das so oft gedacht, wie er Energie hatte, dann war er ermattet zurückgesunken. Beinahe wäre er eingeschlafen, als ihn ein Gedankenfetzen streifte: „Nein!“ Es war nur dieses eine Wort und es umhüllte ihn wie eine Umarmung. Ihr ging es gut. Mehr brauchte er nicht zu wissen und sie würde ihn nicht im Stich lassen. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht. Dann verdrängte er alle Gedanken an Agnes, lehnte sich zurück und schlief schließlich vor Erschöpfung ein.
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Agnes hatte mehrere Tage in der Höhle ausgeharrt. Es war langweilig. Sie hatte nichts zu tun, erkennen konnte sie auch nicht viel, obwohl sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Endlich kam Will und brachte eine Pistole. Agnes war entsetzt über das antike Modell. Sie glaubte nicht, damit im Notfall schießen zu können.
„Danke Will. Ich werde sie mir einmal ansehen“, sagte sie und legte sie vorsichtig zur Seite. „Aber dazu brauche ich jetzt Licht.“
„Ich denke mit. Schau, was ich noch mitgebracht habe“, meinte er triumphierend. Er holte noch einen Beutel mit Vorräten und eine Lampe hervor. „Hier ist was zu essen drin. Tut mir echt leid, dass du so lange hungern musstest, aber ich war zum Arbeiten eingeteilt. Viele Durchgänge sind bereits geschlossen worden.“ Während Will redete, wandte sich Agnes hungrig dem Beutel mit den Lebensmitteln zu. Sie achtete nicht auf das, was Will erzählte, die Angelegenheiten der Unterweltbewohner interessierten sie jetzt nicht. Will berichtete, dass es einigen Kindern besser zu gehen begann. Manche konnten wieder stehen, aber bei zwei Mädchen waren die Hoffnungen auf eine Besserung sehr gering. Sie hatten zuviel von den Testmedikamenten bekommen und jetzt waren ihre kleinen Körper nicht mehr in der Lage das Gift abzusondern. „Eine traurige Sache, Agnes, auch dass drei von ihnen so verstümmelt wurden. Ich verstehe euch nicht.“ Will schüttelte traurig und angewidert den Kopf, dann ging er weg, ohne Agnes die Gelegenheit einer Antwort zu geben.
Bevor er aus der Höhle trat sagte er noch: „In drei Tagen bin ich von der Arbeit befreit, dann legen wir los. Früher geht es nicht. Verhalte dich ruhig.“ Dann war er weg.
Verwirrt über seine verächtlichen Worte blieb sie in der Dunkelheit sitzen. Sie machte sich Sorgen um Erik. Immer wieder öffnete sie sich und ließ die inneren Sensoren lauschen. Dann fing sie endlich etwas auf. Es war nur undeutlich, aber sie wusste, dass er es war.
„Nein, ich bleibe nicht weg. Ich komme zu dir und hole dich da raus“, sagte sie bewusst laut, um ihre Gedanken zu verstärken. In Telepathie war sie immer schlecht gewesen, jetzt hoffte sie, dass ihre positive Aussendung ankommen würde. Danach ging sie mit der Waffe und dem kleinen Licht in einen finsteren Winkel und zerlegte sie. Trotz ihres Alters war die Waffe gut gepflegt und sah wie neu aus. Einzig im Magazin waren nur noch drei Schuss. Will hatte auch die Reinigungsutensilien mitgebracht, deshalb begann sie jetzt die Waffe zu reinigen. Es war zwar nicht nötig, sie war einwandfrei, aber die Beschäftigung brachte sie auf andere Gedanken und sie lernte gleichzeitig, wie dieses Relikt aus der Vergangenheit funktionierte.

Nachdem er die Leitung durchgebissen hatte, bekam Erik zweimal täglich Injektionen. Die Hände blieben trotzdem am Gitter befestigt. Frederik schaute manchmal kurz bei der Tür rein und zog sich grinsend wieder zurück. Der Anblick schien ihm zu gefallen.

Erik hatte den Eindruck als würde er in dem Käfig eingehen. Harry und Brian gaben ihm zweimal am Tag zu trinken und fütterten ihm einen eigentümlichen Brei. Anfangs trank er nur und wehrte sich gegen den Löffel, den sie ihm in den Mund schoben. Nachdem er jedes Mal vor den Essenszeiten eine Beruhigungsspritze bekam, folgte er den Anweisungen und schluckte das Mus.
Dann gingen die Untersuchungen weiter. Erik wurde aus dem Käfig geholt. Sie mussten ihn tragen, weil er nicht mehr aufstehen konnte. Als er sich aufrichten wollte, dachte er die Knie würden ihn nicht mehr halten und wo er die Füße vermutete, spürte er nichts. Seine Schultern waren taub und die Handgelenke durch die Handschellen wund gescheuert.
Er wurde wieder auf den Untersuchungstisch gelegt. Einer der Pfleger wusch ihn mit einer desinfizierenden Lösung während ein anderer den Käfig säuberte. Als sie fertig waren betrat Frederik mit drei anderen Personen das Labor.
„Meine Dame und meine Herren, hier sehen Sie jetzt das Experiment C3-1. Ich habe ihn vom Militär übernommen. Seine telepathischen Fähigkeiten sind enorm und ebenso das Gefahrenpotenzial, das von ihm ausgeht. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich habe ihm ein von mir entwickeltes Medikament gegeben, das dämpfend auf die Wahrnehmungsfähigkeit wirkt. Heute beginne ich damit, das Serum AK-18-2 zu testen. Zuerst werde ich ihm den Krankheitserreger injizieren und nach achtundvierzig Stunden dann das Serum. Ich gehe davon aus, dass sich ein sofortiger Erfolg einstellt. Natürlich gibt es in der Zwischenzeit laufend Blutkontrollen.“
Die Leute umrundeten den Tisch und die Frau sagte: „Doktor Hauser, Ihr Versuchsobjekt sieht etwas mitgenommen aus. Verfälscht das nicht das Ergebnis?“
„Nein, Verehrteste. Die Probanden sehen nie wirklich gut aus und schon gar nicht bei dieser Beleuchtung. Er wird gut genährt, nur auf Bewegung muss er verzichten. Das lässt sich leider nicht vermeiden. Das Bewegungsrad für die körperliche Ertüchtigung der Labortiere wurde noch nicht genehmigt.“ Wie immer klang Frederiks Stimme jovial und so als wäre er um das Wohl seiner Testpersonen ehrlich besorgt.
„Du solltest hier liegen, du elende Ratte, du Kindermörder“, brachte Erik schließlich heraus.
„Achten Sie nicht auf das Gerede. Jetzt beginnt der erste Teil der Versuchsreihe.“
„Was spritzt du mir? Was ist das, Fred?“, fragte er verzweifelt. Erik begann sich zu konzentrieren. Wenn er Agnes erreicht hatte, dann waren nicht alle Fähigkeiten eingefroren, überlegte er. Die Anstrengung, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, blieb auch den Anwesenden nicht verborgen.
„Interessant, er versucht sich zu wehren“, sagte die Frau und studierte jede Regung in Eriks Gesicht. Um sich besser konzentrieren zu können, schloss er die Augen. Es gelang ihm tatsächlich Frederik zu erreichen und ihn mental zu packen. Einzig die Kraft für eine gröbere Tat fehlte ihm. Dennoch war der Forscher erschrocken zurück gesprungen. Zornig über diese Aktion schlug er ihm die Faust ins Gesicht. Daraufhin verlor Erik die Konzentration und er konnte sie nicht mehr aufbauen. Benommen ließ er die nachfolgende Behandlung über sich ergehen.
„Doktor Hauser, mir scheint, Ihr Objekt ist noch recht willensstark“, meinte einer der Besucher.
„Das ist doch wünschenswert, Herr Abgeordneter. So kann ich mehrere Studien gleichzeitig durchführen. Das macht es auf lange Sicht gesehen billiger. Wenn ich zwei oder drei Leute für eine Studie benutze, dann benötige ich mehr Platz, mehr Helfer und mehr Nahrung“, erklärte er etwas gereizt.
Diese Antwort befriedigte die Besucher und sie verließen zusammen das Labor.

Alleingelassen begann Erik damit, in sich hineinzuschauen und das angeschlagene Immunsystem zu reaktivieren. Es dauerte einige Zeit bis seine Konzentration so weit war, dass er die Zellen unterscheiden konnte. Der Anblick verwirrte ihn. Noch nie hatte er so einen detailreichen Blick in den Körper geworfen.
„Erreger – wo seid ihr? Ihr seid nicht wirklich böse und wollt mir nichts tun. Wenn ihr jetzt meine Zellen angreift, dann werdet ihr in den nächsten Tagen sterben und ich werde wahrscheinlich überleben. Verkapselt euch, dann haben wir alle eine größere Überlebenschance.“ Das wiederholte er, bis ihn die Erschöpfung zum Rückzug zwang.

Vor lauter Langeweile hatte Agnes die Waffe so oft zerlegt, dass sie kein Licht mehr zum Zusammenbauen brauchte.
„Ich hoffe, dass drei Schuss reichen. Jetzt müsste ich nur noch wissen, was mich erwartet. Wenn ich schon draufgehe, was sehr wahrscheinlich ist, dann möchte ich mit lautem Getöse untergehen und Fred mitnehmen, diesen Mörder.“ Dieses Selbstgespräch führte sie seit mehreren Stunden. Anfangs hatte es aufputschend gewirkt, nun war es deprimierend. Unruhig wanderte sie in ihrem Versteck herum und hoffte, dass Rick endlich auftauchen würde. Hier hatte sie keine Möglichkeit die Zeit zu messen und sie wusste nicht, wie lange sie schon hier war. Die Vorräte hatte sie gut rationiert und einen Teil davon in den Rucksack gepackt. Sie wollte auf alles vorbereitet sein. Was fehlte war ein Weg hinauf. „Ich werde nicht aufgeben, Erik! Wir geben nicht auf“, redete sie sich Mut zu und unterdrückte die eigene Angst. Entschlossen richtete sie ihren Geist auf Will und Robert. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie nicht kommen würden. Sie waren entdeckt worden und bald würden Leute hier sein und sie von hier vertreiben oder in den Abgrund stoßen. Es tat ihr Leid, dass sie den beiden nicht helfen konnte. Es würde nichts bringen, wenn sie in die Siedlung zurück ging. Von dort waren weder Verständnis noch Hilfe zu erhoffen. Trotz ihrer großartigen Reden waren sie nicht viel anders als die Bewohner der Oberfläche. Für sie war auch nur das Überleben der eigenen Art wichtig.

„Erik, gib nicht auf“, schickte sie eine weitere Botschaft auf reisen und hoffte, dass sie ihn erreichen würde. „Ich bin unterwegs.“ Dann füllte sie die Wasserflaschen und schulterte den Rucksack. Hier gab es nichts woran sie sich orientieren konnte. Sie wusste nur, dass sie hinauf musste. So ging sie einfach ein Stück zurück Richtung Dorf und bog dann links ab. Hier stieg ein Weg steil nach oben an. Bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und wartete, ob das Geröll die Belastung tragen oder sie in die Tiefe reißen würde. Langsam ging es weiter und ihr wurde heiß. Endlich war sie auf einem festen, ebenen Bereich angekommen. Dort ruhte sie sich eine Weile aus und trank einen Schluck Wasser. Von unten hörte sie lautes Rufen. Interessiert erweiterte sie das Bewusstsein und fühlte in den Tumult hinein.
Nur undeutlich merkte sie Angst unter den Menschen – Panik, Hass und Eroberungsgedanken vermengten sich. Sie sog scharf die Luft ein. Da waren Soldaten eingedrungen! Ihr erster Impuls war, wieder zurück zu laufen. Dann zwang sie sich zum rationalen Denken. Wenn sie hinunter ging, würde sie nur gefangen genommen werden. Diesen Menschen konnte sie nicht helfen. So verschloss sie sich und drehte dem Untergrund den Rücken zu. Mit festen Schritten ging sie weiter. Immer wieder blieb sie stehen und schickte ihre Sinne aus. Noch war von einer Verfolgung oder einer Falle nichts zu hören und auch nichts zu spüren. Hier nahm sie kein anderes Lebewesen wahr.
„Ich gebe nicht auf“, flüsterte sie und ging weiter.
Als sie sich einem Durchbruch in die Oberwelt näherte, zog sie die alte Pistole und schlich vorsichtig weiter. Wieder spionierte sie mit ihrer Fähigkeit den Weg aus. Erleichtert atmete sie aus, erst jetzt hatte sie gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie war richtig abgebogen und noch war nichts von einer Falle zu merken. Plötzlich vernahm sie einen lauten Schrei. Alle Vorsicht ließ sie fahren und lief los.

Frederik marschierte zornig im Labor herum. Die ersten Testergebnisse waren nicht zufriedenstellend verlaufen. Er blickte von der Anzeige zu Erik, der entspannt auf der Bahre lag und gerade fragte: „Was hast du Fred? Stimmt etwas nicht?“
„Du hast meine Forschung sabotiert! Na warte. Ich habe etwas, das deine Konzentration lange Zeit stören wird.“ Er lachte laut auf und lief hinaus.
Obwohl Erik enorme Angst verspürte, lächelte er, weil ihn ein Gedanken erreichte. „Gib nicht auf, ich komme zu dir“, hörte er sie sagen.
„Ich gebe nicht auf, Agnes, ich verspreche es dir“, antwortete er. Dann begann er sich zu erden. Es war nicht einfach, weil er weder den Boden unter den Füßen noch seinen Körper richtig wahrnahm. Dennoch verband er sich schließlich mit der Umgebung und schöpfte Kraft daraus. Gerade versuchte er die Barriere zu erreichen und den Killer zu aktivieren, als ihn etwas mit eisiger Faust packte.
Klammern hielten seine Augen offen und eine Pipette näherte sich dem Augapfel. In einem verzweifelt, sinnlosen Versuch der Flüssigkeit zu entgehen drehte er den Kopf von einer zur anderen Seite. „Fred, hör auf“, flehte er. „Lass mir die Augen. Bitte.“
Dann traf der erste Tropfen sein Ziel und Erik schrie, als die brennende Flüssigkeit zum Sehnerv vordrang. Er versuchte sich aufzubäumen, wegzukommen von dieser Qual und war chancenlos.
„Siehst du? So geht das. Das wird dich von deinen Übungen abhalten und ich kann in Ruhe nachsehen, was du mit meinen Keimen angestellt hast.“ Frederik war noch zornig, aber der Schmerzensschrei hatte ihn etwas besänftigt. Es war immer wieder gut zu sehen, wenn ein Proband Reaktionen zeigte und Schreie wiesen eindeutig auf einen Fortschritt oder zumindest eine Veränderung hin.
Der Arzt hatte ein starkes Bedürfnis, sich mitzuteilen, deshalb redete er weiter: „Gestern ist so ein Weißgesichtiger raufgekrochen und hat uns gesagt, dass sie Agnes festhalten. Er hat für die Information die Zusicherung bekommen, dass ich keine seiner Leute mehr zu Forschungszwecken verwende. Jetzt kümmert sich das Militär um diese Idioten.“ Er lachte lange und ausgiebig. Erik fühlte sich doppelt gequält, einmal durch den Schmerz in den Augen und dann noch durch die Informationen, die Frederik fast beiläufig einwarf.
Er wollte weinen können, aber das Medikament hatte die Augen ausgetrocknet. Es fühlte sich an als würden brennende Rosinen in den Augenhöhlen liegen und einzig Schmerzen ins Gehirn weiterleiten.

Agnes zwang sich langsamer und vorsichtiger zu gehen. Es war wichtig, dass sie in keine Falle tappte. Immer deutlicher wurden die Qualen die in einem der Labors erzeugt wurden. Dazu kam noch eine unbändige Schadenfreude. Sie hielt kurz inne, um zu Atem zu kommen, bevor sie sich durchrang und weiterging. Diese Pein konnte sie fast nicht ertragen und jeder Schritt fiel ihr schwer.

Dann stand sie vor einer massiven Metalltür. Sie war verschlossen und mit Code gesichert. Vor sich nahm sie die Schmerzen immer intensiver wahr aber sie sah keinen Weg hinein. So konzentrierte sie sich und schickte verwirrende Gedanken aus. Die vage Hoffnung, damit Frederik zu stören, hatte sie so weit getrieben das zu versuchen, wovon immer alle behaupteten, dass sie es nicht könne.
nochmal Kaminlesung
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„Wie hast du das gemacht, Alex?“, fragte Frederik. Er schien nicht ganz bei der Sache zu sein und seine Forschung aus den Augen zu verlieren. „Du wirst mir nicht mehr alles versauen.“
Erik wusste nicht was der andere meinte. Er lag nur stöhnend da und hoffte, dass die Schmerzen und das Brennen in den Augen nachlassen würde. Verzweifelt versuchte er durch den Schleier zu sehen, der ihn erblinden ließ.
„Fred, Frederik, ich bin nicht Alex“, murmelte er.
„Das weiß ich, Idiot. Wie hast du die Keime getötet?“, herrschte er ihn an.
„Sieh genauer nach, dann findest du es auch alleine heraus.“
„Nicht frech werden, Alex. Hier habe ich das Kommando.“
„Was ist los mit dir? Ich bin nicht Alex.“
Frederik schien verwirrter zu werden. Sein Atem ging schwerer. Immer wieder musste er sich abstützen. „Mir geht es gut, aber dir bald nicht mehr, wenn du nicht mit den Frechheiten aufhörst“, drohte der Forscher, holte eine neue Spritze und eine Ampulle.
„Nein, Frederik, gib mir nichts mehr. Lass es gut sein. Du kannst diese Studien auch simulieren. Warum musst du die Versuche am Menschen machen?“, drängte Erik und versuchte gleichzeitig die Schmerzen zu ignorieren. Er wollte in die Gedanken des anderen eindringen und ihm suggerieren, dass er ihn frei lassen musste. Aber noch war Frederik in einer stärkeren Position.
„Versuch das nicht noch einmal!“, brüllte Frederik und zog die Spritze auf. „Wehe dir, du versuchst noch einmal mir deine Gefühle zu senden!“
„Ich schwöre dir, das war ich nicht.“
Frederik kam auf Erik zu, die Spritze hielt er bedrohlich in einer Hand, mit der anderen schlug er jetzt auf sein Opfer ein. „Ich werde es nicht zulassen, dass ihr mein Werk zerstört. Alex, Agnes und du! Hast du verstanden? Immer wieder sabotiert ihr die Wissenschaft! Nichts Wichtigeres gibt es im Leben! Mein Auftrag lautet ein Heilmittel für alle Krankheiten zu finden und das werde ich! Halt jetzt den Mund oder ich werde dich knebeln!“
Erik erschrak durch die Feindseligkeit in der Stimme. Noch nie war er solch blankem Hass gegenübergestanden.
„Ich bringe keine Resultate, haben sie gesagt. Denen werde ich Lösungen präsentieren, dass ihnen die Augen übergehen!“ Wütend rammte er die Spritze in Eriks Oberarm und rief anschließend durch den Kommunikator: „Brian, komm auf 18, nimm das Rasierzeug und den Knebel mit!“
Erik hörte, wie er Dinge zurechtlegte und einen Wagen neben ihn schob. Metallische Geräusche waren es, dann dachte er, er würde vor Angst verrückt werden, als er eine Bohrmaschine hörte.
„Frederik, tu das nicht“, bat er flehentlich. „Ich weiß was du tun willst, dort wirst du deine Antworten nicht finden.“
Brian trat ein und stopfte Erik den Knebel in den Mund, dann rasierte er ihm den Kopf.
‚Hört auf’, dachte er verzweifelt. ‚Lasst meinen Kopf in Ruhe.’ Er hatte die Kinder mit den Löchern und den Sonden im Schädel gesehen und den Schmerz des jungen Mannes ertragen. Aber ob er das am eigenen Leib aushalten würde, wusste er nicht, er wollte es nicht wissen. Das Beruhigungsmittel begann zu wirken und er lag still.

Das Geräusch des Bohrers brachte ihn fast um den Verstand. Sein Herz schlug zum Bersten und drückte gegen das Brustbein, es schien mit jedem Schlag die Luft aus ihm zu verdrängen. Atemlos, voll Schrecken wartete er auf die Berührung des Metalls, das mit unerbittlicher Kraft den Knochen durchdringen würde. Verzweiflung und Schmerz zeichneten sich in seinem Gesicht ab. Sein ganzer Körper war angespannt.
Dann war es so weit und Frederik begann mit seiner Arbeit. Erik schrie durch den Knebel hindurch. Noch nie wurde das am unbetäubten Menschen durchgeführt, wach waren sie alle gewesen, aber er hatte ihnen ausreichend Schmerzmittel gegeben. Erik musste das so aushalten. Nur wenig Blut kam aus der Wunde, der Schock hatte die Blutung gar nicht erst einsetzen lassen. Er musste sich übergeben und durch den Knebel war er gezwungen alles wieder runterzuwürgen. Dann umfing ihn endlich Bewusstlosigkeit.

Agnes stand vor dem Tor und hörte den Schrei. Wieder versuchte sie in das Labor vorzudringen. Sie sandte ihren Geist wieder aus. Irgendwo musste der Code zu finden sein. Dann kam ihr eine Idee. Es war Frederiks Labor und sehr einfallsreich war er noch nie gewesen. Entschlossen tippte sie sein Entstehungsdatum ein. Lautlos glitt die Tür auf und sie schlich hindurch, immer an die Wand gedrückt, von einer Tür zur anderen, huschte sie. Die Waffe lag schussbereit und entsichert in der Hand, dabei hoffte sie, nicht schießen zu müssen. Sie erfühlte sich nun den richtigen Weg. Der Hass und die Schadenfreude nahmen überhand. Sie wurden nur von unermesslichem Schmerz überlagert, nicht einmal die Angst war so groß.
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****ra Frau
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Die Zeit geht wie sie will und schert sich keinen Deut darum was ich will oder mir erhoffe. Ich werde meine vergangene Zukunft nicht mehr erleben, aber sie auch nicht wesentlich verändert haben.

Nur Mae wusste, dass er wieder etwas für die Gemeinschaft machen wollte und was es war. Die Gruppe achtete nicht weiter auf ihr sonderbares Mitglied und bereitete sich stattdessen auf den Aufbruch vor. Grah und Mae hatten beschlossen, eine größere Höhle zu suchen. Es war auch der Zeitpunkt für ein Stammestreffen. Der Läufer aus einer benachbarten Höhle hatte ihnen die Nachricht überbracht und war bei Alex Anblick vorerst verwirrt stehen geblieben. Alex hatte an seinem Feuer geschnitzt und gerade daran gedacht, wie er feineres Werkzeug herstellen konnte, als der Mann fast in seine Kunstwerke gestolpert wäre. Normalerweise war dieser Bereich am Eingang frei, damit der Durchgang ungehindert war, außerdem war es hier sehr zugig und keiner wollte das Herdfeuer an der kältesten Stelle der Höhle haben.

Der Bote wurde freudig begrüßt. Zulange schon hatten sie auf neue Gesichter und Geschichten verzichten müssen. Alex hätte vielleicht viel zu erzählen gehabt, aber er wollte oder konnte nicht. So blieb er weiter stumm und arbeitete an der Ahle, bis der Bote sie beinahe zerstört hätte. Er verursachte noch mehr Verwirrung, als er sich zu ihrem Schutz über sie geworfen hatte. Der gesamte Clan hatte sich vor Lachen gebogen. Aber Alex hatte nur sein Werk im Sinn. Mae sah ihn traurig an, weil er wieder Mittelpunkt des Spotts gewesen war. Nur sie wusste einen Teil der Wahrheit. Sie hatte beschlossen, ihm zu glauben, warum sonst sollte er sich so eigenartig verhalten und nichts von ihren Sitten verstehen?

Freundlich begrüßte sie den Boten und lud ihn an ihr Feuer ein. Sofort wurde ein Stück Fleisch geholt und am Spieß gebraten. Bald breiteten sich Essendüfte in der Höhle aus, die Alex bewusst machten, dass er wieder einmal auf eine Mahlzeit verzichtet hatte. Er nahm sich fest vor, diesmal zum Gemeinschaftsfeuer zu gehen. Doch dann sah er wieder nur von seinem Bereich aus zu. Er konnte seine Scheu nicht überwinden. Zu unsicher war er im Umgang mit den Gesten und Worten. Einzig in der Natur fühlte er sich geborgen und sicher, nicht einmal die verständnisvolle Mae konnte ihm das nehmen. ‚Ich bin ein alter Mann in einer jungen und dennoch alten Gesellschaft’, dachte er, als er den Hunger ignorierte und die letzten Arbeiten an der Ahle erledigte. Er schmirgelte sie mit einem rauen Stein glatt, so lange, bis sie unten spitz und scharf zulief. So musste sie sein, um Leder durchstechen zu können. Erst als er zufrieden war, stand er auf und ging zu Mae.

Der Bote war gerade dabei eine Geschichte zum Besten zu geben, als er neben Mae in die Hocke ging, den Kopf beugte und ihr die Ahle zeigte. „Das ist für dich, meine Liebe“, murmelte er in seiner Sprache, dann noch einmal, damit ihn alle verstanden: „Für die Mutter der Höhle, eine Kleinigkeit zum Dank.“ Er gab ihr die feine Arbeit, stand auf und ging wieder zurück. Alle wollten jetzt sehen, was Mae bekomme hatte und staunende Rufe waren zu hören.
Mae kam zu ihm ans Feuer und lud ihn zur Gemeinschaft ein, so wie sie es fast jeden Tag tat. „Komm mit, Alex. Sie wollen dich fragen, was das für eine feine Arbeit ist und wie du es hergestellt hast und was am wichtigsten ist, wofür es gut ist. Zeig ihnen deine Fußlinge.“ So gedrängt stand er auf, kramte nach den Fußlingen und ging mit. Wie es seine Gewohnheit war, setzte sich er an den äußersten Rand und reichte die Schuhe herum. „Mit dem spitzen Teil macht man Löcher in Leder und zieht dann Sehne durch“, erklärte er und brachte vor lauter Aufregung die Worte nicht ganz richtig hervor. Schnell begriffen die Höhlenbewohner worum es ging und er erntete eifriges Schulterklopfen. Selbst Groch war beeindruckt von dieser Arbeit. „Dafür hast du also all die Messer gebraucht“, sagte er und zum ersten Mal lächelte er Alex an. Bisher hatte er ihn für einen unnützen Esser gehalten, der ab und zu mit den Kindern spielte und sie von den Erwachsenen fern hielt, wenn diese Ruhe haben wollten. So kam es, dass Alex in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Aber richtig aufgehoben fühlte er sich nicht. Es fehlte ihm zuviel, da waren die alten Freunde, die die gleiche Vergangenheit erlebt hatten und seine Interessen, denen er nicht mehr nachgehen konnte. Er hatte immer gerne mit Agnes diskutiert. Ein feiner Schmerz durchfuhr ihn, als er seit langem wieder an sie dachte, schnell verbannte er alle Erinnerungen.

Sobald der erste Schnee zu schmelzen begann, packten sie ihre Habseligkeiten und machten sich auf den Weg zum Stammestreffen. Danach hatten sie vor, weiter zu ziehen und ein neues Heim zu suchen. Die Gruppe wuchs und gedieh, deshalb wurde die Höhle zu klein.

Das Stammestreffen war für Alex der reinste Horror. Wegen der Ahle wurde er herumgereicht und dennoch mit Skepsis betrachtet. Es war teils Hochachtung und teils Verachtung mit der man ihm begegnete. Er fand diesen Widerspruch in vielen Äußerungen. Er konnte die Signale der einzelnen Stämme nicht auseinander halten und bei den Wettkämpfen konnte er nicht mitmachen. Weder der Umgang mit dem schweren, unhandlichen Speer noch den mit der Schleuder konnte er. So saß er meist alleine vor seinem Zelt und versuchte alles auszuschließen. „Einmal Einzelgänger, immer Einzelgänger“, sagte er den Flammen. Aber es klang nicht mehr bitter. Alex gehörte zu den Leuten, die sich nie in eine Gemeinschaft einfügen können. Sie wollen es, aber eine innere Barriere hindert sie daran, sich zu öffnen und mit den anderen Spaß zu haben. So beobachtete er nur aus der Ferne und es machte ihm immer weniger aus.
Auch beim Stammestreffen wurde er für einen schwächlichen Jüngling gehalten, deshalb waren alle erstaunt, als Grah ihn zum Ringen anmeldete.
„Grah, das kann ich nicht machen. Mein Gegner ist nicht mehr als ein Kind“, versuchte er sich davor zu drücken. Aber es war zu spät, er musste antreten.
„Ich hoffe, du gewinnst für unsere Gruppe“, sagte Grah stolz. „Ich habe ihnen davon erzählt, wie du mich zusammen geschlagen hast und ich gelte als einer der stärksten Jäger.“
Alex fühlte sich dadurch noch mehr unter Druck gesetzt.
Als er erfuhr, wie alt der Herausforderer war, wurde er erst recht wütend. „Grah, ich kämpfe nicht gegen ein Kind. Es war reines Glück, dass ich dich nicht umbrachte. Wer weiß, ob ich mich wieder unter Kontrolle halten kann, wenn ich loslege? Was ist, wenn ich ihn töte? Dann leide nicht nur ich darunter! Ihr werdet genauso gemieden, weil ihr mich mitgebracht habt. Nein. Es tut mir leid, aber der Kampf findet ohne mich statt.“ Er versuchte es immer und immer wieder. Aber sie verstanden ihn nicht oder wollten es nicht.
Mae kam zu ihm und versuchte es zu erklären. Es war eine Veranstaltung, wo sich die jungen Männer in kontrolliertem Rahmen messen und um die Gunst einer jungen Frau werben konnten.
„Ich verstehe schon, worum es geht, Mae. Aber ich kann nicht. Nach der Schlägerei mit Grah habe ich mir geschworen, nie wieder zu kämpfen. Kannst du dir nicht vorstellen, wie es für mich ist? Ich war einmal so etwas wie ein Krieger und ich wollte es nie sein und jetzt zwingt ihr mich wieder, wenn auch zum Spaß, gegen jemanden anzutreten. Ich will das nicht!“, schrie er. Alle im Lager kamen angerannt, so laut war er geworden. Noch nie hatte es jemand gewagt, der Mutter gegenüber so zu reden.

Am nächsten Tag stand er wie vereinbart am Ringplatz. Blasser, schmaler, größer und viel älter als die anderen, stand er in der Reihe der Jünglinge und dachte: ‚Ich will weder eines der Mädchen, noch habe ich es nötig, meine Muskeln spielen zu lassen. Ach, wie mich dieses Machogehabe anödet. Wann hat das alles angefangen? Oder ist es schon seit jeher in den Genen der Menschen einprogrammiert. Ich wünschte, es würde jemand kommen und mich holen. Was hat es gebracht, dass ich ihnen die Ahle geschenkt habe? Eigentlich nichts.’ Er betrachtete die Ringer, ohne sie wirklich zu sehen. Es war ihm gleichgültig. Dann war er an der Reihe. Der Junge überschüttete ihn gerade mit Schmähworten und fühlte sich gedemütigt gegen solch einen schwächlichen Gegner antreten zu müssen. Da dachte Alex an die vielen Male als es genauso war und er sich nicht gewehrt hatte. Diesmal wollte er es anders machen. Die Gruppe zählte auf ihn und sie hatten ihn in ihre Mitte aufgenommen.

Alex stellte sich in das Rund und achtete darauf, die Sonne im Rücken zu haben. Dann gab der Älteste das Zeichen und der Kampf begann. Er dauerte nicht lange und Alex kam weder außer Atem noch ins Schwitzen. Als der Junge am Boden lag, drehte er sich um und ging zu seinem Zelt. Er hörte weder die Rufe noch sah er Mae, die ihm nachlief. Das einzige, das er wollte, war Ruhe und er selbst sein.
„Alex!“, rief sie. „Du bist jetzt seit über einem Jahr bei uns und noch immer fremd. Jedes Mal, wenn ich denke, jetzt bist du angekommen, entfernst du dich wieder. Du bist wie ein neugieriges, aber doch scheues Reh.“
„Der Kampf war für den Jungen aussichtslos. Was sollte das überhaupt? Ich habe es nicht nötig, mich mit irgendwelchen Kindern zu messen nur um dann ein kleines Mädchen in meinen Fellen zu haben. Nein, das ist nicht mein Fall, Mae. Ich bin mehr als doppelt so alt wie der Junge, den ich gerade zusammen geschlagen habe, und ich bin nicht einmal außer Atem geraten!“
Vor Staunen wurden Mae die Augen groß. Sie konnte es nicht fassen, einem so alten Menschen gegenüber zu stehen, der jünger aussah als Grah und ihr Gefährte lebte seit etwas mehr als zwanzig Wintern. Sie selbst war jünger, aber schon seit einigen Jahren die Mutter der Sippe. Sie hatte die Aufgabe von ihrer Mutter übernommen und bereits mehreren Kindern das Leben geschenkt.
Sie dachte an all das, was ihr Alex im Laufe der Monate gesagt hatte, nun verstand sie manches besser, deshalb sagte sie: „Willst du deshalb nicht mehr das Lager mit mir teilen? Du magst mich, aber nicht soviel, dass du das Geschenk mit mir teilst?“
„Oh, Mae! Natürlich liebe ich dich. Aber ich kann nicht über meinen Schatten springen. Immer wenn wir zusammen sind, bin ich im Zwiespalt. Einerseits liebe und begehre ich dich, dass es wehtut und dann wird mir bewusst, dass du in meiner Welt gerade einmal dem Mädchenalter entwachsen wärst und ich kann einfach nicht! Siehst du denn nicht, was das alles mit mir anstellt. Alle meine Lebensgewohnheiten, alle meine Erfahrungen … ach, es bringt nichts. Ich denke darüber schon zu lange nach. Entweder ich akzeptiere es jetzt endlich, dass ich hier zwar in einer Reihe mit euch stehe, aber dennoch nicht viel mehr bin als ein Anhängsel, oder ich gehe fort.“ Während er redete, war er immer weiter gelaufen. Er war wütend auf sich, weil er es nicht geschafft hatte, sich diesem ungleichen Kampf zu entziehen.
„Mit deinem Verhalten macht du der Gruppe Schande“, versuchte es Mae wieder. „Du kannst nicht einfach so wegrennen!“
„Und ob ich kann, Mae. Es reicht mir langsam, mich immer für mein Verhalten zu entschuldigen. Ich bin so erzogen worden, dass ich der bin, der ich nun mal bin. Ich bin zu alt, um noch etwas zu ändern – ein uralter Mann in eurer Gesellschaft. Niemand hier hat meine Erfahrungen gemacht und niemand wird jemals mein Alter erreichen! Versteh doch endlich, dass ich anders bin und lass mir mein Anderssein!“ Jetzt hatte er sich ihr zugewandt und hielt sie an den Schultern fest. Fast hätte er sie geschüttelt, gerade noch konnte er sich beherrschen. „Versuch wenigstens mich zu verstehen“, bat er. „Ich mache für euch den Holz- und Wasserträger, versorge von mir aus die Kinder oder ich grabe die Latrinengrube, das macht mir alles nichts, aber zwinge mich nie wieder, gegen ein Kind anzutreten!“
Als sie nichts sagte, drehte er sich um und ging zum nahen Fluss. Sie nannten ihn Großer oder Breiter Strom. Dort angekommen, riss er sich die Felle herunter und sprang hinein. Er musste sich dringend abkühlen, und das in mehr als einer Hinsicht. Er konnte Mae’s Nähe kaum ertragen, so stark reagierte er auf sie. Aber, wie er ihr bereits gesagt hatte, kam ihm seine interne Programmierung in die Quere. Es gab so viele Verschiedenheiten zwischen ihnen, die sich nicht so einfach überbrücken ließen. Die guten Vorsätze zur Anpassung waren da, aber fast vierzig Jahre im fünften Jahrtausend nach Christus zu leben, machten es nicht gerade einfach für ihn und keiner hier hatte eine Vorstellung davon, was es ihn kostete, seine Herkunft zu leugnen.
„Ich verstehe mich ja selbst nicht“, sagte er, wieder am Ufer. „Da ist eine nette, willige Frau und ich kann es nicht genießen.“ Zornig warf er einen Stein in den Fluss.

Der Frühling verging und sie hatten noch immer keine passende Höhle gefunden, sich aber holzreicheren Gegenden genähert. Während sie in einer Reihe dahinmarschierten, keimte in Alex eine Idee. Er dachte daran, eine feste Behausung zu bauen. Aber dafür brauchten sie viel Holz, Lehm und Werkzeug. Es dauerte lange mit einer Steinaxt einen Baum zu fällen.
Er überlegte alles hin und her, machte im Geist Notizen, verwarf die Pläne und machte neue. So stolperte er blindlings den anderen hinterher und hätte sie fast aus den Augen verloren, als sie in den Wald eindrangen. Mit einem Schlag war ihm bewusst geworden, wie sehr er an der Gruppe hing und auf sie angewiesen war.
Ein kleines Mädchen kam angelaufen und nahm ihn an der Hand.
„Ki, du sollst doch nicht von der Mama weglaufen“, sagte er streng und nahm sie hoch. Doch sie lachte nur und zog ihn an den Haaren. „Komm jetzt laufen wir, damit wir den Anschluss nicht verlieren.“ Ki lachte und gluckste, als er beim Laufen zischende Laute machte. Er wusste, dass sie es mochte, wenn er übertrieb. Bald hatten sie die anderen wieder eingeholt und er stellte Ki auf die Erde. Doch sie hielt ihre kleinen Ärmchen weiter nach oben gestreckt. „O, Mädchen, du weißt, wie du einen alten Mann behandeln musst“, meinte er zwinkernd.
„Aks“, sagte sie nur und schaute ihn treuherzig an.
„Weißt du was Ki, du darfst auf Alex Schultern reiten. Hoch mit dir, aber pass auf dein Köpfchen auf.“
Niemand beachtete die beiden, die etwas Abseits der Gruppe standen. Alex hörte ihrer Diskussion nicht mehr zu, es war immer das gleiche. Sie hatten Angst, vor dem Sommer keine neue Bleibe zu finden und dann keine Zeit mehr für die Anlage von Vorräten zu haben. Mae kannte diese Sorgen nur zu gut, sie waren ein ständiger Begleiter und je weiter sie gingen, desto öfter dachte sie daran wieder umzukehren. Aber auch das würde nichts bringen, sondern nur ihre Unfähigkeit die Gruppe zu führen, zeigen. Sie hätte sich gerne mit jemandem beraten, aber Grah war mürrisch wie immer, wenn er nicht auf Jagd gehen konnte und mit Alex hatte sie seit dem Stammtestreffen nicht mehr geredet als einige nichtssagende Worte. Er hätte vielleicht ihre Probleme verstanden.
Gerade überlegte sie, wann sie für die Nacht halt machen würden, als sie ein lauter Schrei herausriss.
„Auf die Bäume mit euch! Lasst alles fallen und klettert hoch!“, schrie Alex, als ein Bär aus dem Unterholz brach. Alex hatte ihn schon bemerkt und aus den Augenwinkeln beobachtet. Er hatte die sich wehrende Ki in den nächsten Baum gesetzt und gesagt, sie solle sich dort gut verstecken, es ist ein neues Spiel. Dann hatte er die Warnung gerufen und wollte gerade selbst hochklettern, da sah er Brach, der nicht mehr klettern konnte, weil er durch eine Jagdverletzung einen Arm nicht mehr belasten konnte.
„Brach!“, rief Alex und winkte ihn zu sich. „Schnell, halt dich an meinen Schultern.“ Brach, der schon mit seinem Leben abgeschlossen hatte und sich als Bärenfutter gesehen hatte, klammerte sich an Alex und gerade noch rechtzeitig schafften sie es, außer Sichtweite des Bären zu gelangen. „Gut, dass der zu schwer zum Klettern ist. Ich hoffe nur, er rammt keinen der Bäume“, sagte er und hatte Angst, dass ihn Brach’s Gewicht nach hinten fallen ließ, der sich mit nur einem Arm an ihn klammerte und ihn beinahe erwürgte.

Der Bär zeigte aber nur Interesse an ihrer Ausrüstung und durchstöberte alles, riss das Leder und die Felle entzwei, beschnupperte es und kaute daran herum. Dann nahm er einen der Vorratsbehälter zwischen die Zähne, schüttelte ihn und trottete damit davon.

Nachdem sie einige Zeit verstreichen hatten lassen, kletterten sie vorsichtig wieder herunter und besahen den Schaden. Grah war zornig, weil so viele Vorräte verschleppt oder vernichtet waren. „Der Bär muss verletzt gewesen sein, sonst hätte er sich getrollt und uns nicht angegriffen. Normalerweise tun sie das nicht“, sagte er. „Wir müssen ihm folgen. Ich brauche die besten Jäger und die stärksten jungen Männer, dann machen wir Jagd auf ihn. Ein verletzter Bär kann uns gefährlich werden.“ Damit nahm er seinen Speer, eine Fackel und den Feuerbehälter. Die Jäger taten es ihm gleich. Sie warteten erst gar nicht auf Mae’s Erlaubnis, sondern zogen einfach den Bärenspuren nach.
„Dann bleiben wir einfach hier und sehen nach, was wir noch retten können“, entschied Mae kopfschüttelnd. „Danke für die Warnung Alex.“ Sie drehte sich um und suchte ihn, er war nicht zu sehen, war auch nicht bei den Männern gewesen. „Alex? Hat jemand von euch Alex gesehen?“

Alex war etwas tiefer in den Wald gewandert. Er hatte sich eingeblidet, als hätte er eine Höhle oder etwas in der Art gesehen, als er am Baum hing und versuchte sich und Brach zu halten. Gleichzeitig hatte er die Gegend abgesucht und einen Blick nach oben geworfen, wo Ki in den Ästen hockte.
Er war auf eine kleine Lichtung getreten, als ihn etwas innehalten ließ. Da lag ein blutiger Stein und Bärenhaare klebten daran. Neugierig geworden bückte er sich und wollte ihn genauer in Augenschein nehmen. Eben wollte er nach den anderen rufen, als ihn ein schwerer Pfeil in der Schulter traf. Sein Schrei erstarb, als zwei Männer mit Stöcken auf ihn einprügelten und ihn dann fortzerrten.

In einem fremden Lager kam er zu sich. Einen der Männer erkannte er, als den Jungen, den er mit nur einem Schlag zu Boden befördert hatte. Alex wollte sich an die Schulter fassen, da merkte er, dass er an ein Trockengestell gebunden war.
„Hallo“, flüsterte er heiser. „Macht mich los. Ihr braucht mich nicht zu fesseln, ich tue keinem etwas.“ Jedes Wort wurde von Stöhnen begleitet. Er fragte sich, warum er angeschossen worden war und sie ihn jetzt nur anstarrten. Langsam versuchte er den Kopf zu heben, um etwas mehr zu erkennen. Da standen die Mutter des anderen Stammes, ihr Gefährte, der junge Mann und noch einige andere mit Speeren und Stöcken bewaffnete Menschen.
„Gott“, stöhnte er auf eumerisch. „Das gibt es einfach nicht. Die Menschen waren immer schon so. Fremde werden niedergeknüppelt.“
„Halts Maul!“, rief der junge Mann und gab ihm einen Tritt in die Seite, was Alex wieder aufstöhnen ließ.
Jetzt meldete sich die Mutter zu Wort: „Trok, du wirst einen Boten zu Mae schicken müssen und ihr sagen, dass wir ihren Zweitgefährten, haben. Vielleicht will sie ja etwas anderes dafür hergeben.“
Alex wunderte sich über die Feindseligkeit in der Stimme der Frau. Mae war immer freundlich, sogar wenn sie sich stritten war sie nicht von Hass erfüllt gewesen.
„Was wollt ihr von mir?“, wagte er schließlich zu fragen, als sich die Menschen satt gesehen hatten und sich zu zerstreuen begannen.
„Das wirst du noch früh genug erfahren“, kam die knappe Antwort der Anführerin.
„Mach mich wenigstens von den Fesseln los, ich tu keinem etwas und ich werde auch nicht fortlaufen, du hast mein Ehrenwort“, bat er.
Doch sie drehte sich um und ging davon.
Von Schmerzen gepeinigt lag er in der prallen Sonne und fiel immer wieder in Bewusstlosigkeit. In den Wachphasen fragte er sich, was er getan hatte, um sich den Hass dieser Leute, die er nicht einmal kannte, zugezogen zu haben.
Die Sonne versank schon hinter den Bäumen als sich endlich wieder etwas tat. Die Mutter und Trok kamen zu ihm, es war auch noch ein alter weißhaariger Mann dabei, der nicht bei dem Stammestreffen gewesen war. Er stützte sich schwer auf einen Stock und schien schon uralt zu sein.
„Prah, das ist der Kerl, der mir die Ehre gestohlen hat“, verkündete Trok und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Und warum ist dir deine Ehre so wenig wert, dass du sie noch weiter wegwirfst, in dem du diesen Mann hier verletzt und festbindest?“, fragte der Alte.
„Aber er hat mich vor allen gedemütigt, in dem er nach dem Kampf einfach fortging!“, wandte der Jüngere ein.
„Das ist Kinderkram. Ich dachte, du bist ein Jäger, warum verhältst du dich dann wie ein Kind, das Brei möchte, aber den Knochen abnagen muss?“
Darauf wusste Trok keine Antwort.
„Baha, ich hoffe, dass Mae als Wiedergutmachung nicht mehr als eine Jagdbegleitung will. Wie konntest du da nur mitmachen und wieso habt ihr nicht vorher mit mir geredet?“
„Ich bin die Mutter dieses Stammes und wenn sich eines der Mitglieder beleidigt fühlt, dann war es immer Sache der Mutter, das zu bereinigen. Ich habe ihm den Weg freigestellt, es auf seine Weise zu machen.“
„Bindet ihn los und bringt ihn an mein Feuer. Ich werde mir die Wunde ansehen und was ihr sonst noch für Schaden angerichtet habt“, befahl der Alte nun.
Baha bückte sich, durchschnitt die Fesseln und half ihm auf. Trok hatte sich davon gemacht. Er war noch zorniger als vorher. Die Rache hatte nicht so funktioniert, wie er sich das vorgestellt hatte. Noch nie war er so wütend auf jemanden gewesen. Aber der Fremde hatte sein Ziel, der beste Ringkämpfer beim Treffen zu sein, durchkreuzt. Er wollte mit dem Sieg eine junge Frau beeindrucken, die in ihrem Stamm die Mutter werden würde. Nun war es vorbei und er würde sie erst wiedersehen, wenn sie schon Stammesführerin war. Wütend stapfte er in den Wald.

Baha schleppte Alex zu Prah und ließ ihn recht unsanft auf einige Felle fallen. „Tut mir Leid, aber ich kann ihn alleine nicht so weit tragen. Wo ist Trok? Wir müssen noch heute ein Treffen mit Mae ausmachen und uns entschuldigen. Es tut mir Leid, Prah, ich habe nicht daran gedacht.“
Der Alte blickte sie aus weisen Augen an und sagte: „Baha, setz dich her. Du wirst immer wieder mit Entscheidungen leben müssen, die du später bereust. Sieh, du kannst aus jedem Fehler, jedem Missgriff lernen. Und bevor du einwirfst, bei der Jagd kann einem das das Leben kosten, so hast du recht. Jetzt kannst du mir helfen, die Wunde an der Schulter zu säubern und anschließend zu verbinden. Ich weiß, dass du dich damit gut auskennst. Du bist eine gute Führerin, Baha.“
Sie sagte nichts mehr, sondern drehte Alex auf den Bauch, der nur noch stöhnte. Es ging so schnell und dennoch dachte er, dass ihn der Schmerz jetzt umbringen würde, jemand schnitt in sein Fleisch und zog etwas heraus. Alex wurde immer blasser und er hatte den Eindruck, als würde sein Herz jederzeit zu schlagen aufhören. Er fühlte das Blut über den Rücken und die Seite laufen, dann merkte er, wie jemand die Blutung zu stoppen begann und sein Herz hörte auf zu schlagen.

Prah war besorgt. Sollte der Mann sterben, hätten sie mehr Ärger als die anfängliche eingebildete Ehrverletzung wert gewesen war. Als Prah merkte, dass das Herz nicht mehr schlug, drosch er einfach mit der Faust auf den Brustkorb ein und hoffte nichts Falsches zu machen. Aber es hatte schon einmal funktioniert. Warum nicht auch diesmal?
Endlich kam wieder etwas Farbe in Alex. Der Alte legte die Hand auf die Brust des Bewusstlosen und nickte erleichtert, das Herz schlug wieder.
„Baha, ist schon ein Bote zu Mae unterwegs?“, fragte er müde. Es war anstrengend, ein Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Zufällig war er hinter das Geheimnis gekommen. Damals als seine Gefährtin einfach umgefallen war und sich nicht mehr bewegt hatte, da hatte er wie ein wilder auf ihre Brust geschlagen und immer wieder ihren Namen gerufen. Das hatte er solange gemacht, bis sie wieder die Augen aufschlug.
„Ja, Großvater. Er müsste bald dort sein, so weit sind sie nicht von uns entfernt, wenn Trok es in einem halben Tagesmarsch geschafft hat, ihn herzubringen.“
Prah brummte zufrieden und ging in sein Zelt. Der Alte befürchtet, dass Trok sie absichtlich diesen Weg nehmen ließ. Er war als Späher ausgesandt worden, um einen Platz für das Sommerlager zu suchen.
Jetzt saß er da und betrachtete den Mann, der ihm da so unvermutet und schwer verletzt vor das Zelt gelegt worden war. Er fragte sich, ob das eine Botschaft der Großen Mutter war, das Miteinander zu überdenken. Prah lebte schon länger als die meisten anderen, nun betrachtete er den langen Weg, den er gegangen war und beleuchtete es in einem anderen Licht. Nicht alles was er getan hatte, war in den Augen der Mutter gut gewesen. Warum sie ihm dies lange Leben geschenkt hatte, wusste er nicht, jetzt sah er einen weiteren Sinn. Mit einem lauten Schnauben stand er auf. Die Knie schmerzten, wenn er lange Zeit gesessen hatte und er hatte Probleme beim Gehen, aber das durfte ihn jetzt nicht stören. Er hatte vor, etwas Weißdorntee zu machen und ihn dann Alex zu geben, wenn es nicht bereits zu spät war.

Ich stehe auf einem Plateau und betrachte das Land. Erhabene Gipfel ragen ringsum in den Himmel. Dieses Land kenne ich. Hier war ich einige Jahre meines Lebens eingesperrt und habe gelernt ein Soldat zu sein. Warum bin ich wieder hier? Was möchte ich? Langsam komme ich zu mir.
Ich will nachhause.


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****ra Frau
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Vor einer der vielen Türen blieb Agnes stehen. Von innen vernahm sie Maschinengebrumm und leises Reden. Also war mehr als eine Person dort. Tief holte sie Atem und fasste nach dem Türgriff. In diesem Moment wurde sie aufgerissen und sie starrte dem Helfer ins Gesicht. Ohne zu überlegen hob sie die Waffe und drückte ab, mitten ins Herz ging das Geschoss. Sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Rasch stieg sie über den Toten und zielte auf Frederik. „Hör auf!“, befahl sie.
„Du wirst mich nicht abknallen, Agnes“, entgegnete er selbstsicher. „Nimm die Waffe runter, oder ich bohre direkt in sein Hirn.“
Agnes senkte die Pistole, behielt sie aber in der Hand.
„Was hast du immer nur mit diesen sonderbaren Typen? Zuerst Alex und jetzt der da? Ich wollte mich mit dir zusammen geben lassen. Unsere Familiengene sind kompatibel und würden sich hervorragend ergänzen.“
„Du bist verrückt, Frederik. Nicht jeder will um jeden Preis Erfolg und Macht. Dir ging es nur um den Familiennamen und die Gene. Ich interessiere dich nicht und das macht mir auch nichts aus. Aber lass jetzt bitte von Erik.“ Während sie sprach war sie vorsichtig einen Schritt weitergegangen. Dabei sandte sie ganz leise unangenehme Gefühle aus: Einsamkeit, Schmerz, Schuld, Scham. Es waren ihre eigenen Gefühle, die sie ihm zu sehen gab. „Freddie, mach die Augen auf. Es ist nicht alles immer nur Wissenschaft. Hier liegt ein Mensch vor dir, und keine Maschine. Willst du immer nur vernichten?“ Wieder kam sie näher und verstärkte die erinnerten Gefühle. Als er nicht reagierte, ging sie weiter. Jetzt zeigte sie ihm Liebe, was es heißt, wenn man ohne Rücksicht auf das eigene Leben für jemand anderen eintritt. Sie zeigte ihm was Fürsorge ist, wenn man mit seinem Schmerz nicht alleine zu sein braucht und gehalten wird. „Ich kann dich halten Freddie, du musst es nur wollen“, sagte sie ganz leise. Nun stand sie direkt vor ihm. Die Waffe lag schwer in ihrer Hand, aber sie ließ nicht los. „Freddie soll ich dich halten?“, fragte sie wieder.

„Hör auf damit! Du bist auch eine dieser Verblendeten. Stör nicht meine Arbeit!“ Frederik ließ sich nicht beirren. Wieder setzte er den Bohrer an. Noch bevor er ihn einschalten konnte, hob Agnes die Waffe und drückte ab. Frederik fiel polternd zu Boden, in seiner Stirn prangte ein grausiges Loch.
‚Nur noch ein Schuss übrig’, dachte sie. ‚Ich hoffe, es sind keine Wachen mehr hier.’ Sie gab sich keine Zeit, um über diese Taten nachzudenken, sondern wandte sie sich Erik zu, der noch immer bewusstlos auf der Trage lag. Zuerst entfernte sie den Knebel und die Fesseln, dann verband sie die Kopfwunde und wusch sein Gesicht. Die Berührung weckte ihn, stöhnend regte er sich. Orientierungslos wedelte er mit der Hand in der Luft. „Wer ist da?“, fragte er unsicher.
„Ich bin es, Agnes. Wir müssen von hier verschwinden“, sagte sie drängend. „Kannst du gehen?“
„Ich werde müssen. Aber mir ist so schlecht und ich kann nichts sehen. Agnes, ich weiß nicht, was er mir gegeben hat. Kann sein, dass sich die Mühe, mich zu retten nicht lohnt. Wenn ich liegenbleiben sollte, dann rette dich selbst und versteck dich so gut du kannst.“
Agnes kämpfte weiter mit den Tränen und der Angst, aber noch behielt die Entschlossenheit die Oberhand. „Wir werden sehen, Erik. Jetzt brauchst du erst einmal etwas zum Anziehen. Freddies Sachen sind dir zu klein, aber die von dem anderen müssten passen, auch wenn sie dir zu weit sind, ist es besser als nur in Shorts durch die Gegend zu rennen.“ Sie redete einfach irgendetwas, damit er sie hören konnte. Immer weiter ging ihr Redestrom. Es war grausam und ekelhaft den Leichnam zu entkleiden. Schließlich war es geschafft und sie half Erik in die Sachen.
„Mich wundert, dass nach dem Radau, den ich hier veranstaltet habe, noch keiner nachschauen gekommen ist“, sagte sie, als sie ihm auf die Beine half.
„Mich nicht. Heute ist irgendeine Delegation hier, die sind in den oberen Büroräumen und kommen sich wichtig vor. Gehen wir dorthin? Wollen wir ihnen einige Gefühle präsentieren?“ Dann hielt er sich an ihr fest und drückte sie an sich. „Ich fürchtete schon, dich nie wieder zu sehen. Wir geben nicht auf, nicht wahr, Agnes? Niemals.“
„Nein, wir geben nicht auf, mein Lieber.“ Auch sie klammerte sich an ihn. „Schade um dein schönes Haar“, sagte sie als sie ihm über den Kopf strich.
„Ich kann es nicht mehr sehen, also ist es mir gleichgültig. Aber ich finde es schade, dass ich dich nicht sehen kann.“
Agnes machte sich los und sagte: „Einen Moment noch. Freddie hat eine Chipkarte, damit können wir den Lift benutzen und durch alle Türen gehen.“ Schnell fand sie das gewünschte Teil und dann kehrten sie diesem brutalen Ort den Rücken.

Keine Menschenseele begegnete ihnen am Gang. Am Lift war immer noch keiner zu sehen. Sie waren verwundert, weil hier nichts und niemand anwesend war. Agnes drückte auf den Knopf in den zehnten Stock und sie fuhren los.
„Vorsicht beim Aussteigen, Erik.“ Sie hörten die Leute schon, während die Lifttür aufging. Agnes hob die Waffe. Es wusste niemand, dass sie nur noch eine Patrone im Magazin hatte. Also setzte sie die eiskalte Lindstrom-Miene auf und zog Erik mit sich. Es kostete ihn erhebliche Kraft, die Füße auch nur anzuheben.
„Ich kann nicht mehr, lass mich fallen“, flüsterte er.
„Nein!“, kam es entschieden zurück. „Ich lasse niemanden fallen.“ Sie sah sich im Foyer um. Dann zeigte sie mit der Waffe auf einen jungen Mann und rief: „He, Sie da! Kommen Sie her und stützen sie meinen Freund! Hopp, hopp. Etwas schneller, wenn ich bitten darf! Seien Sie nicht so schüchtern, eine Berührung bringt sie nicht um.“ Als der Mann Erik endlich geschultert hatte, sagte Agnes weiter: „Und jetzt bringen Sie uns zu Ihrem Boss. Dort soll ja heute eine Veranstaltung sein. Wenn Sie uns vorstellen wollen, wir sind Doktor Lindstrom und Hauptmann Landmann, nicht ganz unbekannte Namen, wie ich bemerken darf.“

Jedes Mal wenn Agnes einen Blick auf Erik warf, durchfuhr sie ein feuriger Schmerz. Aber jetzt musste sie sich hart machen für das was sie vorhatten. Gemeinsam hatten sie sich geschworen der Welt die Liebe zu zeigen. Eine bessere Möglichkeit als heute würde es nicht mehr geben. Sie waren bereits im Gebäude und soviel sie wussten war fast der gesamte Senat anwesend. Auch einige Medienleute waren da. Agnes hatte sie im Empfangsbereich gesehen. Wie ein Rattenschwanz schlichen sie ihnen jetzt nach.

„Machen Sie auf und melden Sie uns an“, befahl sie und wedelte mit der Pistole. Dann wandte sie sich an die Reporter: „Sie sind eingeladen, zuzuhören, und sehen Sie sich meinen Freund ganz genau an! Er wurde als Versuchstier missbraucht – und er war bei weitem nicht der einzige in den Labors. Notieren Sie sich das: in den Versuchseinrichtungen werden Kinder verstümmelt und mit Medikamenten vollgepumpt bis sie daran sterben.“ Mit einem Arm stütze sie jetzt Erik und in der anderen hielt sie die Waffe.
Er flüsterte: „Wir werden schnell machen müssen, ich fürchte die Polizei wird bald hier sein.“
„Ich weiß.“ Zusammen betraten sie den Saal. Agnes sah alle Senatoren, darunter auch ihre Eltern, die sie empört anstarrten und Erik angewidert musterten. Er öffnete seinen Geist so weit er es mit der Betäubung schaffte und begrüßte alte Bekannte.
„Landmann! Das ist Hauptmann Landmann“, hörten sie jemanden sagen. „Ich kenne ihn. Was ist mit ihm geschehen?“
„Senator Gilmore, es freut mich, dass Sie mich noch kennen. Fragen Sie Abgeordneten Meyer, sie waren doch unten in den Labors. Es war Ihre Stimme die ich hörte.“ Alle blickten jetzt auf den Genannten. „Geben Sie uns Ihre Erinnerungen, Abgeordneter. Teilen Sie, was Doktor Hauser Ihnen gesagt hat“, forderte er. Aber der Abgeordnete versteckte sich hinter einer Mauer aus Korrektheit und vermied den Blickkontakt zu den Kollegen.
„Agnes, ich muss mich setzen“, flüsterte er. „Ich schaffe das nicht mehr lange.“
„Sie da! Bringen Sie einen Stuhl her!“, befahl sie barsch und unterstrich die Dringlichkeit durch einen Wink mit der Pistole. Schnell stand ein Sessel da und Erik ließ sich seufzend darauf nieder. „Kannst du ihnen jetzt die Gefühle präsentieren, Liebes?“ Er hatte alle Liebe in seine Stimme gelegt, die er in dem Moment empfand. „Auch wenn ich nie wieder sehen werde, habe ich dein Gesicht immer vor mir.“ Er fasste nach ihrer Hand und küsste sie. Ein empörtes Raunen ging durch den Saal. Erik hatte mit voller Absicht so gehandelt. Die Leute mussten aufgerüttelt werden. Agnes umarmte ihn und nahm auf seinem Schoß platz. Alles war eine Demonstration der Liebe und wie man ihr Ausdruck verleihen kann. Er lächelte als er sie so schwer auf sich fühlte. „Es geht los“, sagte er, dann half er Agnes, den Leuten die Liebe zu zeigen. Erik verstärkte die Vision und sandte sie auch außerhalb des Raumes. Es waren aber nur Agnes Emotionen. Seine waren zu sehr mit Schmerz vermengt, dass er es nicht wagte, sie zu zeigen. So gab sie ihre Liebe und fühlte sie wachsen.
„Jetzt weiß ich, was Alex gemeint hat, als er sagte, er liebt die Menschen.“

Im Saal war es ruhig geworden. Alle versuchten die empfangenen Eindrücke zu verarbeiten. Da sagte Erik unvermittelt: „Die Militärpolizei ist im Haus. Agnes, geh bitte und lass mir die Waffe.“
„Nein, Erik. Entweder wir gehen gemeinsam oder gar nicht. Ich stehe zu dem was ich getan habe.“
„Aber ich bin dein vorgesetzter Offizier. Du kannst immer behaupten, nur Befehle befolgt zu haben. Ich möchte dich lieber in Sicherheit und am Leben wissen.“
„Das weiß ich. Aber ich möchte nicht in einer Welt leben, wo der Einzelne nichts zählt und jeder nur nach Macht strebt und die sogenannten Unwerten unterdrückt und ihre Gene so manipuliert, dass sie mit spätestens fünfzig Jahren tot umfallen.“ Diese Gedanken hatte sie eben von ihm empfangen. Noch immer starrten die Leute verblüfft auf Agnes und Erik, die sich heftig aneinanderklammerten.
„Wir geben nicht auf“, sagte sie und küsste ihn.

„Hört auf, ihr beiden! Sofort!“, brüllte Senator Landmann. „Ich schäme mich, dass so etwas aus meinen Genen entstanden ist!“
„Sei still!“, fauchte jetzt Erik. „Du hast keine Ahnung wovon du redest. – Agnes, hilf mir auf, ich will zu diesen Blinden gehen. Sie wollen nicht sehen, also werden sie es fühlen müssen.“
Zitternd und sich an Agnes klammernd stand er auf und schwankte zu den Leuten, die sich um einen großen Tisch drängten. Dort ließ er sich wieder auf einen Stuhl nieder und stellte fest, dass er seine internen Mauern wieder erkennen konnte. Er riss sie nieder und ließ alles raus, was er in der Vergangenheit erlebt hatte. Mit der Wut der Verzweiflung zeigte er ihnen ein Kind das an der Gleichgültigkeit beinahe zugrunde gegangen war. Dann war er ein junger Mann der nach Zuspruch suchte und nichts als Forderungen fand. Später auf der Militärakademie, der beinharte Drill, der den wissenschaftlich interessierten Mann fast brach. Und seine Entscheidung Agnes zu helfen, als er in sich Hoffnung auf ein anderes Leben keimen fühlte. Jetzt zeigte er die Erinnerungen, als sie sich in Liebe vereint hatten. Die meisten Leute wurden rot und senkten verlegen den Blick. Schon wollten einige zu protestieren beginnen, als die ersten den Schmerz fühlten. Das war etwas Unbekanntes für diese behüteten Leute, die sich höchstens einmal beim Rasieren schnitten. Einige fielen in Ohnmacht, andere schrien. Erik kannte kein Mitleid mit ihnen. Sie hatten auch keines mit den Probanden, denn viele der Senatoren waren im Vorstand des Gentech Konzerns oder anderer Firmen. „Hört mit den Forschungen am Menschen auf!“, forderte er. „Wir haben die Tierversuche aufgegeben, weil wir niemanden mehr quälen wollten und ihr macht so weiter. Jedes Leben ist wertvoll!“, schloss er. Wieder griff er nach Agnes Hand und drückte sie.

Die Reporter hatten interessiert und ergriffen zugehört und die Emotionen empfangen. Jetzt begannen sie, die Daten zu übertragen. Jeder wollte der erste sein, der diese Neuigkeit präsentierte. Bald würde auf allen Kanälen zu sehen sein, wie sich zwei Menschen küssten, ohne dass sie tot umfielen.

„Agnes, geh jetzt“, forderte er wieder. „Ich kann nicht mehr, mein Leben ist so oder so zu Ende. Geh sofort, nimm einen anderen Namen an und versuche glücklich zu werden. Suche Alex, du weißt wo er ist. Sainkoh wird dir helfen, ich weiß, dass sie es kann. Wir haben den Menschen die Liebe gezeigt, ihnen eine Tür geöffnet, durchgehen müssen sie selbst. Ich liebe dich und deshalb fordere ich dich auf, zu gehen. Ich werde leichter sterben können, wenn ich dich in Sicherheit weiß.“ Aus blinden Augen blickte er sie direkt an und sie hatte das Gefühl als würde er ihr bis tief hinein in die Seele blicken.
Agnes konnte nichts mehr sagen, sie gab ihm die Pistole und schaute ihn traurig an. Dann umarmte sie ihn ein letztes Mal und rannte hinaus, vorbei an den erstaunten Reportern, die nicht wussten, was sie berichten sollten.

Als Agnes weg war, wartete Erik gelassen auf die Militärpolizei. Es dauerte eine Weile bis sie eintrafen. Während er wartete wandte er sich an den Mann, der eigentlich ein Vater hätte sein sollen, aber das Wort nicht verstanden hatte. „Siehst du Senator Landmann, es ist nicht immer so wie man denkt. Ich weiß, was mich erwartet und es war es wert. Ich kann von mir behaupten, wenigstens einmal im Leben geliebt zu haben. Was ist mit dir? Hast du jemals etwas für ein anderes Lebewesen empfunden oder getan? Einmal habe ich zu Agnes gesagt, dass ich nicht aufgeben werde und das werde ich nicht. Niemals, solange in mir noch etwas Leben ist.“ Senator Landmann war sprachlos. Er sah seinen Nachkommen plötzlich mit anderen Augen und er schickte die anderen Leute hinaus. Jetzt hatte er die Möglichkeit mit Erik allein zu reden, ihn vielleicht etwas kennen zu lernen, bevor die Justiz ihren Lauf nahm.
Erschüttert bemerkte er jetzt die vielen Verletzungen, die Erik zugefügt worden waren, und dass dieser noch immer aufrecht saß.
„Was willst du mit der Waffe?“, fragte der Senator, er konnte dem blinden Mann vor sich nicht mehr ansehen und dennoch wurde sein Blick immer wieder von dieser geschundenen Gestalt angezogen..
„Nichts. Sie dient einzig und allein als Beweisstück.“ Dann herrschte wieder eine angespannte Stille, die Erik brach: „Ich lade dich wieder ein, Vater, meine Gedanken zu teilen oder willst du mir deine schenken?“ Erik öffnete sich dem Senator und ließ ihm Einblick nehmen in seine Wahrheiten. Dann durchstreifte er die Erfahrungen des Älteren. Sie glichen den seinen, nur war dem Senator nie in den Sinn gekommen, dieses Leben zu hinterfragen.
„Ich muss mich bei dir entschuldigen, Erik. Es war mir nicht bewusst, dass es dich so verletzt hat, ehrlich gesagt, war es mir bis heute sogar gleichgültig“, sagte er mit belegter Stimme. „Nun ist es zu spät für uns. Ich höre sie bereits kommen und ich werde dir nicht helfen können.“
„Das musst du nicht, Senator. Ich bin immer für meine Taten eingestanden, das wird sich jetzt nicht ändern. Es ist besser, wenn ich durch eine Kugel sterbe als langsam an dem Gift zugrunde gehe, das mir dieser Horrordoktor gespritzt hat. Ich wünschte nur …“ Er brach ab, weil die Soldaten eindrangen und ihn abführten.

Aufrecht trat er später der Kommission gegenüber und nahm alle Schuld auf sich. Er log und behauptete, Agnes als Geisel genommen zu haben. Niemand glaubte ihm, aber er blieb stur dabei. Agnes Lindstrom wurde eifrig gesucht aber nicht gefunden.
Erik empfand es fast als Gnade, als er endlich vor dem Hinrichtungskommando stand. Das Gift wirkte sich immer mehr auf seinen Körper aus. Oft hatte er Halluzinationen oder den Eindruck, als würde sich die Haut abschälen, der Schmerz war ein ständiger Begleiter und nichts vermochte ihn zu vertreiben.
„Die Liebe ist das wichtigste auf der Welt. Ich habe euch einen Weg gezeigt“, waren seine letzten Worte.
Erik Landmann starb mit einem Lächeln im Gesicht.
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****ra Frau
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Mae war suchend in den Wald gelaufen, als Grah mit den Jägern und dem erlegten Bären zurückkam. Sofort rannte er ihr nach und schrie sie ärgerlich an: „Bist du verrückt geworden, so kopflos loszurennen? Was ist, wenn hier noch mehr Bären sind oder andere gefährlich Tiere? Komm mit zum Lagerplatz und lass uns vernünftig überlegen, was zu tun ist. Du müsstest wissen, dass ich keinen der Unsrigen im Stich lasse, Mutter.“
Das erweichte sie und sie ging mit zurück. Ihr Weg führte sie über die Lichtung, auf der Alex verletzt wurde. Grah sah die Kampfspuren sofort und deutete sie richtig. Er war ein guter Jäger und umsichtiger Anführer.
„Geh ins Lager und sag den anderen Bescheid, ich folge der Spur“, sagte er. Mae sah, dass er in streitbarer Stimmung war und folgte seiner Anweisung. Der Jäger verfolgte die Fährte, sie war kaum zu übersehen, denn der Gegner hatte sich keine Mühe gegeben, seine Spur zu verwischen. So kam er ungesehen in das Lager des anderen Wolf-Stammes. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte er hinein und ging zum Zelt der Mutter.
„Baha!“, rief er. „Ihr habt einen aus meinem Stamm. Ich habe die Spuren bis hierher verfolgt! Die Mutter des Stammes des Großen Bären ist wütend über die Entführung und der Führer der Großen Jagd ebenso. Wenn ihr nicht mehr Ärger wollt als euch lieb ist, dann gebt ihn wieder zurück!“

Der gesamte Stamm des Wolfes versammelte sich in der Mitte des Lagers und starrte auf den zornigen Grah. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und funkelte jeden einzelnen an. Kleine Kinder begannen zu weinen, weil er so böse schaute.
Da trat Trok vor und sagte mutig: „Ich habe ihn geholt, um meine Ehre wieder herzustellen.“
„Welche Ehre? Die hast du dir durch deine Handlung selbst genommen. Wärest du Mitglied meiner Sippe, würde ich dich dafür schwer bestrafen!“, brüllte Grah. „Es geht nicht, dass wir anfangen uns gegenseitig zu verletzen oder gar töten.“
Baha mischte sich jetzt ein. „Du kannst deinen Mann, sofern er einer ist, gerne wieder mitnehmen. Aber ihm geht es nicht gut. Er scheint etwas schwächlich zu sein“, sagte sie verächtlich. Sie hatte sich von der Angst der anderen anstecken lassen. Alles Fremde wirkte furchteinflößend. Alex sah zwar aus wie ein Mensch, aber er war nicht wirklich wie sie, das war schon Unterschied genug, um ihm feindselig gegenüber zu treten.
„Ich will ihn sehen“, forderte Grah.
Baha winkte ihm, ihr zu folgen und brachte ihn zu Prahs Zelt. Sie kratzte am Eingang, bückte sich durch die Zeltklappe und fand den alten Mann in tiefer Trance vor. Schnell zog sie sich zurück und prallte mit Grah zusammen.
„Wir können Prah jetzt nicht stören. Er ist mit den Geistern in Verbindung. Euer Mann ist bei ihm, da ist er sicher, wenn dir das Sorgen macht.“
Grah brummte, zog sich aber etwas zurück. Er kannte das von Mae, wenn sie mit den Geistern sprach, dann durfte man sie auch nicht stören. Aber er wunderte sich, dass Baha das nicht machte, sondern dem alten Mann überließ. Jeder Stamm kannte Prah, den ältesten und weisesten Menschen, deshalb war der Stamm des Wolfes auch so angesehen. Das Ansehen würde jetzt etwas leiden. Grah hatte aber aus alter Freundschaft nicht vor, diese Geschichte breit zu treten. Falls Alex aber sterben sollte, dann würde der Fall an den Rat der Mütter übergeben werden müssen.

Bevor Prah von dem Stechapfelsud trank, flößte er Alex etwas von dem Weißdorntee ein, den er zubereitet hatte. Dann trank er das bittere Gebräu und wartete, dass die Vision eintrat. Er brauchte den Gesang nicht mehr, und auch nicht die Bewegung, trotzdem kam das Lied automatisch über seine Lippen. Als der Trank wirkte, kippte er nach hinten, er hatte sich wohlweislich ein Lager aus Fellen hergerichtet, und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die Zeltbahnen.
Er sah: fremde Welten, Menschen, die wie der Fremde aussahen und sonderbare Laute ausstießen, Werkzeuge, die er nicht verstand und schreckliche Kriege. Dann sah er den Fremden, wie er anderen Fremden zuwinkte und im Nebel verschwand, nur um hier wieder aufzutauchen. Es war eine rätselhafte Vision, die ihm Angst machte. Diese furchtbaren Kämpfe, die vielen Toten. ‚Habe ich einen Blick in die Zukunft getan?’, fragte er sich, als er in die Gegenwart zurückfand. Dann schüttelte er die bösen Bilder ab und wandte sich wieder Alex zu. Die Trance hatte ihm keine Einsichten in die Heilung des Mannes gebracht. Er sah ihn jetzt aber als Besucher einer anderen Zeit – das wollte er allerdings geheim halten.
Prah beugte sich über ihn, hielt die Hand vor seinen Mund und freute sich, als er warmen Atem spürte. „Mutter sei Dank!“, rief er. „Er atmet wieder und das Herz schlägt auch noch. Fremder, du hast das Schlimmste überstanden.“
Grah hatte die Worte gehört und war sofort ins Zelt gestürmt.
„Alter Mann, sei gegrüßt“, sagte er schnell und hoffte, dass er ihm das Eindringen in seinen Bereich nicht übel nahm.
„Du auch Grah. Er lebt, wenn du ihn mitnehmen möchtest, dann musst du noch warten, bis er völlig erwacht. Ich würde dir raten, dass ihr euer Lager hier in der Nähe aufschlagt und Mae zu mir kommt.“
„Ich nehme dein Angebot an, Ältester, aber ich werde erst Baha um Erlaubnis bitten.“
„So soll es sein, Grah. Es ehrt dich, dass du dich um deine Stammesbrüder so sorgst.“
Grah senkte das Haupt und ging.

Es war schon dunkel, als er wieder bei seinen Leute ankam, dort saß bereits der Bote, den Trok ausgeschickt hatte. „Komm du mir nicht mit irgendwelchen Forderungen!“, hörte Grah gerade Mae rufen. Sie stand vor dem Feuer und schrie den Läufer an.
„Still!“, polterte er, als er ins Licht trat. „Ich habe die Sache geklärt. Wir schlagen unser Lager neben dem Wolfs-Lager auf und werden diesen Sommer zusammen jagen. Morgen früh ziehen wir los. Der Bote möge hier schlafen, im Dunkeln ist das Wandern alleine zu gefährlich. Ein Verletzter ist genug.“ Damit sah er Mae fest an.
„Gut gesprochen, Jagdführer“, sagte sie und setzte sich wieder. Dann bot sie dem Läufer ihre Gastfreundschaft an.

Eigentlich wollten sie ja eine feste Unterkunft für den Winter suchen, aber wie die Dinge nun lagen, mussten sie sich mit einem Sommerlager begnügen. Aber Baha hatte ihnen zugesichert, ihnen bei der Suche nach einer Höhle behilflich zu sein.

Alex Kreislauf hatte sich stabilisiert, nachdem der Weißdorn seine Wirkung entfaltet hatte. Prah gab ihm davon dreimal täglich zu trinken. Aber es wirkte nicht so, wie er es erhoffte, Alex erwachte nicht. Es war als würde er lieber weiterschlafen wollen. Zu allem Überfluss hatte sich die Wunde an der Schulter am dritten Tag entzündet und nun lag er im Fieber.
Mae und Prah wechselten sich mit der Krankenwache ab. Grah war mit den jungen Leuten beider Lager auf Jagd gegangen und Trok musste sein Amt als Jagdführer für diese Saison abgeben. Dieser nahm das mit einem missmutigen Brummen zur Kenntnis. Zwischen den beiden herrschte eine unterschwellige Feindschaft, die von dem Jüngeren ausging. Grah ignorierte die Sticheleien gekonnt. Über so etwas war er bereits hinausgewachsen.

„Warum wird sein Fieber nicht weniger?“, fragte Mae, als bereits mehrere Wochen vergangen waren. „Immer wieder, wenn ich denke, jetzt wird es besser, dann kommt ein neuerlicher Schub. Ich fürchte, dass er sterben wird. Sieh nur, wie dünn er schon ist, so übersteht er den kommenden Winter nicht.“
„Du hast recht, mein Mädchen, aber ich wüsste nicht, was ich sonst noch tun kann. Wir geben ihm die besten Mittel, die wir haben. Solange sein Geist nicht in diese Welt zurückkommen will, werden wir nichts machen können. Rede mit ihm, vielleicht hilft es ihm, sich zu orientieren.“
Alex lag auf weichen Fellen, wurde mit kaltem Wasser gewaschen, gedreht, er wurde mit Flüssigkeit versorgt und bekam dennoch von all dem nichts mit. Seine Seele war an einem anderen Ort. Manchmal sprach er im Schlaf unverständliche Worte, dann wieder in der Sprache der Steinzeitbewohner. Das hörte Mae schließlich: „Agnes, bring mich bitte nachhause. Ich will heim. Mutter, kannst du das nicht verstehen?“ Dann sank er mit einem Seufzer wieder in sich zusammen und warf sich im Traum hin und her. Immer wieder rief er diesen fremden Namen und Mae fragte sich, wer diese Person wohl sei.
Schließlich begannen sie ihm neben Tee auch Suppe einzugeben. Es verging abermals eine Woche, bis er endlich die Augen aufschlug.
Verwirrt blickte er sich in der fremden Umgebung um. Alles hier war fremd, sogar das Feuer schien anders zu riechen. Er versuchte sich aufzusetzen und musste feststellen, dass ihm die Kraft dazu fehlte. „Was ist passiert?“, fragte er auf eumerisch. Als ihn Mae verständnislos anblickte wiederholte er die Frage in ihrer Sprache.
„Kannst du dich an nichts mehr erinnern?“
„Nein, ich weiß nur noch, wie ich in den Wald gegangen bin. Ich glaubte, eine Höhle entdeckt zu haben und war schon auf dem Rückweg, dann weiß ich nichts mehr. Oh, Mae, ich bin so durstig und ich habe das Gefühl, als wollte mein Herz aus dem Brustkorb springen.“
Keiner wusste es und Alex begann es zu fürchten, er hatte einen Herzinfarkt und den mit knapper Not überstanden.

Es dauerte den ganzen Sommer, bis er so weit war, dass er alleine aufstehen und gehen konnte. Mae versuchte ihn immer zu überreden etwas Fleisch zu essen, aber er übergab sich jedes Mal, wenn er es nur ansah. Also ließ sie es bleiben und brachte ihm stattdessen Suppe und die kleinen Getreideküchlein, die er so gerne mochte. Sie reicherte sie mit Fett und Beeren an, damit sie nahrhafter waren. Manchmal gab sie statt der Beeren auch Wurzeln dazu. Er zwang sich zu essen und aufzustehen, auch wenn die Schulter noch immer wehtat und er leicht außer Atem geriet.

Als es ihm wieder so weit gut ging, dass er eine Weile am abendlichen Feuer sitzen konnte, sagte er: „Mae, ich denke, ich kann nicht mehr mit euch Schritt halten. Ich werde wahrscheinlich auch am Ende des Sommers nicht schneller gehen können als jetzt. Sieh nur, wie früh die Sonne bereits untergeht. Bald werden die Jäger zurückkommen und dann haben wir noch kein Winterlager. Ich fürchte, ihr werdet ohne mich weiter ziehen müssen.“
Mae war erschrocken aufgesprungen, auch Baha starrte ihn mit offenem Mund an. Nicht einmal ihre Stammesleute, sprachen so offen über ihre Schwäche und keiner würde sich selbst zurück lassen, nur damit die Gruppe überleben konnte. Sie wunderte sich. ‚Was ist das für ein Mensch?’, fragte sie sich.. Immer wieder überraschte Alex mit solchen Aussagen. Er stellte den Wert der Gruppe höher als sein Leben. Oder schien es ihm so wenig wichtig zu sein?
„Warten wir die Jäger ab“, sagte Mae deshalb beschwichtigend, weil sie merkte, dass er sich sonst nur unnötig aufregen würde.

Etwas später half ihm Mae wieder in sein Zelt. Mittlerweile schlief er wieder wie gewohnt alleine. Sie hatte ihm sooft angeboten, das Zelt mit Grah und ihr zu teilen, dass sie es schlussendlich resigniert aufgegeben hatte und es als eine weitere sonderbare Eigenheit abtat.

Baha half ihnen die Höhle zu suchen, die Alex vor dem Angriff zu sehen glaubte. Sie fanden tatsächlich etwas, aber es zeigte sich, dass sie als Dauerunterkunft nicht ausreichend war.
„Für einen Winter wird es reichen müssen“, meinte Mae versöhnlich. „Wir bringen unsere Sachen dort unter und richten uns ein, so haben wir mehr Zeit, Vorräte anzulegen. Sobald die Jäger zurück sind, wird das Wolfslager aufbrechen.“

Alex ging nur mehr selten irgendwo hin. Er fand sich nutzloser als je zuvor. Einen Tag ehe die Jäger zurück erwartet wurden, ging er zu Prah. Respektvoll ließ er sich vor dem alten Mann nieder und neigte den Kopf.
„Du musst mir deinen Respekt nicht so deutlich zeigen, Alex“, meinte er schmunzelnd. „Es wäre vielleicht angemessener, wenn ich das Haupt vor dir beugen würde. Du bist weit weg von zuhause. Oder sollte ich sagen, viel Zeit wird vergehen, bis du geboren wirst?“
„Woher weißt du das, Großvater?“ Er benutzte die respektvolle Anrede, die hier alten Menschen gegenüber gebräuchlich war, fast selbstverständlich.
„Ich habe dir zugehört, als du im Fieber geredet hast. Vieles davon war mir unverständlich. Einiges sah ich in Visionen. Aber davon werde ich dir nichts erzählen. Stattdessen werde ich dir jetzt einen Tee machen. Du wirst diesen Tee immer brauchen. Für dein Herz war die ganze Anstrengung zuviel, es muss gestärkt werden.“
Alex stand auf und sagte: „Lass mich das machen, Großvater. Denn auch, wenn ich ein alter Mann bin, bin ich jünger als du. Sag mir nur, wo du die Dinge hast.“
Damit hatte Prah gerechnet und er freute sich, dass Alex so reagierte. Er machte den Tee genau nach der Anweisung des alten Mannes. „Dir würde er auch nicht schaden, Großvater.“ Grinsend überreichte er ihm einen Becher. „Wie kann ich dir für deine Hilfe danken?“
„Das musst du nicht. Es war meine Aufgabe, dir zu begegnen und einiges zu sehen, bevor ich sterbe. Ich fühle, dass ich diesen Winter nicht überstehen werde. Aber das macht nichts, ich bin weit über das normale Alter hinaus am Leben geblieben. Du machst mir Sorgen, junger Bär. Dein Herz weilt an so vielen verschiedenen Orten, dass es immer wieder brechen wird. Es zieht dich nachhause und du weißt, dass dir der Weg verschlossen ist, wenn dir keiner aus deiner Heimat hilft. Du würdest dich gerne hier heimisch fühlen und du magst Mae, aber ob du sie liebst, weißt du nicht und du willst es auch nicht wissen. Ich kann dir nicht vorhersagen, was geschehen wird, also spare dir diesen flehenden Blick, Alex. Und noch etwas: hüte dich davor irgendjemandem etwas von deiner Herkunft zu verraten, sie würden es nur falsch verstehen und es für sich ausnutzen. Halte dich an Mae, sie ist meine Enkelin und sie sieht weit, weiter als so mancher annimmt. Wahrscheinlich hat sie dich deshalb aufgenommen. Und jetzt sei so lieb und lass mich diesen Tee probieren, den du gemacht hast.“
Eine Weile saßen sie schweigend am Feuer und tranken von dem bitteren Aufguss. Alex dachte an zuhause, an Agnes und wie sie zusammen gelacht hatten, als sie am Modul und an ihrem gemeinsamen Buch gearbeitet hatten. Aber immer hielt sie sich zurück. Nie ließ sie ihn auch nur ihre Hand halten. Es war alles irgendwie so traurig. Sie konnte nichts dafür, so war sie erzogen worden. Keine Berührung zuzulassen, das wurde den Eumeriern schon früh eingepflanzt. Körperkontakt war in jeder Lebenslage zu vermeiden. Alex fand das falsch und jetzt war er froh, dass sie einmal Hand in Hand, versteckt im Modul gesessen waren und er hatte ihr von den Schrecken der Vitaminpille P1 berichtet. Kurze Zeit später war er abgeholt worden und sie hatten sich nie wieder gesehen. Das Zeitreisefahrzeug war zu dem Zeitpunkt schon fertig gewesen. „Ich wünschte wir hätten dieses Mistding nie gebaut, Liebes“, sagte er laut. „Nie hätten wir das machen sollen, es wird uns umbringen, Agnes. Einen nach den anderen wird es uns töten. Halte dich an meine Anweisungen und es wird nur mich treffen. Trotzdem hoffe ich, dass du mich suchst. Ach!“, rief er, raufte sich das Haar und er schämte sich der Tränen nicht, die er in dem Augenblick vergoss. „Es ist alles so verquer, Großvater, dass es nicht einmal ich verstehe und ich habe mich damit ein halbes Leben lang befasst. Die Zeit kann man nicht zurückdrehen. Das geht nicht!“ Er sprang auf, griff sich ans Herz und wäre beinahe wieder gestürzt. „Es ist verkehrt“, sagte er noch einmal, leiser und setzte sich schwer atmend. „Du musst dich nicht so aufregen, wegen etwas, das du nicht ändern kannst. Weine nicht der Vergangenheit nach, die ja deine Zukunft war. Schau hier nach dir. Vielleicht kannst du dich auf dem Weg finden und jetzt nimmst du deinen Tee und gehst schlafen, du bist weiß wie ein Kalkstein. Ich bringe dich in dein Zelt.“ Der alte Mann stütze sich schwer auf seinen Stock und hielt Alex dazu noch aufrecht, der die Hand an der Brust hielt, weil er meinte, so das Herz am Zerspringen zu hindern.
„Danke Prah, für alles.“
„Schlaf dich aus und denke nicht zuviel, junger Bär.“ Er schloss die Zeltklappe und humpelte zu Baha. Nach dem Gehörten wollte er nicht alleine sein. Es war für seinen alten Verstand zuviel gewesen, zuviel Neues hatte er gehört, das er nicht fassen konnte und es auch nicht wollte. So ging er zur Mutter, setzte sich wortlos an ihr Feuer und trank einen Becher ihres vergorenen Gerstensaftes in einem Zug leer. Schwer betrunken kehrte er spätnachts in sein Zelt zurück.

Den Winter überstanden sie nur mit Mühe. Die Höhle reichte gerade so. Alex, der nicht mehr richtig gesund werden wollte, hatte wieder einen Platz am Höhlenausgang erbeten. „Ich brauche die Luft, Mae. Wenn ich hinten bin, habe ich das Gefühl zu ersticken“, begründete er seine Wahl. So verging der Winter mit den Stürmen und der unerbittlichen Kälte, die in jede Ritze kroch. Nur unzulänglich waren die Feuer. Jeder war in mehrere Schichten Felle gehüllt. Die Ahle tat ihnen jetzt gute Dienste, weil sie die Kleidung so machen konnten, dass sie sich besser an den Körper anpasste und das Geschenk wurde jetzt so richtig gewürdigt.
Durch die Kälte begann seine Schulter zu schmerzen und er konnte den Arm nicht richtig bewegen. So lag er meistens nur da, starrte die Wand an und hoffte, dass entweder die Schmerzen vergehen würden oder er sterben möge.

Mae versorgte ihn von ihrem Feuer mit Suppe und auch Brach und Kis Mutter brachten ihm Speisen. „Du hast mein Mädchen beschützt, jetzt beschütze ich dich“, meinte Kal einfach, als er sie fragte, warum sie ihm half. „Außerdem mag dich Ki. Wenn es dich nicht stört, würde sie gerne öfter an dein Feuer kommen, Aks.“
„Gerne, ich mag sie und ich habe die Kinder gerne um mich, da komme ich mir nicht so unnütz vor“, antwortete er verlegen. So kam es, dass bald alle Kinder an seinem Herdfeuer saßen und den Geschichten seines Großvaters über Rentiere und Wölfe lauschten. Dann zeigte er ihnen wieder, wie man ein Mammut schnitzt oder er lag einfach nur da und sah ihnen zu, wie sie mit den Holztieren spielten, die er ihnen geschenkt hatte.

Langsam verging der Winter und auch der Frühling zog ins Land. Noch immer waren sie in der zu kleinen Höhle. Alex war für eine weite Wanderung noch immer zu schwach.
„Grah, ihr müsst gehen, wenn ihr vor dem Winter eine passende Bleibe finden wollt. Das hier ist keine Lösung“, versuchte er sie umzustimmen.
„Nein!“, schrie der Jagdführer. „Ich lasse niemanden aus der Sippe zurück. Mutter und Höhle, wie seht ihr das?“
„Wir bleiben“, kam es einstimmig zurück.
„Das könnt ihr nicht machen! Es ist zwar viel Wild in diesen Wäldern und ein Bach fließt hier auch vorbei, aber die Höhle ist zu klein – außer …“ Er redete nicht weiter, weil eine Idee in ihm keimte. Sein Blick kehrte sich nach innen und er dachte an das Holz- und Lehmhaus, das er einmal gesehen hatte. „Ich habe eine Idee, aber ich muss mir das erst einmal überlegen“, sagte er schließlich, als ihn alle erwartungsvoll anblickten. „Und ich muss mich hinlegen.“ An manchen Tagen war ihm jede Anstrengung zuviel und er lag fast nur, dann war es wieder so, als wäre nichts passiert und er ging in den Wald, wenn auch nicht weit. Vorsichtshalber blieb er in Sichtweite der Höhle. Aber es tat gut, ab und zu hinaus zu kommen. Dann ging er zum Bach, suchte Seifenkraut, das hier überall wuchs, wenn man wusste, wonach man suchen musste, und wusch sich. Viele des Bärenstammes hatten sich diese Angewohnheit abgeschaut und wuschen sich jetzt auch ab und zu.

Am Abend erklärte er ihnen dann seine Idee eines Hauses. Es war nur vereinfacht und er wusste nicht, ob es halten würde, was er sich davon versprach. Aber bald darauf begannen sie auf einer nahen Lichtung eine Grube auszuheben. Alex hätte gerne bei den Arbeiten geholfen, aber es wurde ihm verboten.

Im Herbst war das erste Haus fertig wollten einige Leute wollten es probieren und brachten ihre Sachen dort unter.

Obwohl er ein voll integriertes Mitglied war, fühlte sich Alex oft einsam, besonders im Winter und seit er die rechte Schulter nicht mehr beschwerdefrei bewegen konnte. Es fehlte ihm jemand zum Reden, jemand mit dem er ähnliche Erfahrungen austauschen konnte, der ihn nicht verständnislos ansah, wenn er etwas in seiner Sprache sagte, der ihn intellektuell herausforderte. Er mochte diese Menschen. Wenn es ihm gut genug ging, was nicht sehr oft vorkam, teilte er auch mit Mae die Felle. Es schien ihr Spaß zu machen und Grah störte es nicht, wenn sie an sein Feuer kam, manchmal gesellte er sich einfach dazu.

Im Frühjahr des dritten Jahres, als sie sich in diesem Wald niedergelassen hatten, ging Alex mit seinen Habseligkeiten von der Höhle zum letzten fertig gestellten Haus. Es war ein milder Tag und er freute sich auf die neue Heimstatt. Da sah er ein Glühen auf einer Lichtung. Mit einem sonderbaren Gefühl der Unwirklichkeit ging er dem Leuchten entgegen.

Ich blicke aus meiner Höhle hinaus in ein weißes Licht. Was soll ich nur machen?
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich das Zeitreisemodul nie gebaut oder wenn ich mich damit in die Luft gejagt hätte.
Das Licht blendet mich, ich kann nur einen Schatten erkennen, der sich daraus löst.

nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Agnes lief so schnell sie konnte zum Lift und fuhr wieder ins Labor hinab. Von dort versuchte sie zu den Unterweltlern zu gelangen. Irgendwie musste es ihr gelingen, zu entkommen. Während sie lief machte sie sich Vorwürfe. ‚Warum bin ich nicht geblieben?’, fragte sie sich in einem fort und rannte weiter. Sie schlüpfte durch den schmalen Spalt und gelangte schließlich zu dem mit Geröll übersäten Abhang. Dort blieb sie stehen und rang erschöpft nach Atem. Während sie sich zu beruhigen versuchte, erreichte sie ein Gedanken. Es war wie ein letzter Abschiedskuss. ‚Ich liebe dich, du wirst nie alleine sein. Gib nicht auf, so wie ich es nicht tue.’ Sie sank auf die Knie und weinte um die verlorene Zeit. Es war das letzte, das sie von Erik hörte und fühlte. Dann war es, als hätte er sich völlig zurückgezogen. Agnes wusste, dass er seine Fähigkeiten hinter dicken Mauern verborgen hatte. Niemand sollte ihn jemals wieder erreichen können.
„Ich liebe dich auch“, rief sie dem weit entfernten Ausgang zu. Endlich trocknete sie die Tränen, stand auf und schlitterte den Abhang hinunter. Dann suchte sie einen Weg in die Siedlung. Sie hoffte, dass dort kein Massaker angerichtet worden war.

Aber ihre Befürchtungen waren unberechtigt. Die Menschen im Untergrund kannten sich hier aus und waren nicht so harmlos wie sie auf den ersten Blick schienen. Sie hatten in einem unerbittlichen Kampf die Eumerier in die Flucht schlagen können. Viele Menschen waren auf beiden Seiten getötet und noch mehr verletzt worden.
Stolpernd und mit tränenverschmiertem Gesicht kam Agnes in die Siedlung. Wie durch ein Wunder hatte sie sich bei dem Abstieg nichts gebrochen. Sie war die meiste Zeit geschlittert und gerutscht. Nun waren ihr Rücken und die Hände aufgeschürft. Aber das war ihr gleichgültig. Sie wollte nur Eriks letzte Anweisung befolgen, so wie sie Alex Hinweisen nachgegangen war. Jetzt kam es ihr so vor, als würde sie wieder nur Befehle erfüllen. Aber dieses Mal tat sie es aus freien Stücken.
Mit zitternden Knien und atemlos stand sie vor Roberts Tür. Sie klopfte und trat gleichzeitig ein. Fünf Augenpaare starrten sie verärgert an. Doch Will fing sich als erster und fragte: „Du bist zurück? Ich dachte, ihr würdet beide in der Oberwelt bleiben.“
Agnes stand im Türrahmen und starrte ebenfalls. Dann setzte sie sich wortlos dazu und begann nach mehreren Minuten des Schweigens einen kurzen Bericht.
„Dieser Mörderarzt ist tot, vor dem braucht ihr euch nicht mehr zu fürchten. Wir haben getan was wir konnten. Nun brauche ich eure Hilfe. Ich bin noch immer auf der Flucht.“
Eine nachdenkliche Ruhe breitete sich aus. Man hörte nur Robert herumgehen, der Tee machte. Diese Beschäftigung schien ihn zu beruhigen. Tee und Schnappes waren sein Allheilmittel und das brachte er jetzt Agnes.
„Mir tut es leid, was mit Erik geschehen ist. Das hätte es nie dürfen. Ich werde versuchen, dich in ein sicheres Gebiet zu bringen. Wenn ich dir schon nicht bei seiner Rettung helfen konnte, werde ich dir jetzt helfen, seinen letzten Willen zu erfüllen.“ Dann wandte er sich an seine Verwandten. „Geht bitte jetzt nachhause. Wählt einen anderen Bürgermeister, ich glaube nicht, dass ich von diesem Abenteuer so rasch wieder zurückkommen werde.“ Aber er redete als würde er sich darauf freuen, etwas Unvorhergesehenes zu tun. Als sie widersprechen wollten, wurde er deutlicher: „Ich habe eigentlich keine Lust mehr, immer nur das zu tun was von mir erwartet wird. Gerade habe ich einen Weg gesehen, etwas zu tun, das ich will. Geht nachhause und morgen wählt ihr einen neuen Bürgermeister und betrauert die vielen Toten, die es auf beiden Seiten gibt.“
Als alle draußen waren, sagte er zu Agnes: „Ich packe, du ruhst dich aus und dann brechen wir auf. Es wird nicht mehr gewartet, wie beim letzten Mal.“
„Danke, Robert. Ich hatte nicht mehr mit Hilfe gerechnet. Du musst mir erzählen, wie ihr die eumerische Armee in die Flucht schlagen konntet.“
„Das mache ich, während wir wandern. Jetzt schläfst du. Du kannst wieder mein Bett benutzen, oder auch das Sofa, wenn es dir lieber ist.“
Agnes bekam feuchte Augen, als sie daran dachte, als sie zuletzt in diesem Bett gelegen war und begab sich zu der kleineren Liegestatt.

Sie waren viele Tage im Untergrund gewandert. Robert kannte jeden Weg und jeden Hang. Agnes ahnte nur, dass sie unter Sunflower marschierten. Manchmal kamen sie nur schleppend voran, weil der Pfad von Geröll blockiert war, dann ging es wieder rascher vorwärts.
Wenn sie sich zum Ruhen niederließen kauerte sich Agnes ganz klein zusammen und weinte ihre Trauer hinaus. „Niemals werde ich ihn wieder sehen. Jetzt habe ich zwei Menschen verloren, die ich liebe“, sagte sie. Robert kam zu ihr und legte tröstend einen Arm um sie. „Ich weiß wie es ist, jemanden zu verlieren“, sagte er einfach, aber Agnes sah eines der Kinder, die sie als lebende Leichen bezeichnet hatte. So klammerten sich beide in ihrer Trauer aneinander und fanden Trost in der Gegenwart und dem Verständnis des anderen.

Vereinzelt stießen sie auf Siedlungen, wo sie skeptisch begrüßt wurden. Robert riet allen, die Zugänge soweit zu schließen, dass nur noch kleiner Löcher für den nötigen Gasaustausch blieben. Trotz des Misstrauens Agnes gegenüber, halfen ihnen die Menschen mit Wasser und Lebensmitteln aus.

Als sie immer weiter wanderten, wurden die Siedlungen spärlicher und sie begannen die Vorräte zu rationieren. Agnes teilte alles genau ein und dennoch hatten sie das Gefühl, als würde es nicht reichen. „Ich werde hier sicher nicht sterben“, sagte sie, als sie das letzte Stück Brot aufgeteilt hatte.
„Das werden wir nicht“, bestätigte Robert und nahm seinen Teil entgegen. „Jetzt ruhen wir ein wenig und dann gehen wir hinaus. Es wird Zeit an die Luft zu kommen.“
„Deine Haut hält die Sonne nicht aus, Robert“, antwortete sie entsetzt. Das durfte sie von ihm nicht erwarten. Das Opfer fand sie, war zu groß.
„Agnes, du verkennst die Situation. Zurück kann ich nicht mehr. Ich würde es ohne Wasser genauso wenig überleben, wie nackt in der prallen Sonne zu stehen. Außerdem möchte ich gerne wissen, wie sich Wind anfühlt. Sieh her, ich habe schützende Kleidung und eine Sonnenbrille.“
„Wie du meinst, Robert. Du wirst genauso staunen, wie ich über eure Kultur gestaunt habe. Ich habe vor, bis Sibirien zu gehen. Das ist sehr, sehr weit weg. Es ist ein ganzer Ozean dazwischen. Wir werden ihn an der nördlichsten Stelle überqueren. Dort ist es bitterkalt. In Sibirien hoffe ich eine Bekannte zu finden, die vielleicht helfen kann. Willst du wirklich diesen weiten Weg mitkommen?“
Robert dachte einen kurzen Moment nach, dann erblühte ein Lächeln in seinem weißen Gesicht als er sagte: „Ja, ich komme mit. Es wird das Abenteuer meines Lebens und ich werde die Höhlen nie wieder sehen. Auch das ist mir klar. Es macht nichts, oder zumindest hoffe ich, dass es mir nichts ausmachen wird. Jetzt ist es zu spät für eine Umkehr. Schlaf ein wenig.“ Damit wickelte er sich in eine Decke, drehte sich auf die Seite und schnarchte bald darauf.
Agnes war unruhig, der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Sie versuchte wie in jeder Schlafpause, Erik zu erreichen. Und wie jedes Mal fand sie nichts als Leere.

Für Robert war es ein Schock, als sie an die Oberfläche traten. Sie hatten einen alten Kelleraufgang benutzt und waren dann durch eine halbverfallene Tür, die mit Gerümpel zugestellt war, hinausgelangt. Dann standen sie im Sonnenlicht. Sein erster Impuls war, sofort wieder in den Keller zu laufen, aber er wusste, dass er keine Wahl hatte. Wenn sie beide leben wollten, dann mussten sie schnell Wasser und Nahrung finden, beides fanden sie nicht in den Gewölben. Also schützte er die Haut so gut es ging und setzte die Brille auf. Dann gingen sie hintereinander weiter.

An einem Bach hielten sie kurz an, tranken und füllten die Wasserbeutel. Für Robert war es eine fremde, erschreckende Welt. Es gab so viele Farben, damit hatte er nicht gerechnet und es war so hell, dass er ihn das Licht sogar durch die schwarze Brille in den Augen stach. Agnes hatte Mitleid mit ihm und sagte deshalb: „Robert, wir können auch nachts wandern, wenn es dir lieber ist. Tagsüber werden wir irgendwo Schutz suchen.“
So machten sie es fortan. Das wandern war zwar für Agnes mühseliger, aber die Gesundheit ihres Begleiters war ihr wichtiger.

Der Einfachheit wegen folgten sie dem Bachlauf. So hatten sie immer Wasser, auch wenn sie nicht wussten, ob es wirklich sauber war. Einmal fanden sie reife Beeren, an denen sie sich satt aßen. Aber der Hunger nagte weiter an ihnen. Agnes wunderte sich, dass sie trotz der mageren Kost nicht an Gewicht verlor. Manchmal drückte sie der Magen und sie war missmutig und wollte am liebsten nur noch liegen bleiben.
„Dort vorne ist ein Haus“, sagte sie eines Tages verdrossen. „Da gehen wir jetzt hin und fragen ob sie etwas zu essen für uns haben. Wenn ich nicht bald was Ordentliches bekomme, dann drehe ich durch.“
Robert brachte sie ungewollt erst recht in Rage als er lachte.
„Was ist so komisch?“
„Ach, mir ist nur gerade so eine Idee gekommen“, meinte er vage.
„Keine Andeutungen! Was für eine Idee?“
„Ich glaube, du bekommst ein Kind“, sagte er fast unhörbar.
„Was? Sag das noch einmal.“
„Du bekommst ein Baby, Agnes und schön langsam solltest du dich etwas mehr schonen oder du wirst es verlieren.“
Wie ein Blitz traf sie die Erkenntnis, dass Erik es gewusst haben musste und sie deshalb weggeschickt hatte. Sie lehnte sich an einen Baum und rutschte am Stamm entlang auf den Boden. „Wir werden zu dem Haus gehen, Agnes, und hoffen, dass uns die Leute dort wenigstens ein Stück Brot geben werden. Ganz bestimmt können sie uns aber sagen, wo wir uns befinden. Hast du bemerkt, dass sich die Vegetation verändert hat?“
Sie hatte es bemerkt, aber nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Jetzt sah sie sich um und stellte fest, dass sie schon weit in den Norden vorgedrungen waren. Bald würde ihre Kleidung zu wenig Schutz vor der Kälte bieten. Sie brauchten dringend Unterstützung.
Mit einem tiefen Seufzer stand sie auf und ging voran zu dem einsam aber schön gelegenen Haus. Sie kannte es und auch die Gegend in der sie gingen. Aber nicht aus eigener Erinnerung.

Es kostete sich viel Überwindung, sich dem Haus zu nähern und ein Gedankensignal auszusenden. Aber nicht der Hausherr öffnete, sondern ein Hausmädchen.
„Was wollt ihr hier?“, fragte sie hochnäsig.
Noch bevor Agnes etwas erwidern konnte, trat der Hausherr vor. Er schien gealtert zu sein und blickte sie aus erstaunten Augen an.
„Das geht in Ordnung, Melanie. Ich kenne sie“, sagte er schlicht und bat sie mit einer Handbewegung herein.
„Sir“, versuchte das Hausmädchen entgegen zu reden. „Das sind Landstreicher.“
„Du kannst wieder an deine Arbeit gehen, Melanie. Bringe uns zu essen, wir sind im Wohnzimmer. Danach richtest du die Gästezimmer. Das ist alles.“
Melanie schnaubte verächtlich, aber sie war schon lange im Dienst dieses Mannes und es gewohnt, dass die Telepathen eigensinnig waren.

„Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit, Senator“, sagte Agnes, als sie an einem warmen Kaminfeuer saßen und Suppe aßen.
„Es ist keine Freundlichkeit, Doktor Lindstrom. Ich bin nie freundlich. Aber ich bin es Erik und Ihnen schuldig. Wollen Sie mir nicht Ihren Begleiter vorstellen?“
Senator Landmann schien wenig überrascht zu sein, als sich Robert aus den schützenden Hüllen schälte und die Brille abnahm.
„Entschuldigung. Darf ich vorstellen, das ist Robert Nielsson. Robert, das ist Senator Landmann, der biologische Vater von Erik.“
Robert grinste und sagte: „Es ist mir eine Ehre, Sir, den Großvater von Eriks ungeborenem Kind kennen zu lernen.“
Dem Senator klappte der Mund auf und zu. Jetzt sandte er seine Gedanken aus und versenkte sich in Agnes Körper. Dann tauchte er wieder auf und meinte erstaunt: „Es sind zwei, Agnes. Du trägst Zwillinge. Wie kann ich euch helfen?“
„Sie haben uns schon geholfen, Senator. Sie haben uns vor Kälte und Hunger gerettet und wie ich annehme, dürfen wir heute in einem warmen, weichen Bett schlafen“, sagte Robert, weil Agnes nur vor sich hinstarrte.
„Was ist los mit dir, Agnes?“, fragte der Senator. „Doktor Lindstrom?“
„Ich habe Angst, was mit mir geschehen wird. Keiner weiß, wie das biologisch richtig abläuft“, flüsterte sie.
„Zuerst einmal kann ich euch hier unterbringen. Aber nicht für sehr lange. In drei Tagen habe ich hier eine Gesellschaft, da müsst ihr wieder weg sein.“
„Wir gehen morgen weiter.“
„Wo wollt ihr hin? Vielleicht kann ich euch helfen?“
„Nach Sibir“, antwortete sie knapp.
Der Senator überlegte eine Weile, schenkte allen ein Koffeingetränk ein und nippte an seinem. Er wanderte dabei grübelnd im Wohnzimmer herum und verschob einige Nippesfiguren. Schließlich sagte er zögernd: „Ich habe in Eriks Gedanken gelesen und deine Gefühle für ihn wahrgenommen, ebenso seine für dich. Er hat dich sehr geliebt, was immer das auch heißen mag. Seinen Tod hat er selbst erwählt, weil er nicht mehr leben wollte. Er hat gewusst, dass sein Körper bereits zerstört war, als er mit mir zuletzt gesprochen hat. Manchmal fliege ich zum Eisfischen nach Cherskiy. Ich bringe euch morgen dorthin und versorge euch auch noch mit der notwendigen Kleidung und Vorräten.“
Agnes blieb vor Staunen der Mund offenstehen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Sie schluckte mehrmals, dann sagte sie: „Ich danke Ihnen Senator. Das ist mehr als ich zu erbitten wagte.“
„Es ist das Mindeste, das ich für Eriks Kinder tun kann. Ich hoffe und wünsche ihnen das Beste und dass sie ihren Vater in Erinnerung behalten werden.“

Die Ankunft in Cherskiy war atemberaubend. Die Luft war eiskalt und klar. Senator Landmann hatte sie, wie versprochen mit wärmender Kleidung ausgestattet und ausreichend Vorräte einpacken lassen. Nun mussten sie nur noch die Familie Nikitin ausfindig machen. Das war kein einfaches Unterfangen in diesem noch immer unwirtlichen, kalten und karg besiedelten Land.

„Der Senator scheint ein netter Mann zu sein“, meinte Robert, als sie schon einige Tage Richtung Süden unterwegs waren.
„Scheint so. Aber ich habe ihn mehr als feindselig in Erinnerung. Erik muss ihm wohl noch einiges gezeigt haben. Oh, ich vermisse ihn so sehr. Wie soll ich das alles nur schaffen? Die Kinder, die Nikitins suchen und dann das verdammte Zeitreisemodul bauen, um Alex zu finden.“ Weinend schmiss sie sich auf den festgefrorenen Boden und trommelte mit den Fäusten auf das Eis. „Warum bestrafen die uns so? Was haben diese Leute davon, anderen das Leben zu vermiesen, ihnen jede Freude zu nehmen? Erik haben sie soweit gebracht, dass er es vorgezogen hat zu sterben. Er hat sich für mich erschießen lassen! Robert, ich mag nicht mehr. Ich kann nicht mehr.“
Mit der Stirn schlug sie jetzt auf den Boden ein, immer wieder, während Robert hilflos daneben stand. Noch nie hatte er sie so verzweifelt erlebt. Immer war sie ihm stark und beherrscht vorgekommen.
„Sie haben mich soweit gebracht, dass ich getötet habe! Ihr Kinder, eure Mutter ist eine Mörderin“, schrie sie jetzt und schlug noch fester mit dem Kopf auf das Eis ein. Erst als sich eine Blutspur auf dem Schnee abzeichnete, reagierte Robert. Er ging in die Hocke, dreht sie energisch um und hielt die Tobende einfach nur fest. Dabei murmelte er seine Sprüche aus der Höhle. „Nana, wird ja ned so schlimm sein. Komm komm, miezmiez.“ Es war gleich was er sagte. Er saß im Schnee, hielt die um sich schlagende Agnes in der Hand und weinte selbst vor lauter Heimweh.
Sie merkten nicht, wie der Sturm um sie zunahm und die Kälte tiefer wurde. Im Westen begann die Sonne zu sinken und es wurde noch deutlich eisiger.

Als sie der Schneesturm voll erreicht hatte, erwachten beide aus ihrem Leid. Sie starrten sich aus verheulten Augen an und dann betreten zu Boden.
„Jetzt müssen wir irgendwo Schutz finden, sonst folgen wir Erik“, sagte Robert und nahm Agnes in Schlepptau. Er hatte ihr den Rucksack abgenommen und an seinen gehängt. Schwer gebeugt kämpfte er sich vorwärts, Agnes hinter sich herziehend. Sie waren nicht sicher, ob sie noch in die richtige Richtung gingen. So sandte Agnes ihre Sinne aus, um die Landschaft zu erkunden. „Wir sind auf dem richtigen Weg, Robert. In etwa einem Kilometer Entfernung ist eine Ansiedlung, wenn wir es dorthin schaffen, dann sind wir gerettet.“
Er nickte nur. Die Last drückte schwer auf ihn und es war nicht nur die auf dem Rücken, die ihn niederbeugte. Es war die selbstauferlegte Verantwortung, die er für Agnes und die ungeborenen Kinder übernommen hatte. Niemals im Leben hätte er es für möglich gehalten, hier auf der Oberfläche zu überleben, und jetzt hatte er es schon mehrere Monate geschafft.

Sie kämpften sich durch den Sturm und hatten bereits das Gefühl nicht einen Schritt mehr gehen zu können, als sie die ersten Häuser erreichten.

Entschlossen klopfte Robert an die erstbeste Tür an der sie vorbeikamen. Eine kleine Frau öffnete ihnen und zog sie erschrocken ins Haus.
„O du liebe Güte! Leon, komm schnell und hilf mir!“, rief sie. „Hier sind zwei fast erfrorene Leute. Was die wohl in den Sturm getrieben hat? Wenigstens sind sie gut ausgerüstet.“
Leon kam und trug Robert in ein gut beheiztes Zimmer. Er half ihm aus den durchnässten, kalten Kleidern und hielt erstaunt die Luft an. Jemanden mit so weißer Hautfarbe hatte er noch nie gesehen und dann erst die Augen. Aber er unterdrückte sein anfängliches Entsetzen über die Fremdartigkeit des Mannes und wandte sich der Frau zu.
Als sie von den schützenden Überkleidern befreit war, stieß Sainkoh einen Schrei aus. „Agnes! Was machst du hier? Wo ist der Hauptmann, der uns gerettet hat?“
„Lass die beiden erst einmal warm werden und bring ihnen etwas zu essen“, meinte Leon.

Agnes erholte sich erst nach mehreren Tagen. Robert hatte sich rascher wieder gefangen und sich mit den Nikitins bekannt gemacht. Er hatte ihnen alles über ihre gefährliche Flucht berichtet und auch über Eriks Tod.
Sainkoh machte sich ernsthaft Sorgen um Agnes. Sie lag lange im Fieber und schrie die ganze Zeit über nach Erik und verfluchte das System, das den Menschen den freien Willen nahm. In ihr herrschte ein heilloses Chaos. Jeder der sich nähern wollte, bekam eine Flutwelle von Emotionen ins Gehirn geschleudert, so dass sich bald keiner mehr zu ihr wagte, einzig Robert duldete sie in der Nähe. Einmal hatte sie mit den Gedanken hinausgegriffen und nach Leon gefasst, der nur die Temperatur messen wollte. Mit einer Kraft hatte sie ihn aus dem Zimmer gedrängt, die sie selbst am wenigsten in sich vermutet hätte. Als Robert davon hörte, beschlichen ihn schlimme Vorahnungen und er ging vorsichtig zu ihr. Langsam näherte er sich dem Bett und kroch zu ihr unter die Decke. Dann nahm er sie in den Arm und wiegte sie, wobei er beruhigend murmelte und immer wieder ihren Namen sagte: „Agnes, du bist bei Freunden. Denk an eure Kinder. Gib nicht auf.“ Diese Worte waren es schließlich, die sie erreichten und wieder in die Welt brachten. Robert blieb die nächsten Tage ständig an ihrer Seite. Er wusch ihr den Schweiß von der Stirn und redete immer wieder beruhigend auf sie ein.
„Wir geben nicht auf, nicht wahr, Agnes?“, sagte er, sie sanft wiegend.
„Nein, Erik, wir geben nicht auf, niemals“, flüsterte sie.
Robert weinte, als er sie endlich reden hörte. Er drückte sie etwas fester an sich und weinte vor Freude und Trauer gleichermaßen.
„Jetzt hast du das schlimmste überstanden, Liebes“, murmelte er und strich ihr durchs Haar. Dann stand er auf, ging durch den Hinterausgang hinaus und dort schrie er all seinen Frust und die Einsamkeit, die ihn hier in diesem Haus manchmal überkam, in den kalten Nordwind.
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Agnes erholte sich langsam aber stetig. Mit ihren Sinnen überwachte sie die Kinder, ihnen ging es gut. Aber sie stellte fest, dass sie dieselben Fähigkeiten wie Erik und sie haben würden. Robert sah sie in den nächsten Tagen weniger. Er schien sich aus irgendeinem Grund von ihr fernzuhalten. Als es ihr so weit gut ging, dass sie aufstehen konnte, ging sie ihn suchen. Sie fand ihn schließlich Holz hackend im Hinterhof. Schwer vermummt drosch er auf die dicken Scheite ein.
„Robert“, sagte sie kaum hörbar. „Du hast mir das Leben gerettet und das nicht nur einmal. Wie kann ich dir jemals dafür danken?“
Er sah nur kurz auf und dann wieder weg. Aber für Agnes weit geöffnete Sinne war es genug. Die Einsamkeit, das Heimweh, die ganze Fremdartigkeit hier und diese verlorene Liebe trafen sie wie eine Keule und schlugen sie nieder. Erschrocken lehnte sie sich an die Hausmauer und atmete schwer.
„Es tut mir so leid! Alles!“, rief sie und wankte zurück ins Haus. Vom Fenster aus sah sie ihm zu, wie er das Holz bearbeitete. Ihm lief der Schweiß über die Stirn, hinein in die roten Augen, die von der Helligkeit entzündet waren. Erst als er sicher war, dass Agnes nicht mehr hersah, hörte er auf und suchte den Schatten auf. Er hatte nicht gemerkt, wie schnell die Sonne weitergezogen war, während er gearbeitet hatte, nun fühlte er wie die Haut im Gesicht spannte und brannte.
‚Warum habe ich das nur gemacht? Ich bin ein Idiot, ich kann nie mehr nachhause zurück. Ob mich die anderen vermissen werden?’, überlegte er, während er Gesicht, Nacken und Hände mit Heilsalbe beschmierte. Diese Gedanken waren müßig, das wusste er. Also richtete er den kleinen Körper auf und ging zu den anderen. Hier wurde ebenfalls das Gemeinschaftliche großgeschrieben. Am Nachmittag trafen sich alle um miteinander Tee oder das eigentümliche bittere schwarze Koffeingetränk zu sich zu nehmen. Dazu gab es meistens eine Kleinigkeit zu essen und es wurde vom Tag gesprochen. Jeder erzählte, was er gemacht oder erlebt hatte, manchmal war es nur ein Traum von dem berichtet wurde, der ab und zu mit einem freundlichen Lachen quittiert wurde.
Robert hatte sich angewöhnt sich zurückzuhalten und nicht zu viel zu sagen. Er wusste nicht, ob die Leute hier wirklich an Agnes als Person interessiert waren, oder ob es bloßes Pflichtgefühl war, jemandem zu helfen, der ihnen geholfen hatte.

Agnes ahnte nur, dass sie jemanden mit ihrer Gedankenwut niedergeschlagen hatte. Sie schämte sich deswegen und wusste nicht, wie sie das wieder gut machen konnte. Sainkoh zeigte ihr einen Weg.
„Agnes, bei uns herrscht viel Leid, du hast es sicher schon bemerkt. Aber davon werde ich dir ein anderes Mal berichten. Rede mit Leon.“
Sie war etwas verwirrt, weil ihr die Aussage nicht schlüssig vorkam. Da war mehr versteckt, als sie ahnte. So ging sie zu Leon in die Werkstatt, der sie freundlich musterte, und sagte: „Sainkoh hat gemeint, ich soll mit dir reden.“
Leon brummelte etwas vor sich hin, dann strich er sich über den Bart, rang sich ein Lächeln ab, das rasch bis in seine Augen vordrang und sagte schließlich: „Sieh her, was ich gemacht habe. Wenn du wieder kräftig bist und die Kleinen da geboren sein werden, dann kannst du an den Einbau der Technik gehen. Die Hebamme wird ganz verwundert sein, dass sie wieder Babys auf die Welt helfen kann. Ja, Agnes, wir sind wirklich die letzten Samek. Nach uns wird es keine mehr geben, außer du suchst Alex und ihr verändert gemeinsam die Vergangenheit.“
Agnes starrte ihn an. Langsam erst begriff sie, was er da von ihr verlangte. Sie sollte ihre Vergangenheit ändern, es wäre dann so gewesen als hätte es Erik und sie zusammen nie gegeben, wenn sie mit Alex zurückging. Außerdem wäre es sehr gefährlich, weil sie doppelt unterwegs waren, als Agnes und Alex der Gegenwart und der Vergangenheit – welcher auch immer. Zeitreisen hatten solch paradoxe Elemente, dass man meinen konnte, es sprenge die eigene Gedankenwelt, man begann sich im Kreis zu drehen, wenn man an einen Punkt gelangen wollte, stand man an einem anderen. Deshalb sagte Agnes jetzt nur: „Ich werde darüber nachdenken, Leon.“
Leon nickte und wandte sich wieder den Bauteilen zu. Entschlossen sie zu ignorieren, setzte er den Schweißhelm auf und begann damit zwei Platten zu verbinden. Agnes seufzte und ging wieder. Das war eine Entwicklung, die ihr nicht gefiel. Sie wollte Alex suchen und finden, aber aus einem anderen Grund.
Den Blick zu Boden gerichtet ging sie langsam über den Hof. Einige Schneepfützen waren vom Winter noch geblieben, jetzt nahte der Sommer. Da hörte sie jemanden Rufen. Robert stand auf dem Platz und hielt sich die Augen zu. „Verdammte Bengel!“, schrie er. „Gebt mir die Brille wieder! Ohne sie kann ich nichts sehen!“ Die Sonne hatte bereits einige Brandmale in sein Gesicht gezeichnet und mit den ungeschützten Händen würde das gleiche passieren, wenn er sie nicht herunter nahm. Schnell rannte sie zu ihm, band ihren Schal um seinen Kopf und hielt seine Hände, dann erst sagte sie: „Komm mit Robert. Ich bringe dich hinein und später werde ich mich um diese Rüpel kümmern.“
Er ließ sich an der Hand hineinführen. Agnes brachte ihn in ihr gemeinsames Zimmer, das immer abgedunkelt war. Dort nahm sie ihm den Schal ab und setzte ihn auf eines der Betten.
„Ich brauche dringend Brandsalbe für deine Wunden. Es tut mir alles so Leid, Robert, so unendlich Leid.“ Mit hängenden Schultern ging sie raus. Hier hatte sie sich einige Zeit heimisch gefühlt und nun machte sich wieder ein Gefühl der Beklemmung in ihr breit.
‚Sind die Menschen überall gleich?’, fragte sie sich resigniert. ‚Zählen nur die, die so aussehen wie die anderen?’ Wütend kramte sie im Schrank nach der Salbe. Endlich fand sie eine Tube, aber es war nicht mehr ausreichend vorhanden. Deshalb suchte sie Sainkoh und fragte nach mehr. „Dein Freund verbraucht ganz schön viel von dem Zeug. Er sollte besser drinnen bleiben und die Leute nicht erschrecken.“
Agnes fuhr zurück. So war sie die junge Frau nicht gewöhnt. „Was ist los, Sainkoh? Er kann nichts dafür, dass sich die Haut seiner Vorfahren an ihre Umgebung angepasst hat. Robert ist ein hilfsbereiter, liebenswerter Mensch, der für mich sein Leben an der Oberfläche riskiert hat und es noch immer tut, weil er nicht mehr zurück kann. Hättest du das für jemanden getan? Denk mal darüber nach. Ihr seid keinen Deut besser als wir Eumerier! Jetzt soll ich für euch das Modul fertig stellen und dann Alex heimholen, damit wir die Vergangenheit ändern. Ich muss mir das alles noch sehr gründlich überlegen. Ja, ich will Alex finden, aber weil ich ihn mag. Ich will ihn um seiner selbst willen finden und nicht wegen irgendetwas anderem. Wo kann ich Brandsalbe bekommen? Etwas Geld habe ich noch, das werde ich dafür ausgeben.“
Sainkoh blickte betreten zu Boden. Sie war ärgerlich gewesen, weil der Besuch der beiden schon so lange dauerte. Auch war sie auf Agnes eifersüchtig, weil diese Babys erwartete und sie war unfruchtbar gemacht worden, ohne dass sie jemand gefragt oder es ihr gesagt hätte. So sagte sie jetzt: „Gib mir das Geld, ich besorge dir ausreichend Salbe.“
Agnes gab ihr einige Scheine und ging wieder ins Zimmer zurück. Robert saß noch immer mit den Händen vor den Augen da und schien zu weinen. Als er aufblickte waren seine Augen aber trocken.
„Die sind nicht anders als die anderen“, brummte Agnes, als sie eintrat. „Robert zieh dir bitte die Sachen aus. Ich sehe, dass sie deiner Haut nicht gut tun. Wahrscheinlich verträgst du die Wolle nicht.“
„Ja, es juckt höllisch“, antwortete er und schälte sich aus den Kleidern.
Er war über und über mit einem roten, punktförmigen Ausschlag bedeckt. Agnes erschrak. Robert hatte sich hier nie ohne Kleidung gezeigt. Im Untergrund hatten die Männer nur einen Lendenschurz getragen, hier ging er total verhüllt herum, selbst in dem abgedunkelten Zimmer.
Um das Hautproblem wollte sich Agnes sofort kümmern. Entschlossen ging sie ins Bad und ließ die Wanne volllaufen. Dann tat sie etwas Öl dazu und holte Robert.
„Du steigst da jetzt hinein, mein Lieber und ich werde dir Kleidung besorgen, die dir nicht schadet.“
Er schaute von ihr zum Wasser und wieder zurück, dann nickte er ergeben, zog sich den Rest der Kleidung auch noch aus und ließ sich in die Wanne sinken.
„Agnes, das war die Idee. Das tut gut“, sagte er mit einem wohligen Seufzer. „Bleibst du noch ein wenig? Ich komme mir hier immer sonderbarer vor. Die Leute scheinen sich vor mir zu fürchten. Einerseits bedaure ich es, mitgekommen zu sein, andererseits, bin ich froh, weil ich dir helfen konnte und weil ich bei dir bin. Ich denke, ich werde tagsüber das Haus nicht mehr verlassen, zumindest nicht mehr so oft.“
Agnes ließ seine Worte auf sich wirken. Robert hatte immer so ausgeglichen gewirkt, während der ganzen Flucht, war er wie ein Fels gewesen, seine Gefühle und Gedanken unlesbar, fest verschlossen hinter der Entschlossenheit, ihr zur Seite zu stehen. Hier begann der Schutz zu fallen, langsam aber stetig und sie erblickte einen zutiefst einsamen Menschen.
„Beug dich etwas vor, ich werde dir den Rücken waschen“, sagte sie deshalb. Er tat wie sie ihm sagte und freute sich über die nette Geste. Als der Rücken fertig war, wusch sie den Rest von ihm, wobei sie leise vor sich hinsummte. Sie ließ sich Zeit, das Wasser kühlte bereits ab, da sagte sie: „Robert, sollte mit mir etwas sein, möchte ich, dass du dich um die Kinder kümmerst.“
Erschrocken fuhr er aus der Wanne, wobei er Agnes vollspritzte. „Was soll das heißen?“
„Ich habe vor, Alex zu suchen, das geht aber erst, wenn die Babys da sind, vorher wage ich keinen Zeitsprung. Sollte ich es nicht zurück schaffen, musst du dich um die beiden kümmern, kannst du mir das versprechen?“
„Willst du ihn holen, um die Vergangenheit zu verändern?“
„Nein! Ich will nichts herumpfuschen. Wir sind für unsere Zukunft selbst verantwortlich und nicht für die Vergangenheit! Wenn ich ihn finde, möchte ich ihn nur fragen, ob er wieder heimkommen will.“
Robert nahm sie scheu in den Arm und drückte sie federleicht an sich.
„Danke, das ist das Netteste, das seit langem jemand zu mir gesagt hat. Ich werde deine Kinder großziehen, solltest du nicht zurückkommen können.“
Dankbar erwiderte sie die Umarmung nur etwas fester. Dann verteilte sie eine heilende Lotion auf seiner Haut und brachte ihm die alte Uniform von Erik. „Sie ist dir etwas zu groß, aber das kann ich ändern. Dieses Material wird deine Haut nicht so stark angreifen, wie die Wolle.“
Agnes hatte immer weniger das Gefühl, dass Robert anders aussah, vielmehr kam er ihr genau richtig vor, so wie er war. Gemocht hatte sie ihn schon lange, aber langsam, während die Kinder in ihrem Bauch wuchsen und zur Geburt drängten, keimte die Liebe in ihr. Ab und zu ging sie mit ihm nachts spazieren und er erzählte ihr, was er alles wahrnahm. Es gab so viel zu sehen in der Dunkelheit, das sie nicht sehen konnte.
Einmal holte er sie frühmorgens aus dem Schlaf. „Agnes, Liebes, komm, das musst du dir ansehen“, flüsterte er und strich ihr über die Wange. Schläfrig öffnete sie die Augen, schlüpfte in Jacke und Schuhe und folgte ihm hinaus.
Die Farbe war einfach überwältigend. Alles schien aus blau zu bestehen.
„Danke“, sagte sie ergriffen. Noch schläfrig aber von der Schönheit des Augenblicks tief beeindruckt, lehnte sie sich an ihn. Er schlang die Arme um sie. So blieben sie stehen, bis die Sonne langsam aufging. Da drehte sich Agnes um und küsste ihn auf den Mund.
„Ich werde Erik immer lieben aber dich liebe ich deshalb nicht weniger“, murmelte sie ihm ins Ohr.
Robert lief es kalt den Rücken hinunter, dann stieg eine Wärme in ihm auf, die er schon lange nicht mehr gefühlt hatte. So lange, seit ihn seine erste Partnerin verlassen hatte.
„Irgendwann werde ich dir von ihr erzählen und warum sie wegging“, sagte er einfach. Mittlerweile war er es gewöhnt, dass sie automatisch seine Gedanken las. Sie machte es nicht absichtlich, nur wenn er es abstrahlte, wie sie sagte.
„Wann immer du willst. Du weißt, dass ich nicht schnüffle. Danke für dein Vertrauen und jetzt lass uns reingehen, bevor dich die Sonne verbrennt.“

Agnes hatte tagsüber und Robert nachts am Modul gearbeitet. Nach einer genauen Einweisung wusste er worauf es ankam und er war so geschickt, dass keine Fehler auftraten.
Sie waren beinahe fertig, als bei Agnes die Wehen einsetzten. Vor Schreck und Schmerz lief sie ins Haus zurück und suchte Sainkoh. Diese lachte aber nur und sagte: „Ich gehe mal die Hebamme holen. Die Kinder kommen, mehr ist es nicht.“
„Mehr nicht! Das tut aber weh!“ Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und sie fühlte Panik in sich, weil sie nicht wusste, was da geschehen würde. So etwas gab es in ihrer Welt nicht, da wurden die Kinder im Krankenhaus aus dem Bauch herausgeholt. Alles geschah klinisch sauber und ohne Beschwerden.
„Es wird noch schmerzhafter, glaub mir, aber nachher ist es umso schöner. Ich habe nur ein Kind zur Welt gebracht und ich wollte immer mehr haben.“ Ihre Worte kamen wehmütig, aber nicht mehr anklagend.
„Es tut mir Leid. Ich weiß, was mein Volk dir und den anderen angetan hat. Aber ich bin dafür nicht verantwortlich.“
„Nein, das bist du nicht und du wirst es wieder gutmachen.“ Noch immer hoffte sie, dass Agnes Alex finden und mit ihm zusammen die Vergangenheit ändern würde.
„Ich schicke Leon um die Hebamme. Soll ich bei dir bleiben?“
„Nein, Sainkoh, das ist lieb gemeint. Aber ich möchte, dass Robert bei mir ist.“ Damit drehte sie sich wieder um und wankte in ihr Zimmer.

Robert saß aufrecht in einem Stuhl am verdunkelten Fenster und dachte nach. Wenn er die Arbeit am Modul nicht hätte, wäre er schon durchgedreht. Er war es nicht gewöhnt, seine Zeit ziel- und nutzlos zu verbringen. Im Untergrund hatte es immer irgendwelche Aufgaben gegeben. Als er Agnes jetzt so bleich eintreten sah, sprang er auf. Alle Müdigkeit war von ihm gefallen, als er sagte: „Ich sehe dir an, dass die Babys kommen wollen. Leg dich ruhig hin, mein Engel. Ich bleibe bei dir, bis die Mäuschen da sind, die lieben Kleinen. Hab keine Angst, ich war schon bei vielen Geburten der Geburtshelfer. Du darfst alles, was du willst, musst es mir nur sagen.“ Seine Stimme hatte wieder diesen eigenartigen Singsang angenommen, die sie hatte, als er die Kinder in Sicherheit gebracht hatte. Es wirkte beruhigend und Agnes sank dankbar in seine Arme.
„Leon ist um die Hebamme gelaufen.“
„Wir werden sehen ob sie sich hereintraut, wenn ich da bin“, entgegnete er.
So war es. Die Hebamme weigerte sich das Haus zu betreten, in dem ein rotäugiges Wesen hauste, das nur nachts heraus kam und die Leute erschreckte.
Agnes war wütend über soviel Dummheit und brüllte es mit einer Wehe hinaus.
„Lass sie. Dummheit scheint die Welt zu regieren“, beruhigte sie Robert. Dann befahl er Sainkoh einige Dinge zu holen. In Ermangelung einer Alternative schickte er sie, Weidenrindentee zu kochen. Es würde krampflösend wirken und gleichzeitig die Schmerzen etwas lindern. Dann musste er sehen, dass er etwas bekam, das die Blutung stillen würde. Er wollte für alle Eventualitäten gerüstet sein. Aber es fand sich kein natürliches Mittel mehr im Nikitin’schen Haushalt.
„Wir werden mit kaltem Wasser arbeiten und vielleicht kann ich etwas finden, wenn es vorbei ist“, sagte er ruhig. Die Wehen kamen unterdessen in immer kürzeren Abständen und Agnes dachte, das würde sie nicht mehr lange aushalten.
Immer wieder schaute Sainkoh herein. Verwundert fragte sie: „Robert, woher weißt du das alles? Ich dachte, du bist nur …“ Verlegen brach sie ab.
„In meiner Heimat war ich so etwas wie ein Heiler“, sagte er schlicht, nahm Sainkoh den Tee ab und wandte sich wieder Agnes zu. Gierig trank sie davon und sank dann wieder zurück.
„Du solltest etwas gehen, Mäuschen, dann dauert es nicht so lange und die Schwerkraft hilft dir bei der Geburt“, drängte er. Sie ließ sich überreden und wanderte in dem dunklen Raum hin und her, dabei stützte sie sich schwer auf ihn. Eine Wehe durchstand sie, festgeklammert an Robert, dann setzte endlich der Presswehen ein.
Sie klammerte sich an ihm fest, der eigentlich den Fortschritt kontrollieren wollte. So sagte er nur: „Wenn du mich halten willst, musst du dich hinlegen.“ Sanft drängte er sie auf den Rücken und legte sich neben sie.
Robert wusste nicht, wie ihm geschah, als Agnes in seinen Geist eindrang und ihm von ihrem Schmerz einen Teil abgab. Er versuchte Kraft und Zuversicht auszustrahlen. Ob es ihm gelang wusste er nicht.
„Ich wünschte Erik wäre hier“, sagte sie in einer Pause und Tränen kullerten über ihr schweißnasses Gesicht.
„Ich weiß, Liebchen. Er hätte dir besser beistehen können als ich.“
„Aber ich bin froh, dass du da bist.“ Dann krallte sie sich wieder an ihm fest und das erste Kind war da. Robert nahm es auf und legte es Agnes auf den Bauch.
„Siehst du, das erste Mäuschen ist schon da. Hallo du Süße“, sagte er und steckte ihr den kleinen Finger in den Mund. Dann begann es zu schreien. „Gut, du bist ein kräftiges kleines Fräulein, nicht wahr mein Mäuschen. – Ruh dich etwas aus, Agnes. Es wird noch einmal losgehen. Ich wickle nur die süße Kleine da in ein warmes Tuch und lege sie ins andere Bett, damit wir sie nicht verletzten, wenn das andere Baby kommt.“ Rasch und sicher wusch er das Kind, wickelte es in mehrere lagen weiche Tücher und legte sie dann in sein Bett.
Dann brachte er Agnes frischen Tee und wusch sie ebenfalls.
„Wann kommt denn endlich das nächste?“, fragte sie ungeduldig. Kaum gefragt, ging es auch schon los. Diesmal dauerte es nicht so lange und Robert sagte: „Da haben wir ja auch noch einen süßen kleinen Jungen. Hallo kleiner Hase“, sagte er und legte auch dieses Baby auf Agnes Bauch. Dann kümmerte er sich gekonnt um die Nachgeburt, versorgte die Kinder und Agnes. Anschließend rückte er ein Bett an die Wand und das zweite daran. Die Babys lagen sicher und warm, dann schob er Agnes in die Mitte und legte sich selbst an den Rand. Erschöpft schliefen sie schließlich ein.

„Danke“, sagte Agnes, als sie erwachte.
„Gern geschehen, mein Liebes. Das hast du gut gemacht. Siehst du, was für hübsche Kinder du geboren hast? Ich glaube du bist die erste Eumerierin, die seit tausend Jahren ein Kind auf natürlichem Weg geboren hat. Ich bin stolz auf dich!“ Er strich ihr sanft durchs Haar und fügte leise hinzu: „Erik wäre auch stolz auf dich.“
Nach einer Weile fragte er: „Wie willst du sie nennen?“
Agnes schloss die Augen und versenkte sich in den Geist der Kinder. Sie schliefen tief und fest und waren für den Moment zufrieden. „Brigitt und Ivo, sind ihre Namen. Es sind starke gute Namen. Brigitt und Ivo Lindstrom-Nielsson, wenn du magst, schließlich hast du mitgeholfen, sie auf die Welt zu bringen.“
Robert konnte vor Freude nichts sagen, das brauchte er auch nicht, weil es Agnes in seinen Gedanken las.

Es vergingen weitere drei Monate in denen sie eifrig am Modul arbeiteten und sich abwechselnd um die Kinder kümmerten. Leon und Sainkoh wurden ungeduldig und zwangen Agnes schließlich zu einer Entscheidung.
Sie hatte gerade die letzten Handgriffe erledigt und einen Testlauf der Programmierung vorgenommen, als Leon in die Werkstatt stürmte.
„Gerade haben wir über die Medien gehört, dass Eumeria einen Angriff auf Sibir starten wird. Nur wenige Senatoren waren dagegen, was ja schon ein Wunder ist, in Anbetracht der Tatsache, dass dort lauter herrschsüchtige Vollidioten leben. Sollte es zum Krieg kommen, ist es mit unserer Gastfreundschaft zu Ende. Bei Tagesanbruch wirst du Alex suchen und hoffentlich mit ihm zurückkommen. Langsam reicht es mir. Er ist ein kluger Kopf und wird unsere Lage verstehen.“ Dann erging er sich in einer weiteren Hasstirade gegen Eumeria, die Agnes beinahe an den Rand der Verzweiflung brachte.
„Morgen, wenn du meinst. Robert hat die Koordinaten auf der Karte studiert und sie soweit angepasst, dass ich größere Chancen haben werde, Alex zu finden. Aber eine Garantie gibt es keine“, sagte sie müde. „Was ist mit den Kindern? Ich stille noch und hatte vor, das noch eine Zeitlang zu machen“, sagte sie ärgerlich.
„Dann wirst du abstillen und die Kinder bekommen Fertigmilch. Morgen reist du ab und kommst erst mit Alex zurück“, befahl er. Doch Agnes hatte noch Einwände: „Wie werdet ihr mit Robert zurecht kommen? Ihr mögt ihn nicht besonders, noch weniger als mich.“
„Er hält uns deine Kinder vom Hals, das wird genügen.“
„Warum bist du nur so feindselig? Ich habe bei eurer Befreiung mein Leben riskiert und jetzt seid ihr so ablehnend. Ich verstehe es nicht.“
„Du hast den Krieg vergessen. Ich will keine Eumerier in meinem Haus haben, wenn es losgeht, verstanden!“
„Leon! Ich bin staatenlos und Robert ist kein Eumerier!“, versuchte sie einzulenken. Aber damit biss sie bei Leon auf Granit. Er war wild entschlossen, den Rest seiner Familie zu schützen und wenn es bedeutete, andere mitten im Sturm aus dem Haus zu weisen.
„Morgen und ich hoffe für deinen Liebhaber und deine Brut, dass du bald wieder da bist und Alex mitbringst.“
„Leon!“, rief sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen. „Das ist doch nicht dein Ernst.“
„Schnüffle nicht in meinen Gedanken!“
Das war so ungerecht, weil sie nie absichtlich die Gefühle anderer las.
„Ich werde wohl besser alles zusammen packen, damit ich im Morgengrauen wegkomme“, sagte sie matt.
Sie schloss das Testprogramm, es musste eben ohne gehen. Dann lief sie ins Haus. Traurig und zornig warf sie sich aufs Bett und begann zu schluchzen. Robert hatte Brigitt im Arm und kitzelte mit der anderen Ivos Bauch, dass er gluckste. Jetzt legte er das Mädchen zu seinem Bruder und ging ruhig zu Agnes.
„Was verlangen sie diesmal?“, fragte er ruhig.
„Ich muss morgen in der Zeit zurückgehen. Eumeria hat Sibir den Krieg erklärt, wenn es losgeht werden wir des Landes verwiesen. Wir können von Glück reden, wenn ich es rechtzeitig schaffe und wir die Enklave von Cherskiy erreichen bevor sie geschlossen wird.“
Robert vergaß, dass er eigentlich wegen der Kinder ruhig bleiben wollte. „Wieso muss das gerade jetzt passieren? Himmel noch mal, aber auch!“ Er atmete tief durch, dann sagte er ruhiger: „Mein armes Häschen. Was wird es dir antun, jetzt wegzugehen? Du stillst noch, ist ihnen das egal?“ Agnes nickte nur.
„Na schön, dann muss ich mir was überlegen, wie ich die beiden Mäuschen satt bekomme, während du weg bist. Ich hoffe, dass es nicht zu lange dauern wird.“
„Oh, Robert, was täte ich nur ohne dich?“
„Wir geben nicht auf, Agnes, auch wenn sie uns überall hinauswerfen, irgendwo werden wir schon einen Platz für uns finden auf dieser großen Welt.“ Tröstend nahm er sie in den Arm und küsste sie lang und innig. „Ich warte hier solange auf dich wie es geht. Wenn sie uns hinauswerfen, gehe ich mit den Kindern nach Cherskiy. Mach dir keine Sorgen um uns, wir kommen zurecht.“
„Ich würde dir gerne ein Geschenk machen, aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Es ist etwas Seltenes und ich schaffe es nicht immer, es ging bisher nur einmal. Leg dich bitte hin, Robert und schließe die Augen.“ Ergriffen folgte er ihren Anweisungen und wartete gespannt, was sie vorhatte. Dann setzte sie sich neben ihn, nahm seine Hand in ihre und konzentrierte sich. Zuerst senkte sie nach und nach ihre Abschirmung bevor sie mit ihren Gedanken in die von Robert eindrang. Einen Moment erschrak er durch die geistige Berührung. Er hatte den Eindruck, als würde sie ihn an den intimsten Stellen berühren und er errötete. Dann sandte sie ihm ihre Gedanken zu und öffnete gleichzeitig seine Kanäle, so wie es vor vielen Monaten Erik bei ihr gemacht hatte.
„Aggie, was für ein Geschenk!“, hauchte er tief bewegt. „Ich liebe dich, seit ich dich dort am Abgrund sitzen sah und du dich an Erik klammertest, ein Anblick des Elends.“
„Jetzt weiß ich das alles und ich habe auch deine Liebe zu Erik gesehen, sonst hättest du dich nicht auf uns eingelassen, als ich ihn schützen wollte und es alleine nicht schaffte.“
„Ich hatte solche Angst …“ Mehr brauchte er nicht zu sagen. Noch einmal umarmten sie sich, dann meinte Robert: „Ich werde alles für einen frühen Aufbruch vorbereiten.“ Er konnte und wollte seine Trauer nicht unterdrücken. Agnes ging es ebenso. Sie drückte die Kinder an sich, redete mit ihnen, herzte und streichelte sie in einem fort. „Ich hoffe, dass ich euch wiedersehe. Oh diese verdammte Welt! Alles läuft irgendwie falsch. Warum kann man nicht einfach als Mensch gesehen werden, ganz gleich welche Farbe die Haut, die Augen oder die Haare haben? Es ist doch egal, wo man geboren wurde – es wurde ein Mensch geboren und nicht ein Bürger irgendeines Staates, Bundes oder was auch immer! Es macht mich verrückt, dass die Menschen überall die gleichen Vorurteile haben! Wann hat das alles angefangen?“ Jetzt begannen die Babys zu weinen und Robert sagte mit einem Augenzwinkern: „Jetzt hast du sie mit deiner Rede zur Menschlichkeit aus dem Schlaf gerissen, meine Liebe.“
„Ich fürchte auch. Aber noch mehr denke ich, dass sie Hunger haben. Heute werde ich euch zum letzten Mal stillen, meine Häschen.“

Am nächsten Tag war Agnes schon früh auf. Robert war die letzte Nacht bei ihr gelegen, nur die Hände hatten sich berührt . Doch ihre Gedanken waren vereint, miteinander verschlungen.
Eigentlich wollte sie ihn nicht wecken, weil sie wusste, dass er wenig Schlaf bekommen, und unter dem Tageslicht leiden würde, wenn er mit den Kindern an die Luft ging, denn das würde er tun. Sie ahnte, dass er für diese Kinder sein Letztes geben würde. Entschlossen verdrängte sie alle Gedanken an Robert und die Kinder und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe.

„Robert, ich liebe dich und die Kinder“, sagte sie, bevor sie das Programm aktivierte. In jedem Arm hielt er ein Kind und schaute ihr nach. Als sie weg war sagte er leise: „Ich hoffe, eure Mama kommt bald wieder heil nachhause.“
Sainkoh war beim Start anwesend. Irgendwie fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken, was sie Agnes und den Kindern antat, wusste sie doch aus eigener Erfahrung was es heißt, von einem Kind getrennt zu werden und Robert sah so traurig aus.
„Es tut mir Leid, Robert“, sagte sie nur. Aber das machte den normalerweise ruhigen Mann wütend: „Ja, jedem tut es immer Leid, aber gegen das Leid tut keiner was! Schaut euch nur an! Agnes hat völlig recht mit ihrer Behauptung über die Menschen! Sieh dir die Kleinen da an! Können die jemandem etwas Schlechtes tun? Nein, warum müssen sie dann mit mir, als ihrem Pflegevater, hinausgejagt werden, wenn der Krieg beginnt? Ich bin kein Eumerier und die Kinder sind staatenlos. Es ist etwas, das ich nicht verstehe. Ist es, weil ich fremd aussehe?“
Sainkoh starrte beschämt zu Boden. Auf diese Fragen wusste sie keine Antworten, die sie nicht bloß gestellt hätten, deshalb sagte sie einfach: „Ihr könnt bleiben, solange es geht. Ich hoffe, dass Agnes Erfolg hat.“ Schnell verließ sie die Werkstatt und ging ins Haus.
Am Abend lief eine ähnliche Diskussion. Als Robert seine Mahlzeit und die Milch für die Kinder holte, fuhr ihn Leon feindselig an. „Ich will nicht, dass du dich hier zuviel blicken lässt. Am frühen Morgen kannst du mit den Kindern eine Stunde hinaus und am Abend ebenso. Von unserer Politik verstehst du scheinbar nicht viel.“
Robert nahm seinen Anteil und erwiderte: „Ihr seid nicht besser als andere Menschen. Worum wird diesmal gekämpft? Um Bodenschätze, um Land oder geht es ganz neu, um den Glauben?“, seine Stimme war voller Verachtung. „Mich widert das alles an. Und ihr, ihr lasst euch davon mitreißen! So ein Idiot, der sich Führer, Präsident oder sonst wie nennt, kommt daher und sagt euch, was ihr zu denken habt und ihr lasst all eure Humanität fallen und rennt ihm nach, blindlings ins Verderben wenn es sein muss. Agnes hat es mir gezeigt, Bilder der Vergangenheit, und ich habe die Kinder in den Labors gesehen, darunter war mein eigenes. Also, redet mir nicht mehr davon, dass ich nichts von eurer Politik verstehe. Die Führer Sibirs besitzen die gleichen Waffen wie Eumeria. Dafür sorgt seit Jahrtausenden eine weltumspannende Waffenindustrie. Sobald Agnes wieder hier ist, werden wir gehen.“ Er nahm den Teller in eine Hand, die Milch in die andere, drehte sich um und verließ wortlos den Raum. Penibel hielt er sich an die vorgegebenen Zeiten zum Rausgehen. Es gefiel weder ihm noch den Kindern so eingesperrt zu sein. Aber er wollte jetzt dem Hausherrn nicht noch mehr Anlass zum Unmut geben.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Agnes war unterdessen zwanzigtausend Jahre in die Vergangenheit transportiert worden. Ihr war mehr als übel als sie landete und sie erbrach erst einmal das Frühstück. Dann begann sie mit einer Sensorsuche nach menschlichem Leben. Das war eine der Feinheiten, die Robert für sie installiert hatte, damit sie die Suche schneller beenden konnte. Bis tief in ihr Innerstes wusste sie, dass es falsch war, was sie hier tat und dennoch hatte sie es versprochen. Der Grund warum sie losgeschickt worden war, war falsch. „Sie sollten dich um deiner selbst willen suchen, alter Freund und nicht wegen irgendwelcher Fähigkeiten, die du hast“, sagte sie in die Stille des Moduls.
Sie studierte kurz das Suchergebnis und gab die neuen Koordinaten ein. Allzu lange durfte sie mit der Suche nicht brauchen, denn sonst waren die Energiereserven aufgebraucht und es gab keine Möglichkeit zur Rückkehr. Daran wollte sie nicht denken. „Denk positiv, Aggie, nie aufgeben, immer vorwärts schauen“, sagte sie sich, als sie den nächsten Zielpunkt erreichte. Hier hatten die Sensoren eine Siedlung in etwa einem Kilometer Entfernung ausgemacht. Jetzt musste sie nur noch dorthin kommen und möglichst unbemerkt die Bewohner studieren. Mit etwas Glück würde sie Alex hier finden.

Agnes löste die Gurte und stieg aus. Sie hoffte, diesmal Glück zu haben. Lange würde sie die Suche nicht mehr ausdehnen können, die Energiequelle war nicht unerschöpflich und ihre Vorräte wurden knapp. Außerdem hatte sie brennende Sehnsucht nach den Kindern und wie sie sich eingestehen musste auch nach Robert. Wie schon so oft schickte sie ihre Sinne auf Wanderschaft und stieß einen Freudenschrei aus. Da war eine bekannte Berührung gewesen. Sie umrundete das Modul und ging einige Schritte auf den Wald zu, da sah sie ihn stehen. Er sah nicht gut aus, so als würde er ständig Schmerzen.
„Alex! Endlich habe ich dich gefunden!“, rief sie und lief ihm entgegen.
Er war so erschrocken, dass er keinen Muskel bewegen konnte. Ängstlich dachte er, er habe wieder einen Fieberschub. Mit wehendem Haar stürmte sie auf ihn zu und erdrückte ihn mit ihrer stürmischen Umarmung. Das ließ ihn weiter zweifeln. Agnes hätte ihn nie berührt, zumindest nicht so, wie sie es jetzt tat. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf beide Wangen und den Mund. „Oh, es ist so schön, dich wieder zu sehen“, sagte sie. Dann wischte sie die Tränen aus dem Gesicht und lächelte ihn an.
Alex schaute weiter, nahm sie an den Oberarmen und schob sie von sich.
„Wer schickt dich?“, fragte er schärfer als er beabsichtigt hatte.
„Niemand, oder doch, Sainkoh und Leon haben mich beauftragt nach dir zu suchen und dich zurück zu bringen und ich wollte dich ebenfalls finden.“
„Warum?“ Alex blieb kurz angebunden.
Agnes schnaufte tief durch. „Alex, das wird etwas dauern, wenn ich alles erzählen soll und ich habe wenig Zeit.“
„Wir haben alle Zeit der Welt. Hier eilt nichts“, widersprach er.
„Aber ich muss zurück, sonst nehmen sie mir die Kinder weg.“ Jetzt klang sie verzweifelt.
„Kannst du noch einen Tag anhängen, oder zwei? Wenn ich mitkomme, will ich alles wissen und mich außerdem von den anderen verabschieden.“ Jetzt schaute er sie genauer an, nahm ihre Hand und drückte sie. „Ich kann kaum glauben, dass du dieselbe Agnes bist, die ich zurück gelassen habe. Du bist sehr verändert.“
„Ja, ich bin zu dir gekommen. Ich habe dich so vermisst. – Wo kann ich hier ein Lager aufschlagen. Ich glaube, es ist keine so gute Idee, wenn ich in euere Siedlung komme.“
Alex überlegte eine Weile, betrachtete sie gründlich, dann sagte er entschlossen: „Zieh dir etwas von meinen Sachen an, dann stelle ich dir meine Stammesbrüder vor. Am Abend berichtest du mir und dann entscheide ich mich.“
Alex staunte über sich selbst, weil er nicht sofort freudig die Gelegenheit nutzte, von hier zu verschwinden. Auch, dass er diesen wissenschaftlichen Ton wieder angenommen hatte, konnte er kaum fassen. ‚Ich bin weniger an das neue Leben angepasst, als ich dachte’, überlegte er.
„Alex, ich habe mich mehr verändert, als ich je dachte, mich ändern zu können.“ Sie zog sich um und folgte ihm. „Hoffentlich passiert dem Modul nichts. Ich habe es noch nie länger als einige Minuten aus den Augen gelassen.“

Bei ihrem Eintreffen herrschte im Lager große Aufregung. Alle fragten sich, wen Alex da mitgebracht hatte. Agnes stach in ihrer Fremdartigkeit mehr hervor als Alex es je getan hatte, das machte auch ihm sein Anderssein wieder bewusst. ‚Warum fühle ich ihre Panik vor den Leuten?’, dachte er und blickte sie scharf an. Doch sie verschärfte nur den Druck der Hand und sagte leise: „Ich sage es dir am Abend, abgemacht, wenn wir ungestört sind. Wer ist die Frau, die dich so leidend ansieht?“ Mae war hervorgetreten und schaute beinahe panisch auf Alex. Es gab ihr einen Stich ins Herz, als sie ihn mit der großen fast weißhaarigen Frau sah. Sie wusste, ohne dass es ihr jemand sagen musste, dass der Zeitpunkt des Abschieds näher rückte und sie war traurig deswegen. Aber ihre Pflichten als Mutter verlangten, die Fremde zuerst zu begrüßen. Mit weit ausgebreiteten Armen kam sie auf Agnes zu und sagte die üblichen Worte. Alex beugte sich zu Agnes und übersetzte, dann sprach er für Agnes, die richtige Antwort. Agnes breitete nun ebenfalls die Arme aus und verbeugte sich dann, wie es in Eumeria Sitte war.
„Komm, Mae hat dich in unsere Behausung eingeladen. Sie ist die Mutter des Bäre-Stammes.“ Etwas in seiner Stimme machte Agnes stutzig. Da waren eine Traurigkeit darin und eine Sehnsucht, die sie vorhin nicht wahrgenommen hatte.

Es kam nur eine stockende Unterhaltung zustande. Agnes saß nur stumm da und ließ Alex reden. Sie kam sich verloren und völlig fehl am Platz vor, wie ein Eindringling.
Mae fragte gerade: „Wann wirst du uns verlassen, Alex?“
„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt mitgehen kann oder will. Hier ist soviel das ich vermissen würde, dich zum Beispiel. Aber zuhause ist auch viel, das ich tun kann. Ich muss erst mit Agnes reden, dann kann ich dir eine Antwort geben.“
Lange Zeit herrschte bedrücktes Schweigen. Ki kroch auf seine Knie, mittlerweile war sie fast zu groß dafür, aber sie tat es so gerne, und klammerte sich an ihn. „Aks, bitte bleib bei uns“, flehte sie und vergrub den Kopf an seinem Hals.
Alex drückte das Mädchen fest an sich und blickte Agnes verzweifelt an. Er wusste nicht mehr, was er machen sollte. Hier waren so viele Menschen, die ihn vermissen würden und an deren Schicksal er Anteil nahm.
„Kann ich irgendwo mit dir alleine reden?“, fragte sie schließlich. „Ich möchte es dir jetzt zeigen und dann werde ich dich alleine lassen. Die Nacht verbringe ich im Modul.“
Die Gruppe hatte Agnes mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Verständnislosigkeit betrachtet. Alle diese Gefühle erspürte sie jetzt und es nahm ihr beinahe den Atem. Sie schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln und die Dämme zu schließen.
Alex dachte darüber nach, dann nickte er und übersetzte für Mae und die anderen. „Ich gehe mit ihr an mein Herdfeuer und höre mir an, was sie zu sagen hat. Erst dann wird es eine Entscheidung geben“, sagte er fest. Er stellte Ki wieder auf den Boden, stand auf und winkte Agnes. Sie sprang fast auf die Füße und blieb ihm dicht auf den Fersen.

Alex hatte seine Felle in der Nähe des Eingangs aufgebreitet. Er bat Agnes Platz zu nehmen und schaute sie erwartungsvoll an. Als sie nur saß und nichts sagte forderte er: „Rede.“
Nur dieses eine Wort und Agnes fühlte sich dadurch verletzt. Entschlossen schluckte sie den Kloß im Hals hinunter, schaute ihm tief in die Augen und sagte: „Alex, ich habe nicht soviel Zeit, dir alles mit Worten zu sagen, deshalb würde ich es dir gerne in dein Gehirn schicken. Alles, was ich zu sagen habe in einem Augenblick. Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn jemand an deinem Geist herumpfuscht, aber ich verspreche, dass ich nichts tun werde, das dir schadet.“ Sie kam sich hier als ungebetener Gast vor, sodass sie ständig das Gefühl hatte, sich für irgendetwas entschuldigen zu müssen. Alex wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Es war schon lange her, dass er mit Eumeria etwas zu tun gehabt hatte. Die ganze Telepathie war ihm fremd geworden, deshalb sagte er ausweichend: „Ich dachte immer, du kannst das nicht.“
„Ich werde es dir zeigen, bitte. Wenn wir nicht schnell machen, werde ich es nicht mehr vor der Dunkelheit zum Modul schaffen.“
Er dachte einige Zeit darüber nach, machte ein Feuer und begann damit Tee zu kochen. Alles ganz gemächlich, ohne Eile. Agnes fand das fast schon provozierend. Mit Mühe beherrschte sie ihre Ungeduld und zwang sich, ruhig sitzen zu bleiben. Immer wieder wurde ihr Blick von Mae angezogen, die oft zu Alex schaute. Das kleine Mädchen, das sich so an ihn geklammert hatte, kam wieder angelaufen und blieb einige Schritte vor dem Feuerplatz stehen. Wütend starrte es auf Agnes und schrie etwas, den Wortlaut verstand sie nicht, wohl aber was gemeint war. „Die wollen alle, dass ich verschwinde. Alex, bitte, …“
Erst als der Tee fertig war und er mit einem Becher auf seinen Fellen saß, blickte er sie wieder an. „Du verlangst viel von mir. Ich weiß nicht, was ich denken und wie ich mich entscheiden soll. Warum will Sainkoh, dass ich zurückkomme?“
„Ich möchte dir die Bilder zeigen“, bat sie wieder.
Alex trank in Ruhe seinen Tee bevor er antwortete: „Na schön, was muss ich tun?“
„Leg dich einfach bequem zurück, schließ die Augen und lass mich deine Hand halten. Wenn ich merke, dass es zuviel wird, höre ich auf.“ Sie hatte jetzt ganz sachlich und ruhig gesprochen, nichts von ihrer inneren Anspannung war zu hören gewesen. Als beide so weit waren, zeigte sie ihm alles was vor ihrem Zeitsprung passiert war.
„Agnes!“, rief er. Schnell unterbrach sie die Erinnerung an die Kinder im Labor. Weinend setzte er sich auf, griff sich an die Brust und kämpfte um Luft. Da sah er, dass auch Agnes weinte. „Eines von Roberts Kindern war darunter, und Erik“, schloss sie kaum hörbar.
„Ich weiß, du hast es mir gezeigt. Was ist nur los mit deinen Leuten?“, sagte er, als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

Mae beobachtete das alles von ihrem Feuer aus. Es gefiel ihr gar nicht, dass diese Fremde mit Alex alleine war. Dann brachte sie ihn auch noch zum Weinen, das war für Mae zuviel und sie schritt hinüber. Sie wollte die Frau hinauswerfen schließlich war sie die Anführerin. Aber dann dachte sie daran, dass Alex im Fieber nach ihr gerufen hatte. Es war schwierig eine Entscheidung zu treffen, so machte sie auf halbem Weg kehrt und setzte sich wieder an ihr Feuer. Alex würde für sich selbst entscheiden müssen, das hatte Großvater vor seinem Tod zu ihr gesagt.
Mae sah, dass sie jetzt stritten, denn die Frau wurde lauter und gestikulierte heftig. Sie schien ihm irgendetwas klarmachen zu wollen, dann sprang sie auf und lief hinaus. Alex rief ihr noch etwas nach, aber sie war weg. Jetzt erst ging Mae hinüber und setzte sich stumm neben ihn. Sanft nahm sie seine Hand und streichelte sie.

„Ich hätte nicht so heftig reagieren sollen.“, rief sie in die Dämmerung und rannte zu ihrem Unterschlupf. Es war schon sehr dunkel und das Halbdunkel war manchmal gefährlicher als die Dunkelheit der Nacht. Sie stolperte, fiel und schlug sich die Nase an einer Wurzel an, dass es blutete. Rasch stand sie auf und humpelte weiter. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es zum Modul, dann war es stockdunkel, nur vereinzelte Sterne waren zu erkennen, doch bald schon würde der Himmel von einem Sternenmeer übersät sein. Jede Nacht hatte sie bisher die Sterne betrachtet, diesmal würde sie es nicht tun. Sie verbarrikadierte sich und schämte sich ihres Wutausbruchs. „Warum kann er mir nicht einfach glauben?“, brüllte sie die Armaturen an. Sie gaben keine Antwort. Stille umgab sie, die nur von ihrem Schluchzen unterbrochen wurde.

Alex saß noch immer tief in Gedanken versunken da. Teils schämte er sich der Schmähungen, die er ihr entgegen geschleudert hatte, teils war er froh, das endlich einmal gesagt zu haben. Dennoch, ihre Erinnerungen geisterten in seinem Kopf herum und ließen sich nicht wegleugnen. Kummervoll nahm er den Tee entgegen und blickte nur kurz auf, als sich Mae wieder zu ihm gesellte. Sie tat ihm so gut, die ganze Gruppe war in den letzten beiden Jahren eine zweite Heimat für ihn geworden. Agnes hatte gesagt, dass es Krieg zwischen Eumeria und Sibir gab und ihre staatenlosen Kinder mittendrin steckten. Das hatte ihn am meisten erstaunt, dass sie auf natürlichem Weg Nachwuchs bekommen hatte und es noch dazu mit Stolz sagte. Mit welcher Liebe sie an Erik dachte, den er nur wenig kennen gelernt hatte, als er in Zurick stationiert gewesen war. Aber er war auch in seiner Erinnerung ein netter Mann gewesen, der seine Untergebenen immer fair behandelt hatte. Er überlegte, ob sie nicht doch seine Hinweise richtig gedeutet und der Welt einen Weg zur Liebe gezeigt hatte. Unsicher bettete er den Kopf auf die Knie und versteckte sich hinter der Haarmähne. Alles war so verwirrend und jede Entscheidung führte nur zu Kummer und Leid, ganz gleich wie er es drehte und wendete. Der Seufzer, der sich ihm entrang, schien aus der Tiefe seiner Seele zu stammen und drückte all seinen Zweifel aus.
„Ist es selbstsüchtig von mir, hier bleiben zu wollen?“, fragte er und wusste, dass es darauf keine Antwort gab. „Soll ich sie ihrem Untergang entgegen gehen lassen? Ich habe sie einmal geliebt, vielleicht tue ich es noch.“ Er drehte den Kopf zur Seite und blinzelte die Tränen weg. „Ich bin ein schwacher alter Mann in eurer Gesellschaft und ihr seid immer freundlich zu mir. Du sorgst für die Befriedigung all meiner Bedürfnisse, Mae, aber ist das die Liebe nach der ich mich sehne? Kann man die Vergangenheit ändern, Mae? Ich glaube es nicht, nicht mehr. Früher dachte ich es. Aber das ist lange vorbei. Die Machthaber zuhause haben solche Angst vor einer Veränderung, die ich herbeigeführt haben könnte, dass sie die Zukunft selbst verändern.“ Er schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht. Dann stand er auf, zog Mae, die mit immer größerer Verwirrung zugehört hatte, in die Höhe und küsste sie lange und innig. Da begriff sie, dass er sie verlassen würde und sie klammerte sich mit einer Heftigkeit an ihn, die sie selbst überraschte.

Sie redeten nichts mehr, bis am nächsten Morgen der Abschied nahte. Alex ließ alles zurück und nahm nur die Erinnerung an diese freundliche Gruppe mit, die ihm in mehr als einer Hinsicht das Leben gerettet hatte. Er behielt nur die Beinlinge, die Mae ihm geschenkt hatte, als sie mit der Ahle umzugehen gelernt hatte. Er verbot ihnen, ihm zu folgen und so verabschiedeten sie sich am großen Feuerplatz von einander. Es wurde viel geweint und einige versuchten noch ihn umzustimmen. Aber er hatte sich entschieden. Mae wusste, dass nichts etwas ändern würde. Endlich gab er sich einen Ruck und ging auf die Lichtung zu. Er hoffte, dass Agnes noch dort sein würde.

Im Modul eingeschlossen, war sie endlich gegen Morgen eingeschlafen. Sie träumte von ihren Kindern, die in den Kriegswirren verloren gegangen, oder von der Miliz verschleppt worden waren. Schreiend erwachte sie und hörte ein wildes Klopfen an die Seitenwand. Ihr Herz pochte heftig gegen die Rippen und sie verspürte eine irrationale Angst, dass jemand gekommen war und sie fortbringen wollte. Deshalb zögerte sie, den Türöffner zu betätigen. Dann breitete sie ihre Wahrnehmungsfähigkeit aus und sie erkannte Alex, der draußen wartete.
„Kehren wir nachhause zurück“, sagte er schlicht, als sie geöffnet hatte und kroch ins Innere.

Ein Augenblick nur, einer genügt, um ein ganzes Weltbild zu erschüttern oder es zu errichten.

Ich drehe mich noch immer im Kreis und kann nichts erkennen als die Bergkette, die mich umschließt. Wann wird es einen Weg hinaus geben? Vielleicht ist das der Weg, den der alte Mann gesehen hat und nichts sagen wollte? Ich werde es erst erfahren, wenn ich dort bin.
Ich kehre nachhause und kann es kaum fassen.

nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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In Sibir herrschte seit einigen Wochen Krieg. Beide Seiten hatten es auf die Enklave Cherskiy abgesehen und auf Rohstoffe im Meer rund um die Stadt. Dann hatte Cherskiy die Unabhängigkeit beantragt, um den Krieg zu beenden. Alle Seiten hatten sich auf einen lauen Kompromiss geeinigt. Cherskiy bekam die Unabhängigkeit, nahm aber die Sprache und die Währung Sibirs an und gleichzeitig behielt sich Eumeria vor, wirtschaftlich die Fäden in der Hand zu behalten. Sibir bekam dafür das Recht im Land die Bodenschätze zu fördern.
‚Was für eine tolle Unabhängigkeit’, dachte Robert. ‚Dafür sind Leute gestorben. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich es für einen schlechten Witz halten.’
Er hatte die Kinder gut versorgt und ging jeden Tag mit ihnen eine Weile hinaus. Ständig waren seine Gedanken bei Agnes. Er hoffte inbrünstig, dass sie zurückkommen würde, mit oder ohne Alex, das war ihm gleichgültig.

Die Feindseligkeit im Hause Nikitin nahm zu, als der Vorsteher eines Morgens ins Haus stürmte und lauthals die Herausgabe der Fremden forderte. Robert wagte sich nur mehr einmal am Tag mit den Kindern ins Freie. Er ging für einige Minuten in der Dämmerung hinaus und ließ die Kinder im Schnee spielen. Wenn es zu kalt wurde, ging er wieder rein und verschwand mit ihnen im Keller. Dort hausten sie seit einigen Wochen. Es war kalt und feucht, aber seit sie sich hier aufhielten, fühlte er sich sicherer und weniger beobachtet. Brigitt machte ihm Sorgen. Sie hustete in einem fort und war sehr weinerlich. Manchmal konnte er ihre Gedanken erreichen und ihr ein schönes Bild zeigen, eine grüne Wiese im Sonnenlicht, dann gluckste sie zufrieden und ließ sich beruhigen. Mit Ivo war es ein anderes Problem, er war fast zu neugierig für seine knappen sechs Monate. Alles wollte er anfassen und in den Mund nehmen. So war Robert ständig mit den Kindern beschäftigt und vergaß sich dabei selbst.

Sainkoh hatte ihm eine Mentholsalbe für Brigitt gegeben. Sie war zu stark für das Baby, aber besser als nichts. Er rieb ihr gerade die Brust damit ein, als Leon in den Keller polterte und dabei rief: „Wenn sie morgen nicht wieder da ist, dann müsst ihr verschwinden! Die Milizen suchen überall nach Fremden. Wenn sie euch hier finden, dann sind wir alle geliefert! Ihr geht morgen in aller Frühe!“
Robert war erschüttert. Die Babys fingen zu weinen an.
„Aber es ist Winter und der Krieg ist aus. Die Kälte wird uns umbringen“, versuchte Robert entgegen zu halten.
„Es ist mir gleich. Meine Familie geht in diesem Fall vor.“
Darauf gab es nichts mehr zu sagen. Robert begann stumm damit die Sachen zusammen zu packen, dann stieg er die Treppe hoch, klopfte, damit sie ihn hinaus ließen und bat Sainkoh um Vorräte für sich und die Kinder. Sie sicherte ihm alles zu, dann ging er wieder in den Keller. Brigitt hustete zu stark, die feuchte Kälte tat ihr nicht gut und er bezweifelte, sie sicher über den Winter zu bringen. Dann richtete er das Nachtlager auf einer Lage alter Zeigungen, drückte die Kinder an seinen Leib, damit sie etwas Wärme abbekamen, zog eine Decke über sich und versuchte zu schlafen.

Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Agnes. „Gib nicht auf“, sagte er immer wieder. „Du wirst ihn finden und dann zu uns zurück kommen. Ich weiß es ganz genau.“
Dann drückte er die Kinder etwas fester an sich und haderte mit sich und dem Schicksal, das er sich selbst aufgebürdet hatte. Manchmal schien ihn die Last der Verantwortung niederzudrücken, ihn vernichten zu wollen. Dann sah er die Kinder, Agnes Kinder, die seinen Namen tragen sollten, obwohl er sie nicht gezeugt hatte, und er zwang sich positiv zu denken. „Alles wird gut, meine Kleinen“, murmelte er dann und begann seinen Singsang. Es beruhigte ihn selbst und die Kinder gleichermaßen.
„Wisst ihr was, ihr Süßen, wir machen da weiter, wo euer Vater aufgehört hat, wir zeigen den Leuten das Tor. Was haltet ihr davon? Wir machen die Tür noch ein Stückchen weiter auf. Vielleicht trifft der Lichtstrahl noch einige Leute mehr. Wir sind keine Verlierer, nein, nein, wir nicht, auch wenn wir am Boden sind, haben wir noch lange nicht verloren. Auch euer Vater hat nicht verloren. Er hat die Niederlage in einen Sieg verwandelt, weil es euch gibt. Ja, ihr seid ein Sieg der Liebe.“
Entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen, sprang er hoch, wickelte die Kleinen dick ein und packte alles zusammen, was er hatte. Für Sainkoh ließ er einige Gegenstände zurück auf die er verzichten konnte. Die Last würde groß werden, kaum zu schaffen, aber er würde für sich und die Kinder einen Platz finden, wo sie halbwegs sicher waren.

Sainkoh war im Zweifel. Seit Agnes mit ihr so offen gesprochen hatte war der Zweifel über ihr Vorhaben in ihr gekeimt. Nun kam sie sich immer schäbiger vor. Leon war schon in die Werkstatt gegangen, jetzt ging sie auch hin und wollte ihn zur Rede stellen. Das kleine Mädchen hustete erbärmlich und Robert sah auch nicht gerade gesund aus. Allen schien es schlecht zu gehen, selbst Ivo schien sich zu verändern. Die Kinder benahmen sich nicht so, wie sich Kinder in ihrem Alter verhalten sollten. Sie krabbelten noch nicht und brabbelten wenig. Ständig schienen sie auf der Hut zu sein. Nur wenn Robert bei ihnen war, wurden sie wie kleine Kinder in diesem Alter. Wenn er weg war, waren sie stumm und bewegten sich nicht mehr. Erst wenn sie ihn wieder wahrnahmen, begannen sie sich zu ihm zu bewegen und lächelten. Das alles sagte sie Leon in der Werkstatt.
„Wie können wir es verantworten, diese Menschen in den sibirischen Winter zu jagen, sie ihrem Schicksal zu überlassen? Agnes und Erik haben uns aus der Gefangenschaft befreit, ohne uns zu kennen. Sie haben ihr eigenes Leben hinter unseres gestellt! Und jetzt machen wir hier auf kleinkariert und ducken uns. Wir selbst wurden verraten und nun sind wir nicht besser als die Leute, die uns verkauften. Leon, bitte, öffne dich!“, bat sie und kniete sich vor ihn. Leon blickte lange auf sie nieder. So hatte er Sainkoh noch nie erlebt. Sie schien ehrlich besorgt zu sein. „Sind wir anders als die Menschen, die uns verkauften? Sind wir so anders, als die Eumerier? Auch Sibir hat Waffen, schreckliche Waffen, mit denen sie ganze Kontinente in die Luft sprengen können. Ich habe es gestern erst aus den Medien erfahren, Leon, du warst dabei. Schick Robert und die Kinder nicht in den Sturm!“ Sie hielt ihn an den Händen und weinte in Erinnerung an ihre eigene Gefangenschaft und die glückliche Flucht.
„Ich werde es mir überlegen. Aber zuerst kommt unsere Sippe, dann erst eine andere. Wenn sie sich ruhig verhalten, können sie heute noch im Keller bleiben. Alles weitere dann am Abend. Ich muss zuerst dieses Fahrzeug reparieren“, brummte er schließlich.
Sainkoh stand gerade auf und wollte ihm danken, als ein goldenes Glühen ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Sie wurden geblendet als das Modul materialisierte. Es dauerte noch einige Minuten bis Agnes und Alex heraus krochen.
„Du meine Güte, ist es hier kalt“, sagte Alex und dann „ich hoffe, ich kann deine Kinder jetzt sehen. Sie müssen wahrlich ein Wunder sein.“
Dann kam Agnes nach und murmelte eine leise Verwünschung.
„Ja, ich habe es gemacht“, sagte Alex und grinste. Er war nur in eine Lederhose gekleidet, das Haar hing ihm bis zu den Hüften herunter und er grinste noch breiter, als er seine Schwester entdeckte. „Frag mal, was die alte Frau da drinnen gemacht hat“, sagte Agnes gerade und steckte den Kopf aus der Luke.
„Wo ist meine Familie?“, war das nächste, das sie fragte.
„Im Keller“, antwortete Sainkoh automatisch. „Alex, ich bin froh, dich zu sehen. Vielleicht kannst du jetzt etwas ändern.“
Alex sah seine Schwester und den Schwager ernst an. Er fuhr sich durchs Haar und reichte Agnes die Hand. „Komm wir gehen in den Keller“, sagte er nur. „Ihr beide kommt besser mit, hier wird es bald etwas ungemütlich werden.“

Zu viert verließen sie die Werkstatt und hatten kaum das Haus betreten als es eine gewaltige Explosion gab, die Werkstatt flog buchstäblich in die Luft. Die Druckwelle warf sie alle nach vor, hinein ins Haus. Da sagte Alex, schwer nach Atem ringend: „Es wird keine Reisen in die Vergangenheit mehr geben. Wir können nur unsere eigene Zukunft gestalten und versuchen so liebevoll zu leben wie wir es vermögen. Ich habe gedacht, den Glauben an die Menschen verloren zu haben, aber er ist noch da.“

Robert war durch den Lärm und die Erschütterung aufgeschreckt worden. Schnell packte er die Kinder zusammen und rannte die Treppe hoch.
„Agnes! Agnes! Mäuschen, du bist zurück! Schaut mal ihr lieben Häschen, die Mama ist wieder da. Ist das nicht schön?“, rief er und wusste nicht wohin mit sich und seiner Freude. Dann bemerkte er den Mann, der etwas mitgenommen, halbnackt hinter ihr stand. Sainkoh und Leon drückten sich an die Wand und starrten ihren Verwandten noch immer verwundet an. Alex schien verändert zu sein, stärker, sicherer in dem was er tat, auch wenn er schwer krank aussah.
Robert trat mit den Kindern im Arm vor und fragte unsicher: „Alex?“ Unsicher stand er mit seiner Last da und kam sich unwichtig vor. Dann stürmte Agnes vor und umarmte ihn und die Kinder. „Ich bin wieder da. Robert, du bist krank!“, rief sie erschrocken. „Habt ihr nicht auf meine Familie geachtet und wie furchtbar Brigitt hustet. Was ist nur los mit euch? Lasst ihr kleine Kinder im Keller frieren?“ Sie drehte sich zu Alex um, der nur noch starrte. Noch nie hatte er einen aus dem Untergrund gesehen. Endlich reagierte er und streckte die Hand nach ihm aus. „Ja, ich bin Alex und ich denke, ich werde dir etwas von deiner Last abnehmen. Wenn uns meine Schwester ein warmes Zimmer zur Verfügung stellt, werden wir das in den Griff bekommen und im Frühling von hier wegziehen. Nicht wahr, Schwester? Schwager? Ihr sagt nichts mehr dazu?“ Alex war ziemlich ärgerlich geworden, als sich die beiden nicht mehr äußerten. Der Schock der Explosion saß ihnen noch im Nacken und all ihre Hoffnungen auf eine Änderung schienen vernichtet. Da fuhr Alex versöhnlicher fort: „Ihr könnt die Zukunft nicht in der Vergangenheit ändern, das muss in der Gegenwart geschehen.“

Notgedrungen blieben sie den Winter über in Leons Haus und mit Beginn der Schneeschmelze zogen sie weiter. Irgendwohin, wo es einen Platz für sie gab, wo sie niemand kannte und es gleich war, woher sie kamen.

Bis zum Sommer hinein wanderten sie, dann kamen sie an ein halb verfallenes Dorf, in dem nur noch einige alte Menschen lebten, weil alle jungen in die Stadt gezogen waren. Hier richteten sie sich ein Haus ein und blieben zur Freude der Alten dort.

Ich habe in mich geblickt und es ist nicht so dunkel wie ich fürchtete.
Robert, Agnes, die Kinder, ich und die restliche Menschheit, wir sind alle Eins. Alle Kriege, die geführt werden, entspringen der Angst eines einzelnen und nehmen die Herzen der Menschen gefangen. Sie vernichten alles Gute, das in uns schlummert und hinterlassen nur Elend, Leid und Einsamkeit. Sie errichten Zäune, um sich vor den anderen zu verstecken, dabei wollen sie sich nur selbst nicht sehen.

Ich stehe vor unserem Haus und betrachte den Sonnenaufgang, Robert ist bei mir und Agnes. Brigitt winkt der Sonne zu und Ivo zaubert ihr Strahlen in unsere Herzen.

Wir sind eine sonderbare Familie und wir haben Zuwachs bekommen. Immer wieder wollen Leute wissen wie wir Leben und warum wir so leben – eine bunte Gemeinschaft, die sich in Liebe zugetan ist.

Die Menschen wollen sich nicht wirklich unterdrücken lassen. Langsam beginnen sie die Mauern in ihren Köpfen einzureißen, aber der Weg ist noch weit, es liegen ein ganzer Krieg und tausend Jahre Indoktrination dazwischen.

Nie werden wir die Menschen vergessen, die wir lieben.
Erik hat das Tor einen Spaltbreit geöffnet, wir halten es.

Endlich ist mein Glaube wieder da. Ich habe das Licht gesehen – Brigitt hat es mir gezeigt und Ivo hat gelacht, als er mit mir die Dunkelheit besuchte. Er ist wie sein Vater. Aber wer von uns hat nicht einen Killer in sich versteckt?

In all den Jahren der Verbannung habe ich gelernt, mich selbst zu lieben. Jetzt fühle ich mich endlich angekommen und aufgenommen, Agnes hat mich abgeholt und dorthin geführt, wo ich schon immer hin wollte und mit Robert habe ich mich selbst gefunden.
Was will ein Mensch mehr als Menschen die ihn lieben und die er liebt?

Die Zukunft lässt sich nicht in der Vergangenheit ändern. Wir müssen von der Geschichte lernen, damit wir nicht die selben Fehler machen. Wirken können wir nur in der Gegenwart, dann lässt sich die Zukunft ändern, auch wenn die Schritte nur klein sein mögen.



(c) Herta 1/2/2010

Man möge mir die Länge dieser Geschichte nachsehen, eigentlich sind es mehrere Geschichten *zwinker*

Liebe Grüße
Herta
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