Die REHA Whistleblowerin / Teil 1:
Wenn einer eine Reise macht, so hat er viel zu erzählen?So – oder so ähnlich – wurde es zu analogen Zeiten behauptet.
Kann man dies außerhalb von analogen Zeiten übertragen? In den REHA Bereich? Nein, nein, es geht hier nicht um erotische Beschreibungen der Kurschatten. Sich finden, heimlich mit dem Piccolo unter dem Arm in die kleinen Einzelzimmer der Angebeteten, die damals vermutlich der heutigen Größe eines Doppelzimmers entsprechen, zu verschwinden und sich mit noch intakten Hüften miteinander vergnügen – davon sind wir hier weit entfernt.
Ja, ich schreibe von wir. Wobei doch nur ich schreibe: Die „REHA Whistleblowerin“.
Der ungeschönte Blick hinter die Kulissen. Von modernisierten Speisesälen, deren maximaler Aufenthalt dort nicht einmal einer Halbzeit einer Fußballmannschaft vom Dorf entspricht. Den dort eingesetzten Thermoskannen mit Tee, die Erinnerungen an Schulausflüge in Jugendherbergen der 80er Jahre und früher wecken. Von Wandfliesen im Schwimmbad, die mit Gaffatape fixiert sind und kritisch beäugt werden.
Vom nicht Existierenden Freizeitangebot, was die momentan wenig mobilen Menschen aggressiv macht. Von Teilnehmern der Gesundheitswoche, die auch mit Gervais Pampe als Quarkspeise abgespeist werden. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Von Behandlungen, Nichtbehandlungen, von Liegewiesen, die man nur mit gesunden Knochen nutzen kann und von viel Frust. Viel Frust in der Luft.
Von schwarzem Humor als Überlebensstrategie, weil man hofft. „Aber morgen wird es besser. Ganz bestimmt.“
Von täglichen Abreisen von an Corona Erkrankten. (Was offiziell nicht kommuniziert wird)
Von Klatsch und Tratsch.
Und von den Menschen hier. Den alten, den jungen, den Egoisten und den Mitläufern.
Womit beginnen?
Wie wäre es mit dem Essen? Dazu kann jeder etwas sagen. Jeder kann darüber meckern. Und die ganz harten finden es lecker.
Wie soll ich es sagen? Im Krankenhaus machte ich die Erfahrung, dass eine Großküche lecker, heiß, abwechslungsreich und gesund kochen kann.
Wie kann ich denn nun erwarten, dass eine Klinik, die sich folgendes auf die Fahne schreibt, daran scheitert?
„Im modernen Ambiente bieten wir ein Speisenangebot an, welches den Anforderungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht.“
Aha.
Ich beginne mit dem modernen Ambiente: Im Souterrain befindlich, mit weißen Deckenholzpaneelen versehen, sind an Sechsertischen Plastikstühle mit rotem Kunstlederbezug gereiht. Die Kalttheke befindet sich an der linken Seite des Raums. Wer kennt noch die Kühltheken aus den 80er Jahren? Aus Holz, mit einer Kunststoffplatte versehen, die optisch Marmor oder Granitstein entsprechen soll, vegetiert sie heute manchmal noch in einer Dorfpizzeria oder der Gastronomie des Sportschützenvereins vor sich hin. Hier ist sie im Einsatz. Nennt man das Upcycling? Sparen? Sparen am falschen Ende? Oder „Hier wird nichts entsorgt?“
Ich kann es nur vermuten.
Großspurig wird das Mittagessen Menü genannt. Daraus lässt sich doch glatt interpretieren, dass es ein leckeres Süppchen, etwas Schmackhaftes auf dem Teller gibt, gefolgt von etwas Süßem. Für den süßen Gaumen.
Naiv.
Ich erinnere: „Bieten wir ein Speiseangebot an, welches den Anforderungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht.“
Nee, nee, ein Süppchen gibt es nicht. Das gibt es lauwarm am Samstag in Form von Eintopf. Ich sage nur: Lauwarme Hühnersuppe. Schüttel.
Also, das Süppchen gibt es definitiv nicht. Wer noch zwei funktionierende Beine hat, kann sich am Salatbuffet einen gemischten Salat als Beilage zusammenstellen. Man glaubt gar nicht, wie viele Salatteller auf einen Rollator passen und dann durch den Raum an den Sitzplatz geschoben werden.
Blöd ist es nur für Knie- und Hüftoperierte. Die verfügen theoretisch über wieder funktionierende Beine. Allerdings benötigen sie zur Benutzung dieser Unterarmgehhilfen. Unterarmgehhilfen = keine Arme frei = kein Salatteller zusammenstellbar.
Ein Blick in die oben erwähnte Kühltheke zeigt die bereits vorbereiteten Salatteller. Den bringen die Mitarbeiter den GehhilfennutzerInnen an den Platz. Egal, ob man Charme spielen lässt, verzweifelt ist, bettelt – es gibt keinen zweiten kleinen Salatteller. Warum diese Erwähnung so wichtig ist?
Ich erinnere: „Bieten wir ein Speiseangebot an, welches den Anforderungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht.“
Es gibt den Hauptgang. Wer daheim gesund und ohne Zusatzstoffe kocht, kann diesen kaum essen. Vergessen wir mal die lauwarme Hühnersuppe am Samstag, so denke ich an die anderen lauwarmen Gerichte. Meist mit Karotten oder Erbsen als Beilage (Notiz machend: Wer immer es wagt mich in den nächsten Jahren mit Karotten oder Erbsen zu bekochen oder in ein Restaurant einlädt, in dem es serviert wird, wird mit einer Strafe nicht unter xxx!!!!!) bestraft.
Was freute ich mich auf den angekündigten Tafelspitz. Zuletzt zu Weihnachten vor zwei Jahren gegönnt, fand er in einer großen Portionsgröße den Weg auf den angewärmten Teller. Serviert mit feinen Bouillonkartoffeln, einer schmackhaften Meerrettichsauce und hauchzarten Juliennestreifen von der Bundmöhre. Letztere ebenfalls in Bouillon gegart.
Meine Krücken schleppten mich an den Tisch. In meinem Kopf und meinen Lefzen gab es nur Visionen vom Tafelspitz. Mindestens eine 200g Fleischportion.
Kaum saß ich, wurde schon der Teller vom Servicepersonal „hingeknallt“. Als sollte mit dem Knall darauf hingewiesen werden, welch gutes Essen uns heute gekocht wurde. Irritiert schaute ich den Mischmasch auf den Teller an. Kartoffeln in Größe von weißen Bohnen? Gelbe Sauce? Es war ein Fehler ein größeres Stück Fleisch abzuschneiden. Ein Stück Fleisch, welches in drei Schnitten eh gegessen gewesen wäre. Nun konnte es nicht mehr dezent in der Serviette entsorgt werden.
WtF? WAS war das? Der Tafelspitz schwamm in einer Senfsauce, die wiederum neben einem Berg weiße Bohnen einen See bildete.
Ungenießbar.
Der zuvor eingesetzte Speichelfluss stoppte sofort, der verzweifelte Blick nach einer großen Serviette blieb verzweifelt und todesmutig schluckte ich diese tote Kreatur in undefinierbaren Beilagen herunter.
Den Teller schob ich beiseite. Mein Hunger war nicht gestillt. Der Appetit vergangen.
„Das hat Ihnen aber wirklich gut geschmeckt.“ meinte die Mitarbeiterin, als sie den Teller abräumte.
Wenn Du denkst, schlimmer geht es nicht, so spoilere ich: Es geht schlimmer.
Der Nachtisch wurde serviert. Der angekündigte Wackelpeter.
Soll ich erneut daran erinnern: „.. bieten wir…“
Ach nein, dieser Running Gag ist inzwischen ausgelutscht.
In der Schale befand sich rosafarbener Glibber. Todesmutig probierte ich eine Löffelspitze. Die Explosion an künstlichen Geschmacksstoffen und Süßungsmitteln verwirrten meinen Gaumen. Wasser. Viel und sofort! Ich muss nachspülen.
So schrie mein Körper innerlich.
Der Geschmack erinnerte mich an meine Kindheit in den 80er Jahren. Ich sah die längliche Kartonpackung förmlich vor mir und war fest davon überzeugt, dass diese schon vor Jahrzehnten vom Markt genommen worden wäre.
Tja, wer seine Fliesen im Schwimmbad mit Gaffaband klebt, verarbeitet im Rahmen der gesunden Ernährung auch günstige Restposten?
Nach diesem Erlebnis betrieben Patienten und ich Feldforschung, da es etliche andere Patienten gibt, denen es schmeckt. Die die Teller abschlecken, die Thermoskannen mit Kaffee bis auf den letzten Tropfen austrinken. Unsere ersten Ergebnisse können wir vorstellen. Wer daheim Essen auf Rädern bezieht oder nach dem Tod der Ehefrau plötzlich für sich selber kochen muss, empfindet das Essen als geschmackvoll, die Essenszeiten als ausreichend (in einen Rollator lassen sich ja noch genügend belegte Bütterkes für den späteren Abend verstecken) und findet es toll einen Speiseplan vorgesetzt zu bekommen.
Wer außerhalb dieser Zielgruppe lebt, schiebt Hunger oder schluckt und spült später mit einer Flasche Bier aus dem Automaten nach.
Für heute wurde ausreichend über Essen, „gesunde Ernährung“, Rollatoren und den Speisesaal geschrieben. Ich werde Euch nicht enttäuschen. Hier gibt es noch ausreichend Potential für mehr.
Allgemein viel Potential. Sicherheitshalber folgend eine Triggerwarnung: Nicht alles, was die Whistleblowerin von sich gibt, ist wertfrei. Es werden Menschen bewertet werden. Auf Begriffe wie Inzucht oder Bewertungen von egoistischen Rollatornutzern die Gehhilfenutzer von den Krücken holen, wird nicht verzichtet werden können.
Fortsetzung erwünscht?
Im Sinne der Psychohygiene wird sie sich nicht vermeiden lassen können.
Eure REHA Whistleblowerin.