Das Reisen in langsamen Zügen
Das Reisen in langsamen ZügenDie Schienen folgen der Landschaft. Dehnen sich an ihren Horizont. Messen sich mit ihrer Weite. Verlieren sich in denselben Unendlichkeiten.
In Bögen und Geraden folgen sie ihrer Bestimmung, als wären sie Natur.
Alles wird zu Übergängen.
Ein Fließen, nicht trennbar das Hier vom Dort. Wo endet Stadtrand, wann beginnt Landschaft? Ist alles Unbebaute, alles Weite Landschaft?
Die Äcker und Felder sind im strengen Sinne Kultur-Landschaft. Wo gibt es noch die wenigen Gebiete, wo der Mensch nicht gerodet, gepflügt und gepflanzt, nicht geschaffen, verändert, geformt hat? Selbt im Naturschutzgebiet hat er ja eingegriffen, um sich dann weiteres Eingreifen zu verbieten.
Zwischen den Städten, Dörfern, dem Kulturland also ein Rest Natur: Gebirge, wenige Wälder und Moore. Fließend die Grenzen.
Langsame Übergänge.
Übergänge im grauen Novembertag: wann war es noch Nachmittag, wann setzte das Dämmern ein, wann ging der Abend still in die Nacht?
Oder das Leben: wann endet Kindheit, wie lang war ich jung und wann
habe ich Alter zum ersten Mal empfunden?
Alles wird Reisen.
Den Bahnhof erkennt man, das Umsteigen setzt
die Zäsuren mit Namen und Zeiten, doch wann wechselte ich die Regionen? Bei welcher Biegung erreichen wir Franken, wo endet das Vogtland, und welche Zeichen setzt Thüringen vor Sachsen?
Es fließt und ich treibe wie trockenes Laub auf dem Fluss. Scheren mich die Namen der Ufer? Hindert eine Grenze meinen Weg?
Den Himmel haben sie noch nicht in Regionen geteilt, er bleibt mit seinem einzigen Namen für diese unendliche Ganzheit immer über mir.
Der Himmel ist die Konstante. Bei allen Reisen.
Ich verändere mich beim Reisen.
Zuhause dehne ich mich weit, lehne mich hinaus in die Welt oder lade das Fremde ein. Ich öffne mich, bereit zu empfangen.
Bin ich in der Fremde, schließe ich mich zu, wie eine Blume vor der Kühle der Nacht. Das Ich muss geschlossen in dieser Weite bleiben, das Ferne braucht als Gegensatz das Ganz-nah-bei-mir.
Das Ich als irdischer Spiegel des konstanten Himmels.
Meist ein ruhiges, gleichmäßiges Blau über mir, manchmal unterbrochen von vorüberziehenden Wolken.
Selten Vielfarbigkeit.
Dann aber am Abend der Lichtwechsel:
Sonnenuntergangsfarben wie üblich, doch für mich, aus meiner Landschaft ungewohnt, so noldeweit über den endlosen Horizont gezogen.
Und die Struktur der Wolken: über dem Halbrund der sinkenden Sonne erst klares Orange, dann Streifen von glattem Graubraun, gefolgt von kleinen Schäfchenwolken, orangerot, in dunkel gerollt wie Pralinen in Schokoglasur. Minuten später das gleiche Bild, nur in tiefere Tonart - Lila und Rot.
Licht-Abschiedssinfonie von Dur zu Moll.
Den Rahmen für diese Komposition bilden schieferfarbene Felder mit Hecken und Hainen als rhythmisches Auf und Ab in der Horizontlinie.
Ich bin auf der Suche nach Schönheit, wenn ich reise. Meine hungrigen Augen wandern ziellos.
Zuhause blende ich das Störende, Hässliche aus. In der Fremde muss ich das Unbekannte erst wahrnehmen, sehen, ungefiltert dringen die Bilder in mich ein. Vieles stört, ja schmerzt mein Auge.
Ich komme an Orte ohne jegliche Schönheit oder Charme.
Landschaft kann nicht enttäuschen.
Doch was der Mensch geschaffen hat, durchaus.
Ich zweifle, verzweifle oft, am Menschlichen. Immer wieder die Frage: Wie können Menschen das gewollt haben, wie können sie es zulassen, wie können sie in einer solchen Umgebung überleben? Warum schaffen sie keine Schönheit, wenigstens eine kleine?
Können sie nicht anders oder wollen sie nicht?
Wer prägt wen?
Ich suche Plätze garantierter Schönheit und werde so zum Touristen:
Schönsanierte Stadtteile, Schlösser, Museen. Homogenität ohne Brüche in einer Welt, die aus hässlichen Fragmenten zu bestehen scheint.
Auf Reisen fühle ich mich schnell verloren.
Wie ensteht dieses Gefühl?
Manchmal haben wir etwas schon lange nicht mehr, bevor wir wissen, dass es weg ist. Das Vermissen kommt erst, wenn wir merken, dass wir nicht daraufzurückgreifen können. Wir greifen in eine Leere, die vorher schon da war, aber unbemerkt.
Zeitverzögerte Wahrnehmung.
Vespätetes Vermissen.
Wie aber, wenn ich verloren bin? Als ob der verlorene Gegenstand spüren würde, dass er nicht mehr da ist, wo er hingehört. Nicht mehr an seinem angestammten Platz. Hat aber ein Gegenstand nur einen Platz? Vermisst er den alten oder nimmt er einfach den nächsten ein, ebenso gut der eine wie der andere?
Wenn ich verloren bin, vermisse ich meinen alten Platz, dem ich mich zugehörig fühlte.
Vermisse ich ein altes, anderes Ich?
Wer vermisst mich?
Ich fühle mich heimatlos in der Fremde. Kein Ort, der meine Spuren trägt. Kein Ort, der Spuren in meinem Leben hinterlassen hat. Kein Fadenende, an das ich anknüpfen kann.
So ist Heimat also das: Was Spuren bei mir hinterließ. Und das, was ich mitgestaltete. Also meine Spuren trägt. Mein Ich definiert.
Heimatlosigkeit als Ichverlust. Ich habe keine Identität für die Fremde. Sie merkt nicht, dass ich sie besuche, in ihr bin. Ich bin Niemand für die fremden Steine, Straßen, Räume, Menschen. Unsichtbar und spurlos.
Zurückgeworfen auf mich: Was macht mich aus?
Was gibt mir Platz und Spur wie die Schienen dem Zug, damit er seinen Weg gehen kann?
Ich suche Vertrautes: Gewohntes Essen, vergleichbare Orte in anderen Städten, im Museum Bilder geschätzter Maler, ich höre Musik, die ich liebe, meine Gedanken, meine Erinnerungen. Alles was zu meiner Geschichte gehört. Was mich prägt und mein Ich ausmacht.
Mein Ich ist auch mein Gepäck, das ich mit mir trage. In mir mitnehme.
Reisen heißt Wurzelsuchen im Entwurzeltsein.
Reisen heißt Gewohntes verlassen, um das Wichtige zu finden.
Reisen ist Bewegung, außen und innen.
©tangocleo 2010