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Der entscheidende Umschlag

********ster Frau
9 Beiträge
Themenersteller 
Der entscheidende Umschlag
Seit Jahren habe ich diesen Umschlag in meinem Schreibtisch, seit Jahren habe ich ihn vergessen. Aber ich weiß, dass jetzt der Moment ist wo ich ihn brauche. Die Zeit ist gekommen. Kalt hat mich der Anruf meiner Schwester erwischt. „Es geht Mama nicht gut, wir haben sie wird gerade ins Krankenhaus gebracht, komm“ Keine weiteren Fragen, Schuhe an, der Umschlag gleitet automatisch in meine Hand, einstecken, wegstecken, aber er brennt sich in meinem Kopf fest und los fahren. Gedanken jagen mir durch den Sinn. Was ist passiert, es schien doch alles gut zu sein. Sicher, die neuen Metastasen in Deiner Lunge haben uns alle geschockt, aber Du hast ihnen sofort die Zähne gezeigt. Hast der Ärztin vor 5 Tagen klar gemacht dass du nicht sterben wirst und einer neue Chemotherapie zugestimmt. War es zuviel für dich und deinen Körper? Heute morgen war doch alles noch okay als wir gemeinsam im Krankenhaus waren, als ich bei dir saß, während die blaue Flüssigkeit langsam in deinen Körper tropfte. Was ist bloß passiert? Der Arzt in der Notaufnahme macht uns schnell klar was los ist, die Zeit ist gekommen, die Zeit ist jetzt da. In deinem Gehirn sitzt ein Tumor der geschwollen ist und da kann keiner mehr was machen. Cortison damit es nicht mehr drückt, aber das schaffst du nicht mehr lange höre ich ihn, wie er versucht uns auf das Vorzubereiten was nun kommt.

Du bist gar nicht ansprechbar, bist schon ein Stück weiter gegangen auf dem Weg der dir bevorsteht. Und so begleiten wir dich durch das nächtliche Krankenhaus zu dem Zimmer, auf das du kommen sollst. Kannst du spüren wie ich deine Hand halte, sie streichele oder bist du schon zu weit weg? Erkundest du das was vor dir liegt?

Wieder ein anderer Arzt, der uns noch mal erklärt was passiert, in dir, was deinen Zustand verursacht. Der uns erklärt, dass sie versuchen den Tumor zum Abschwellen zu bekommen, damit der Druck im Gehirn nachlässt. Hoffnung? Hoffnung worauf? Nein die kann er uns nicht geben, trotz seiner ruhigen Stimme, seiner einfühlsamen Worte. Realität trifft uns mit seinen Worten, mehr können wir nicht mehr machen, Realität, dass wir jetzt die letzte Zeit zu gehen haben. Eiskalt wird es in dem Arztzimmer als er uns die Frage stellt „Was sollen wir machen, wenn es soweit ist. Möchten sie das wir reanimieren und weitere Schritte einleiten?“ Es ist wie ein Dammbruch, Tränen laufen aus mir raus, wie kleine Sturzbäche.

Kalte Realität, kein Ausweg mehr, keine Flucht mehr in die Hoffnung. Es brennt in meiner Handtasche, er will raus, seine Zeit ist gekommen. Der eine Umschlag der mich zwingt zu handeln und zu entscheiden. Der Umschlag den du mir vor so vielen Jahren gegeben hast, voller Hoffnung und Zuversicht, dass ich es richtig machen werde. Aber was ist richtig? Du kannst es mir doch nicht sagen, ich kann dich nicht fragen.

Ich greife ihn, nehme das Blatt raus und gebe es dem Arzt, das Blatt mit deiner Vollmacht. Das Blatt, dass festlegt, dass ich entscheiden soll wenn du es nicht mehr kannst. Das Blatt, dass dein Leben in meine Hände legt. „Sag was“ flehe ich meine Schwester an. Aber wir sind uns einig, wir wissen was jetzt ausgesprochen werden muss. Ich höre mich selber sagen „Nein, es wird nicht reanimiert, es werden keine Maschinen angeschlossen und keine Lebensverlängernde Maßnahmen“ So kalt hört sich meine Stimme an, so kalt das was sie ausdrücken. Und doch das wärmste was ich je für dich getan habe. Mag mich das, was ich gerade ausgesprochen habe auch erschlagen, das schlimmste sein, was ich je getan habe. Ich weiß es ist das, was du jetzt von mir erwartest. Das zu tragen, es auszusprechen und mich dafür einzusetzen. Dafür zu kämpfen. Egal woher die Kraft kommt. Für diesen Moment hast du mir diesen verdammten Umschlag gegeben, mir eine Macht übertragen die ich gar nicht haben möchte, die mich nach unten reißt. Habe ich gerade über deinen Tod entschieden? Dich selbst zu Schlachtbank gefahren? Kein Mensch sollte über das Leben eines Anderen entscheiden und doch hast du genau das von mir eingefordert.
Und ich habe entschieden für dich, für mich für uns.
*******day Frau
14.272 Beiträge
Liebes,

woher weißt Du, was in meinem Umschlag steht? Es ist keine Entscheidung über das Leben, sondern über die Art des Todes. Und deswegen finde ich die Formulierung

für dich

sehr richtig.

Liebe Grüße

Sylvie *sonne*
sehr ergreifend beschrieben und klug, fast weise, betrachtet.

Manchmal ist das Übernehmen einer solchen gewaltigen Verantwortung der letzte große Liebesdienst, den wir einem nahem Menschen erweisen können. Und müssen!

Danke! *g*
Wirklich
ergreifend geschrieben!
Ich hätte solche Briefe die letzten zwei Jahre auch brauchen können.
Zumindest bei meiner Mutter. Da lief im Krankenhaus aber auch alles schief, was schief laufen kann, menschlich wie medizinisch.
Bei meinem Vater genau umgekehrt, obwohl er lange hat kämpfen müssen und dann doch gestorben ist. Doch durch die Liebe und Aufmerksamkeit, die er und wir durch Ärtzte und Pflegepersonal erfahren durften, erlebten wir eine ganz seltsame Mischung aus Trauer und Ehrfurcht gleichzeitig.

Danke, dass Du uns an diesen doch sehr persönliche Gefühlen teilhaben lässt!

Olaf
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