Der weiße Raum
Lustige Stimmen fliegen an der geschlossenen Tür vorbei. Eilige Schritte, schlurfende Schritte, ein Kinderlachen so nah und doch so weit entfernt. Geräusche wie aus einer anderer Welt. Eine Welt voller Hoffnung und Zuversicht, Menschen mit Zielen, die versuchen diese zu erreichen. Ganz weit weg von mir, von meiner Welt die sich beschränkt auf diesen weißen Raum. Und noch viel weiter weg von Dir, wo immer Du gerade sein magst. Hoffnung, Zuversicht und ein Ziel gibt es in diesem Raum nicht, das bleibt alles vor der Tür, die so fest verschlossen scheint.Nur selten öffnest Du Deine Augen, für einen kurzen Moment so als ob Du kurz kontrollierst ob wir noch bei Dir sind. Oder kontrollierst Du ob Du endlich alleine bist? Ob wir Dich loslassen können, das was Dir bevor steht akzeptieren können?
Seit drei Tagen sitze ich an Deinem Bett. Ich habe Dir so viel erzählt – in Gedanken - denn ich bin mir sicher sie erreichen Dich. Ich habe Deine Hand gehalten und sie auch wieder losgelassen. Du sollst wissen ich lasse Dich los, wenn es an der Zeit ist, ich will mich nicht festkrallen an Dir, will Dir Deinen Weg nicht erschweren. Es bereitet mir Schmerzen Dich am Abend zu verlassen, Du sollst nicht das Gefühl haben, dass wir Dich alleine lassen. Und doch tu ich es, wissend dass Du auch Zeit für Dich brauchst. Zeit in der Du unsere Trauer nicht spüren musst, die uns gefangen genommen hat. Immer wieder laufen stummen Tränen, sammeln sich im Augenwinkel und fließen über die Wange, tropfen auf Deine Decke, lassen sich nicht bremsen oder aufhalten.
Sie waren alle da, immer wieder, um bei Dir zu sein. Gemeinsam haben wir uns gehalten, gemeinsam haben wir in unseren Tränen wieder zueinandergefunden. Wie ein Mauer stehen wir, alle Streitereien vergessen, alle Ablehnung verschoben. Wie eine Mauer schützen wir Deinen Raum. Die Schwestern kommen nur noch um uns Kaffee zu bringen, sie wissen, dass sie für alles andere nicht gebraucht werden – das unser kleines Familien-System perfekt funktioniert. Die Zeit zieht sich so langsam und doch ist jede Sekunde ein Geschenk und jede Sekunde ist eine Qual.
Und doch haben wir geplant, haben uns vorbereitet, haben für Dich alles vorbereitet, denn dieser weiße Raum soll nicht Dein Ende sein. Weiße Räume magst Du nicht. Du magst Leben, Du magst Blumen und magst Farben und Du liebst Deine Kinder und Deine Familie. Das wissen wir. Gemeinsam sind wir bereit für Dich, dass Du wieder Farbe und Leben spüren kannst, wenn Du es möchtest. Drei Tage haben wir den weißen Raum ertragen, diesen Raum ohne Hoffnung, ohne Zuversicht und ohne Ziel. Drei Tage haben die Ärzte gesagt, die haben wir durchgestanden. „Nein sie muß bis morgen bei uns bleiben, da kommt der Chefarzt, der möchte gerne einen Blick auf Ihre Mutter werfen“ hör ich die Stationsärztin. Nein, Du brauchst keinen Chefarzt mehr der Dich beguckt – Du brauchst jetzt Deine Familie, Du brauchst jetzt Deine Farben und Du brauchst jetzt uns. Wie weise Du warst, als Du mir diesen verdammten Umschlag anvertraut hast, den ich jetzt der Ärztin unter die Nase halte und sie auffordere den Krankentransport umgehend zu bestellen.
Wir sind bereit für Dich, bereit für Deinen Weg den wir jetzt gehen werden. Du kommst nach Hause, in unsere Mitte, denn Du bist doch unsere Mitte. Hast immer alles für uns gegeben – jetzt ist unsere Zeit Dir alles zu geben.
Wir haben Dir immer wieder gesagt, dass Du jetzt nach Hause kommst, nur noch eine kurze Fahrt im Krankenwagen, dem ich jetzt so aufgeregt hinterherfahre. Es ist geschafft – wir haben den Weißen Raum verlassen. Endlich ist wieder Platz für Glück, Hoffnung und Zuversicht. Es ist ein windiger Tag auch wenn die Sonne scheint. Die Sanitäter greifen die Liege um Dich nach Hause – ins Haus zu bringen.
„Endlich frische Luft“ höre ich Dich sagen, nach drei Tagen Stille, nach drei Tagen in dem weißen Raum.