Visualisieren
Angst kriecht in jede Pore seines Körpers. Angst davor, irgendwann sein Leben nicht mehr steuern zu können.
Angst davor, irgendwann hilflos gegenüber seinen Erkrankungen zu sein.
Angst davor, irgendwann aus den festen Strukturen, die ihn halten, heraus zu fallen.
In das Nirgendwo.
In das Nirgendwann.
In das Nirgendwie.
Wie sieht der Weg dahin aus?
Was passiert auf dem Weg bis dahin?
Welche Warnsignale sendet der Körper, dass er sich schon auf diesem Weg befindet?
Und was signalisiert seine Seele in der Zeit, in der er diesen Weg schon beschreitet?
Aus diesen Fragen heraus entstehen neue Fragen?
Was ist noch wichtig in seinem Leben?
Wofür lohnt es sich noch, immer wieder neu gegen die Widrigkeiten des Lebens anzugehen?
Was würde denn passieren, wenn die Halt gebenden Strukturen plötzlich erodieren?
Was würde denn passieren, wenn er plötzlich seine Aufgaben nicht mehr wahrnimmt und nur noch vor sich hin lebt?
Andere Frage, wen würde es stören?
Es sind verstörende Fragen, die ihn umtreiben.
Fragen, die nach einer Antwort verlangen.
Wie viel Halt braucht er denn wirklich noch?
Wie viel Freiheit, Lockerheit, Spontanität kann er leben, ohne aus den gewohnten Strukturen zu brechen?
Visualisieren wir doch mal den Worstcase!
Der Wecker darf sich früh austoben mit seinem Piepen.
Irgendwann hört er auf zu nerven.
Umdrehen, weiter schlafen.
Das Telefon ist eh auf lautlos geschaltet.
Irgendwann am Vormittag aufstehen.
Der Vorrat an Nahrungsmitteln reicht für etwa eine Woche.
So lange kann er in seiner Wohnung bleiben.
Ohne irgendjemanden zu sehen.
Ohne irgendjemanden zu hören.
Ohne mit irgendjemandem zu reden.
Ganz allein, nur mit sich selber.
Die Telefone bleiben aus.
Waschen, Körperpflege, die Wohnung sauber halten.
Alles unwichtig, Teller und Besteck sind genug vorhanden.
Alles ist ihm egal.
Ein Laufen zwischen Bett, Küche und Bad.
Im Schlafanzug oder nackt.
Surfen im Internet, vielleicht Lesen oder einfach nur gar nichts tun.
Sich gehen lassen.
Lallen nach dem fünften Bier.
Alles egal.
Irgendwann wird irgendjemand bei ihm klingeln.
Irgendwann wird sich irgendjemand um ihn kümmern.
Irgendwann!
Nicht heute und vielleicht auch nicht morgen und wer weiß ob übermorgen.
So lange schlurft er im inzwischen bekleckerten Schlafanzug zwischen Bett, Bad und Küche hin und her.
Im Abwasch türmt sich das Geschirr.
Er selber beginnt langsam zu müffeln.
Die Luft in den Räumen ist abgestanden.
Denn er hat seit Tagen nicht gelüftet.
Alles ist ihm egal.
So langsam gehen ihm ab dem 5. Tag die ersten Vorräte aus.
Online bestellen.
Abstellen lassen vor der Wohnungstür.
Erst in die Wohnung holen, wenn der Lieferant gegangen ist.
Denn er will immer noch niemanden sehen oder hören.
Was passiert, wenn er diesen Weg geht?
Was verändert sich?
In ihm, mit ihm?
In seinem Leben?
Wie weit ist dieser Weg des Ignorierens bisheriger Abläufe für ihn gehbar?
Wann schaltet sich die Umwelt ein?
Wann wird Hilfe angeboten und wie wird diese Hilfe aussehen?
In seinem Visualisieren verschwimmen Grenzen, das klare und von Vernunft gesteuerte Verhalten löst sich auf.
Seine Wahrnehmung wird diffus.
Eine spannende Erfahrung.
Wie weit ist ein „Sich gehen lassen“ möglich?
Wo beginnt Verwahrlosung?
Ab wann sinkt er so tief, dass er allein nicht mehr aus diesem Verhalten, diesem einfach sich nur treiben lassen heraus kommt?
Doch die entscheidende Frage bricht sich jetzt Bahn: will er sich so gehen lassen?
Will er sich bewusst und freiwillig so weit aus den ihm Halt gebenden Strukturen lösen, dass er die Kontrolle über sein Leben verliert?
Cut!
Aufwachen aus dem Visualisieren.
Luft holen.
Am offenen Fenster.
Und diese Vision verwerfen.
Denn noch hat er die Energie dafür, sein Leben selber zu steuern.
Und das darf gerne noch lange so bleiben.
Doch was irgendwann einmal ist, bleibt offen.
Deshalb war dieses Visualisieren sinnvoll.
Was irgendwann einmal passiert, wie der Weg dahin ist und welche Auswirkungen seine Erkrankungen haben, das will er heute noch gar nicht wissen.