Das neunte Türchen
Das war ja eine wilde Tipperei dieses Mal. Ich hab den Überblick verloren, darum verrate ich hiermit die Autorin, gut dass ich nicht für die Punkte zuständig bin. Vielen Dank liebe
@*********ld63 für diese schöne Geschichte.
Die heutige Geschichte hat es in sich. Für mich ein sehr schweres Thema. Da fallen mir tatsächlich kaum einleitende Worte ein. Nur so viel.
Und am Ende….
…wenn du das Wasser rauschen hörst…
Der Weihnachtsbaum. Ein verwunschenes Relikt aus einer Welt, in der ich nicht mehr lebe. Ich mochte Weihnachtsbäume nie. Sie stehen für Glitzer, Glamour, Fadenscheinigkeit und Lüge. Heile Welt innen, Krieg, Hunger, Verrat und Hinterlist außen. Es ist falsch, denke ich. Die glitzernden Kugeln könnte ich mir noch als Sonnensystem oder Planeten vorstellen. Die Schokoladenfiguren sind ein Witz. Sie sollen gepflückt und verspeist werden. Aber von wem, von mir? Lächerlich. Ich bin gelähmt und sitze halb, halb liege ich in meinem Krankenbett, in einer unmöglichen 45 Grad Position. Die Spitze des Baumes. Sie symbolisiert den weisenden Stern. Ja ja. Der zum Kindlein geführt hat. Na klar. Maria. Unbefleckte Empfängnis. Sind die Menschen eigentlich alle verblödet? Wer glaubt den Blödsinn? Weihnachten… was feiern die Christen? Die Geburt des Heilands? Sohn Gottes? Ach herrje, so war das… wenn man an den Heiland glaubt, muss man zwangsläufig auch an Gott glauben. Der Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat? Der durch brennende Büsche spricht? Der ÜBERHAUPF (nicht) spricht? Der Gott, der sein Werk in Kriegen allein lässt? Der Kinder verhungern lässt, während sich die Popen die Bäuche vollschlagen und Unzucht mit Messdienern treiben? DER Gott? Aha. Krasser Typ.
Meine Welt besteht aus Gedanken. Aus Gerüchen, meistens schlechtem Essen und der feinen Note, wenn der Stoma-Beutel gewechselt wird. Meine Welt ist die Fantasie, schließe ich die Augen und der grausamen Realität, öffne ich sie. Und an Weihnachten sehe ich immer wieder diesen bescheuerten Baum. Für mich verkörpert er die ganze Verlogenheit der Welt. Er ist aus Kunststoff und riecht nicht einmal. Jedes Jahr fehlt ein wenig mehr. Hier und da eine Kugel, die durch eine ersetzt wird, die nicht ins Ensemble passt. Und früher war mehr Lametta. Aber das macht nichts, ich hasse Lametta. Sieht aus wie goldenes Geheule des sterbenden Baumes. Naja, dieser ist aus Plaste. Die Neuigkeit dieses Jahr ist die Beleuchtung. Früher waren es noch richtige Kerzen. Dann die Glühlampen. Dann kleine Lämpchen. Dafür viele. Jetzt sind die bunt und blinken wie die der verdummten Amis. Ich hasse den Scheiß.
Schwester Christa rauscht herein. Natürlich ohne zu klopfen. Aber ist ja egal… das letzte Mal, dass mich jemand mit den Händen im Schritt erwischt hat… ist 25 Jahre her. Christa war bestimmt einmal hübsch. Wohl auch vor 25 Jahren. Aber es ist schwer, aus Leidenschaft für Menschen da zu sein, während unbemerkt wie ein schleichender Teufel Zuhause das soziale Umfeld wegbricht, weil man mehr Zeit im Heim verbringt, als daheim. Sie ist dürr. Ihre Beine gleichen Streichhölzern, ihr Oberkörper ist flach wie die Sierra Leone. Das ist nicht so schlimm, das könnte man ändern. Aber ihre Augen... sie hat viel gesehen. Unendliches Leid spiegelt sich darin und dennoch tut sie hier Dienst. Weil sie es will? Vielleicht. Eher weil sie es muss. Rechnungen… Miete, Strom, Heizung. Und wie jedes Jahr eine endlose Wunschliste der Angehörigen. Woher ich das weiß? Sie redet. Immer. Weil sie weiß, dass ich nicht antworten kann. Oder weil sie ahnt, dass ich nur einen einzigen Wunsch habe. Zieh endlich den Stecker, verdammt.
Jetzt fängt sie wieder an. Eigentlich… ist es ein Selbstgespräch.
"... der verdammte Schwager mir mal wieder erzählt, dass Mama zu viel Käse isst. Was soll das, Mama wird 90, da kann sie so viel Käse...."
Schätzelein, du hast Sorgen... hau deinem Schwager einfach aufs Maul. Was will er denn machen?
"... und der Vermieter ist auch so ein Aas, steht der auf einmal im Flur. Ich frage, woher er den Schlüssel hat, und der Penner sagt, als Vermieter und Eigentümer hätte er das Recht, nachzuschauen...."
Vermutlich hat Christa keine Freunde, die dem Waldschrat mal den rechten Weg zeigen.
Christa zieht meine Hosen samt Vorlage herunter. Ziemlich ruppig, so als wäre ich schuld an ihrer Misere. Dann wäscht sie mich. Es gab Zeiten, da hätte ich die Berührungen einer Frau dort als angenehm und stimulierend empfunden. Aber das ist lange vorbei. Pampers hoch, Schlüppi drüber, Hose. Sie greift nach dem Rasierer, jetzt wird es fies. Woher soll Schwester Christa wissen, dass die Rotorblätter seit Monaten stumpf sind und es einfach weh tut, wenn sie mir mit dem Ding wie ein Berserker durchs Gesicht fährt?
"... mein Sohn die Schlampe sogar geheiratet. Unfassbar, wie blöd die ist und er merkt es nicht. Manchmal glaube ich, der ist nicht von mir...." Schwester Christa quatscht ohne Punkt und Komma. Meine Güte, halt jetzt die Klappe, denke ich. Du denkst, du hast Probleme? Meine Ohren jucken und ich kann es keinem sagen. Mein Rücken schmerzt und ich kann es keinem sagen. Ich will den Idioten von Gottschalk nicht, nie und nie wieder im Fernsehen ertragen müssen. Ich hasse Tatort, ich mag weder Polizeibericht, noch Leben im Brennpunkt, Trödeltrupp, Nackt im Wald oder Big Brother. Dieser infantile, minderwertige Scheißdreck ist nichts für mich. Aber egal, wer hereinkommt, stellt ungefragt das Programm ein, das ihm oder ihr gefällt, macht kurze Pflege oder noch schlimmer: füttern wie ein Kleinkind , dabei eher mit der Sendung als mit mir beschäftigt, und verschwindet wieder. Ich mag aber Tiersendungen. Oder Sendungen über das Entstehen des Universums. Ich mag Verschwörungstheorien über antike Ufos oder Kennedys Ermordung. Aber niemand nimmt mich mehr wahr. Ich bin ein Stück Pflegefleisch. Ein Unseliger, der nur kreist um sich selbst. Noch im Leben wird er dem Ruf nachseh`n und doppelt sterbend untergeh`n… unbeweint, ungeehrt und unbesungen. Sir Walter Scott. Der Schöpfer von Ivanhoe, der wusste Bescheid.
Übermorgen ist Sonntag. Die Tochter kommt. So 35 Minuten. Sie erzählt mir etwas aus der Familie. Der dritte Mann funktioniert auch nicht. Sie hat drei Kinder, von jedem der Versager eines. Connor, Colin und Clayton. Nein, sie ist keine Britin. Warum tut man das Kindern an? Mal ihren doch gleich eine Zielscheibe auf den Rücken. Aber ich höre kaum hin. Meine Gedanken sind bei meiner Tochter, als sie klein war. Als sie auf meinem Arm war, mir über den Bart streichelte und sagte: "Papa sooooo lieb". Ich hatte ihr einen Alf geschenkt in Originalgröße. Der war größer als sie selbst. Sie hatte ihn sich gewünscht. Die Mama und die beiden Omas schenkten Püppchen, eine Holzküche, Plastikschmuck und bekloppte rosa Kleidchen. Niemand hört Kindern zu, was sie sich wünschen. Und uns Alten hört auch keiner mehr zu. Diese Gedanken machen mich kurz glücklich, aber es sind immer dieselben. Ich möchte das nicht mehr. Ich möchte weg. Ich habe meinen Frieden gemacht mit Familie, Freunden, Gott und der Welt. Ich stehe in niemandes S Schuld. Ich bin fertig hier. Ich bin unnütz und belaste das System, die Kassen und ich falle meinen Leuten und dem Pflegepersonal auf den Wecker. Ich will nicht mehr. Niemand versteht das. Wie auch. Ich möchte aufgehen wie ein Tropfen im Ozean. An höhere Mächte zu glauben fällt schwer bei all dem Elend auf der Welt. So bitte... großes Universum… hilf mir. Mach das Herze leicht. Leicht und langsam. Lass das Blut langsamer fließen... Ja. Das Licht wird dunkler… Schwester Christas Stimme klingt, als hätte sie Watte vor dem Mund. Die Rückenschmerzen sind weg. Es riecht plötzlich nach einer grünen Wiese, nach Blumen und Wasser. Ja, ich höre Wasser rauschen. Wie schön...
Ich höre die Schwester um Hilfe rufen, sie ist aufgeregt und beinahe hysterisch. Komm Schwester, lass mich. Wohin ich jetzt gehe, ist alles besser als hier. Verstehst du das nicht? Es wird dunkler. Und ich bin ganz leicht. Ich kann fliegen...