Das zweite Türchen
alle, die auf
@*********cht76 gesetzt haben, dürfen sich freuen, alle anderen, hier kommt die nächste Chance.
Die heutige Geschichte erzählt uns von der Bürokratie des Sterbens. Oder anders formuliert, wie komme ich an den Antrag 304 der Sterbebewilligungsverordnung mit der Anlage 304-B – Begründung des Ablebens?
Sterbegenehmigung
Der 99-jährige, der aus dem Leben schied, um zu erkennen, dass das auch keine gute Idee war
Toll. Der Weihnachtsbaum geschmückt, die Wohnung aufgeräumt, leckeres Gebäck im Ofen – Otto erwartete Kinder und Enkel zum Weihnachtsbesuch. Er war ein bisschen stolz darauf, dass er mit seinen 99 Lebensjahren noch in der Lage war, ein solches Fest zu organisieren. Zwar fiel es ihm von Jahr zu Jahr schwerer, aber er wollte es sich nicht nehmen lassen, die gute, alte Tradition im Stammhaus der Familie zu pflegen. Die russische Haushaltshilfe hatte er mit einem satten Weihnachtsgeld nachhause zu ihren Kindern geschickt. Er wollte den Moment der 'Ruhe vor dem Sturm' in seinem alten Ohrensessel genießen.
Hell. Wie er da so saß, wurde das Licht um ihn herum immer heller. Sehstörungen, dachte er, nicht ungewöhnlich in dem Alter. Bald blinzelte er gegen das grelle Licht an, bis er nur noch ein weißes Rauschen wahrnahm. Er fühlte sich verloren, bis sich das Weiß endlich zu einem Tunnel formte. Es erklangen himmlische Gesänge, wie von tausend Kinderchören. Otto wurde klar: Ich sterbe.
Blöd. Ausgerechnet an Weihnachten. Gerne hätte er Kinder und Enkel nochmal in seine Arme geschlossen. Doch hier war kein Platz für Trauer. Schnell wuchs die Freude, dass es endlich so weit war. 99 Jahre auf dieser Welt sind schließlich genug. Schon mehrmals in seinem Leben hatte er daran gedacht, dass es gut wäre, zu sterben. Damals, als ihm, als 15-jährigem Teenager, Granaten um die Ohren flogen und Kameraden direkt neben ihm starben. Damals, als seine geliebte Mutter starb. Damals, als ihn eine finanzielle Krise erfasste, die seine Existenz bedrohte. Damals, als seine geliebte Berta starb. Damals, als ihm der erste Schlaganfall sowie ein darauf folgender Infarkt das Leben schwer machten. In den letzten Jahren immer wieder, wenn er die Zeitung aufschlug, um erneut von Kriegen, Krisen und Inflation zu lesen. Vor kurzem, als es wieder salonfähig wurde, von einer kriegsfähigen Armee zu reden und rechte Tendenzen enorme Erfolge feiern.
Ja. Es war gut zu gehen. Frohen Mutes und ohne Rückenschmerzen erhob er sich aus seinem Sessel und ging dem Licht entgegen. Die Chöre erklangen. Der Tunnel hatte Fenster, durch die er bunte Landschaften erblickte, die, in Regenbogenfarben und mit viel Weichzeichner, Szenen seines vergangenen Lebens zeigten. Er kam zu einem riesigen Portal, welches glitzerte wie ein unruhiger See im diffusen Licht der Morgensonne. Daneben stand ein Schreibtisch, an dem ein mürrisch blickender Engel endlose Texte in ein Terminal eintippte.
Otto räusperte sich: „Komme ich da jetzt rein? Ist hier die Himmelspforte?“
Der Engel blickte nicht auf: „Name?“
„Otto.“
„Otto, wer?“
„Otto Weidenzahl, geboren 1924 in Bückeburg. Verwitwet, drei Kinder, sieben Enkel.“
„Sind Sie angemeldet?“
„Nein, ich hatte meinen Tod nicht geplant.“
Otto hatte sich den Vorgang etwas feierlicher vorgestellt.
„Überraschender Tod also“, murmelte der Engel und drückte die Enter-Taste:
„Dann brauchen Sie den Antrag 304 der Sterbebewilligungsverordnung mit der Anlage 304-B – Begründung des Ablebens.“
„Aha“, meinte Otto überrascht, „und wo bekomme ich diesen Antrag?“
„Haben Sie wahrscheinlich übersehen, ich habe der Leitung schon mehrmals gesagt, dass Licht ist viel zu hell hier, da übersehen die meisten Himmelsanwärter die Vor- und Wartezimmer. Richtig?“
„Richtig“, antwortete Otto, leicht pikiert: „Ich habe nur blühende Landschaften gesehen.“
Der mürrische Engel lächelte erstmals, wenn auch eher spöttisch, und redete fröhlich weiter, mit einer abwinkenden Bewegung seiner linken Hand:
„Die Bilder, ja ja. Alles nur Firlefanz, um den Sterbenden den Übertritt schmackhaft zu machen.“
Otto s Blick wanderte genervt nach oben.
„Trösten Sie sich“, wollte der Engel helfen, „Sie sind nicht der erste, der hier völlig ahnungslos ankommt.“
„Natürlich“, polterte Otto, „so oft stirbt man ja auch nicht, da mangelt es halt an Erfahrung!“
„Auch wieder wahr“, entgegnete der Engel und lachte hysterisch, „aber sie glauben gar nicht, wie viele Anwärter schon mehrmals da waren.“
Diese Aussage machte Otto wenig Mut.
Zurück. Otto musste zurück. Nicht den ganzen Weg bis zu seinem Sessel, den er ganz weit in der Ferne, wie bei einem entfernten Blick auf eine Puppenstube, im Miniformat erblicken konnte. Gestochen scharf übrigens, ganz ohne Brille, die Otto auf dem Beistelltischchen neben seinem geliebten Sessel erkennen konnte. Otto freute sich über seine neue, alte Sehkraft und schmunzelte zufrieden.
Endlich erreichte er das richtige Vorzimmer, an dem ein Schild klebte mit den Buchstaben M-N-O. Er sollte sich bei O melden, Nachnamen zählten hier nur zweitrangig.
„Guten Tag. Ich bin's, der Otto.“
„Habe die Ehre, Otto“, wurde er von einem Mann begrüßt, der hinter seiner Theke stehend, aussah wie ein klassisches Abbild des Croupiers am Roulettetisch. Schwarze Weste, weißes Hemd, graue Fliege am eng geschlossenen Hemdkragen.
„Ich brauche den Antrag 304 der Sterbebewilligungsverordnung mit der Anlage 304-B – Begründung des Ablebens ...“
„Kann ich Ihnen gerne geben, aber zuerst brauche ich von Ihnen die Anlage 304-A – Art des Ablebens.“ Der Croupier grinste breit, freundlich und beinahe süß: „Otto!“
„Und wo bekomme ich die Anlage 304-A – Art des Ablebens, mein Lieber?“ Otto schaute dem Mann provozierend tief in die Augen.
Dieser antwortete prompt:
„Gegenüber in den Fahrstuhl, runter zu den Katakomben ins dritte Kellergeschoss und beim medizinisch-morbiden Dienst melden.“ Starr erwiderte der Mann Ottos eisernen Blick: „Gehab' Dich wohl, Otto!“
Runter. Ohne Anzuklopfen betrat Otto den Raum des medizinisch-morbiden Dienstes. Er wurde erwartet von einer Frau im weißen, viel zu kurzen Kittel. Durch den dünnen Stoff bildeten sich die üppigen Kurven der Amtsärztin ab, die das verstaubte Sündenzentrum in Ottos Seele in hektische Schnappatmung versetzte. Sie begann zu reden, der Akzent erinnerte Otto an seine Kriegsgefangenschaft in der Normandie.
„Meine Junge, Du willst sterben. Richtig?“
„Eigentlich dachte ich, ich wäre schon tot“, stotterte Otto.
„Schauen wir mal. Mach Dich frei“, befahl die Dame Otto, der sofort an seinem Gürtel zerrte. „nur oben rum“, ergänzte sie kokett grinsend.
Die Ärztin hörte ihn ab. Fühlte den Puls. Lauschte der Atmung. Klopfte den Rücken ab. Testete die Reflexe am Knie. Drückte die Hände am Ende der überkreuzten Arme.
„Ausgerechnet an Weihnachten“, schüttelte sie mitfühlend den Kopf, „klarer Fall: Du bist tot. Mausetot.“
„Danke“, seufzte Otto. Er freute sich, dem Himmel ein Stück näher zu sein.
„Anlage 304-A – Art des Ablebens, kann ich Dir gerne ausfüllen, Otto. Aber Du bist 99 Jahre alt geworden. Da stirbt man nicht mehr einfach so. Die himmlische Verwaltung hat vor vier Jahren verfügt, alle Anwärter über 85 auf den psychischen Grund des Ablebens zu untersuchen.“ Die Ärztin schaute Otto traurig ins Gesicht und legte ihm ihre Hand tröstend auf sein Knie. Otto stöhnte erschöpft auf. „Tut mir leid, Otto. Scheinbar will man oben keine Altersdepressiven haben. Du brauchst noch Anlage 304-G – Grund des Ablebens.“
Sie füllte ihm das Formular 304-A aus, unterschrieb es und stempelte es ab. Er bekam zusätzlich eine Überweisung zum psychopathologischen Dienst.
Rüber. Der psychopathologische Dienst befand im Zimmer nebenan. Darin lag man als Sterbewilliger auf der Couch. Der Analytiker schlief sitzend im Sessel. Irgendwann weckte ihn Otto. Sich langsam öffnende Schildkrötenaugen in einem Gesicht, das zu weiten Teilen aus wirr vom Kopf abstehenden, weißen Haaren bestand und von einem grauen Bart eingerahmt wurde, blickten Otto fragend an:
„Anlage 304-G – Grund des Ablebens? Kannst Du haben. Sollen die da oben sich doch mit den vielen Verrückten rumschlagen!“ Er kicherte albern, als er Ottos Formular ausfüllte.
Hoch. Bald stand Otto wieder vor dem Zimmer M-N-O. Die Tür war verschlossen. Alle Türen waren verschlossen, egal welche er, von A bis Z, zu öffnen versuchte. Ratlos schritt er im Tunnel auf und ab. Auch der Engel am Portal war verschwunden. Auf dem Tisch stand ein Schild: Wegen Weihnachtsfeier geschlossen. Otto kratzte sich ratlos das stoppelige Kinn.
Rauschen. Otto vernahm ein lauter werdendes Geräusch. Es kam ein Brummen dazu. Bald erkannte er die Kehrmaschine, die aus einem seitlich abgehenden Tunnel näher kam. Auf dem kleinen Fahrzeug hockte ein Hausmeister im Blaumann, der seelenruhig seine Runden drehte. Fast hätte er Otto gerammt.
„Sie können hier nicht rumstehen. Gehen Sie ins Übergangszentrum. Der Aufenthalt in den Gängen ist außerhalb der Öffnungszeiten streng verboten.“
Otto zuckte ratlos mit den Achseln.
Der Hausmeister stöhnte lustlos: „Den Gang runter, dritte Tür links!“
Warten. Otto hasste Warten. Vorbei an den Türen „Abgelehnt“ und „Neuantrag“, erreichte er die Tür „Übergangszentrum“ und drückte die Klinke nach unten. Der Raum war brechend voll mit Menschen in verschiedenen Stadien des Todes. Da waren welche ohne Kopf, welche mit nasser Kleidung und einem Fön in der Hand, welche mit Schlinge um den Hals, welche mit ungesunden Gesichtsfarben zwischen dunkelrot und giftgrün. Andere bluteten, manchen standen die Gliedmaßen im unnatürlichen Winkel vom Körper ab, einige hatten Spritzen in den Armbeugen stecken. Typen in Lederkluft trugen noch ihren Motorradhelm. Manche sahen einfach auch nur uralt aus. Manche waren noch Kinder. Manche sahen äußerlich eigentlich total gesund aus.
Auf einer Sitzbank fand Otto noch einen freien Platz. Zwischen einer Frau mit Würgemalen am Hals und einem Mann in Arbeitskleidung.
„Zum ersten Mal hier?“, wandte sich der Mann mit steifen Bewegungen in Ottos Richtung.
„Ja, habe wohl den falschen Zeitpunkt erwischt.“
„Mmmh. Ich bin schon lange hier. Schwieriges Aufnahmeverfahren. Ich habe bei einem Unfall meinen Namen vergessen.“
Der Mann machte eine Pause:
„Eigentlich habe ich alles vergessen. Den Unfall, meinen Beruf, meine Herkunft ...“
„Das ist schade“, versuchte Otto den Mann zu trösten. Otto blickte zur anderen Seite. Die Frau redete, ohne Otto anzublicken:
„Mein Ehemann. Hat mich erwürgt. Jetzt prüfen die hier seit zwei Wochen, ob ich ihn durch eigenes Verschulden dazu gebracht habe.“ Ihr Gesicht wurde rot: „Dieses Arschloch!“
Zeit. Es vergingen Tage, in denen Otto unzählige Varianten des Todes kennenlernen durfte. Endlich erklang ein Aufruf durch die Lautsprecher:
„Otto Weidenzahl, bitte zur Registrierung in Zimmer 13“.
Er schritt durch den langen Gang, erstaunt, dass hier immer wieder neue Zimmer auftauchten. Schließlich fand er Zimmer 13, kleingedruckt stand unter der Zahl: Registrierung. Otto trat ein.
Der Lärm klappernder Schreibmaschinen war ohrenbetäubend. Vor ihm lagen vielleicht zwanzig Längsreihen identisch aussehender Sekretärinnen, die an identischen Tischen in alte, analoge Adler-Maschinen Buchstaben einhämmerten. Die Reihen waren endlos lang, die hintersten Sekretärinnen verschwanden im hellen Dunst der Ferne.
Vorne, in der Mitte, stand ein einzelner Tisch, an dem ein dicker Mann Zigarre rauchte.
„Otto, altes Haus“, winkte er ihn jovial an den Tisch heran, „Du willst also auch endlich rein?“
Otto nickte verunsichert.
„Kannste haben. Du musst nur hier Deinen Bleibevertrag unterschreiben. Nach dem Erwerb der Engelwesensdaseinsunbedenklichkeitsbescheinigung bekommst Du eine Gutetatenbonussammelkarte, auf der Du Deine Erwerbspositivpluspunkte sammeln kannst. Mit genug Pluspunkten bekommst Du Deine erste Wolke, mit weiteren Pluspunkten ein Luftruder, danach ein Fenster zur Welt, und so weiter und so weiter. Nichts ist schließlich umsonst. Nach einem Jahr zahlst Du die Pluspunktverwaltungsabgabensteuer. Kannst Du diese nicht zahlen, wirst Du zu Hilfsdiensten für Neuankömmlinge herangezogen. Die freiwillige Pflichtversicherungskammer der Engelsinnung wird sich an Dich wenden, um einen Beitrag festzulegen ...“
Gehen. Otto hörte dem Mann nicht mehr zu. Er drehte sich um und ging einfach. Durch den langen Flur zum hellen Tunnel. Dieser begann sich zu verfärben, wurde immer dunkler, bis der Ohrensessel in einem weit entfernten Kreis zum hellsten Punkt wurde. Er begann zu laufen, immer schneller. So schnell hatte er sich seit 30 Jahren nicht mehr rennen sehen. Am Ziel angekommen, ließ er sich erschöpft in den Sessel fallen …
Aufatmen. Sein Körper saugte die Luft an wie eine geöffnete Vakuumverpackung. Laut zischten Ottos Lungenflügel, der Oberkörper schnalzte nach vorne.
Es klingelte an der Tür. Der Weihnachtsbesuch kündigte sich an. Noch leicht verwirrt, konnte sich Otto endlich auf die Festtage im Kreis seiner Lieben freuen.