Das vierzehnte Türchen
Heute gibt`s fast volle Punktzahl glaub ich. Lieber
@*******Dom, vielen Dank für diese kleine Fantasie gestern. Etwas in der Art hatte sicher schon der eine oder die andere von uns im Kopf beim Shoppen. Also ich geb zu, ich muss mir jede Shoppingtour mit netten Fantasien erträglich gestalten, da ich nicht gern shoppen geh.
Die heutige Geschichte hat mal wieder ein etwas ernsteres Thema zu Grunde liegen.
Früher war vielleicht mehr Lametta, aber heute ist mehr Wärme in den Herzen. Ist das Fazit der Protagonistin der Geschichte und das finde ich sehr tröstlich.
Schneeflöckchen, Weißröckchen
Draußen vor dem Fenster schaukeln die bunten Weihnachtslichter in den Rosenhecken im Wind. Die Landschaft sieht aus, wie mit Puderzucker bestäubt.
Eine Gruppe von Kindern zieht singend am Fenster vorbei und singt bekannte Weihnachtslieder, die Emelie noch aus ihren Kindertagen sehr vertraut sind.
"Kling Glöckchen, Klinge linge -ling, Kling Glöckchen Kling ….“.
Sie beobachtet die Kinder, wie sie zu dem nahegelegenen Platz vor dem Rathaus weiterziehen. Dort angekommen sammeln sie sich um eine große Tanne, die voll geschmückt ist mit bunt leuchtenden Figuren, Glaskugeln und glitzernden Herzen. Unzählige elektrische Kerzen beleuchten den großen Weihnachtsbaum. An den Tannenspitzen hängt schimmerndes Lametta, welches Emelie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hat.
Das in gelbem Sandstein errichtete gotische Rathaus ist hell erleuchtet, die Arkaden und die darüber liegende Balkonbalustrade sind mit Lichtergirlanden festlich geschmückt. Der ganze Platz vermittelt eine festliche Atmosphäre. Ein Chor beginnt so wunderschön zu singen, dass es die Herzen der Zuhörer erwärmt. Der Gesang zieht Emelie derart in Bann, dass sie sich augenblicklich in eine andere Zeit zurückgeworfen wähnt und sich zwischen den Kindern wiederfindet.
Sie entdeckt sich wieder als kleine Emelie im Kreise von Menschen mit leuchtenden Augen, die sich glückselig um den Tannenbaum versammelten.
Für die kleine Emelie war es immer ein befreiendes Gefühl, wenn sie singen konnte. Laut und melodiös trällerte sie die Lieder mit.
Emelie spürte eine Wärme in ihrer Brust durch dieses schöne und befreiende Gefühl des Singens mit den anderen Kindern. Sie würde am liebsten die ganze Nacht vor dem Tannenbaum stehen und Lieder singen. Hier war sie nur ein glückliches und unbeschwertes Kind. Mit jeder Strophe, welche sie sang, breitete sich in ihr ein immer mehr befreiendes Gefühl aus.
Als plötzlich ihr Lieblingslied erklang, sang Emelie lauthals mit:
"Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit .....…"
Strophe für Strophe erfüllte sie ein Gefühl vollständiger Harmonie.
In diesem Moment setzte Schneefall ein, zunächst waren es nur kleine Flocken, welche sich zunehmend verdichteten. Diese blieben an den Mänteln und Haaren der Menschen hängen und bedeckten die Dächer der Buden des umliegenden Weihnachtsmarkts.
Emelie schaute begeistert den Schneeflocken zu, wie diese kleiner Federn gleichend auf die Erde herab schwebten. Sie stellte sich vor, wie die Schneeflocken sich zu zwei riesigen Flügeln zusammenfügten und sich ein Engel aus den Schneeflocken erhob. Es schien ihr so, als wenn der Engel ihr zuwinkte und sie zu sich heranzog. In seinen Armen verspürte sie plötzlich ein bisher ungekanntes Gefühl. Ein Erfahrung von Geborgenheit und Vertrautheit breitete sich in Emelie aus, die ihr Fremd war.
Vom Engel gehalten erhoben sie sich über die Köpfe der Menschen, über die Spitze des Weihnachtsbaums und weiter über den Rathausturm in den Sternenhimmel. Die Welt um sie herum schillerte glänzend in allen Regenbogenfarben. Am liebsten wäre sie für immer in dieser Umarmung geblieben.
Die Engelsflügel trugen sie weit weg von diesem Ort. Ihrem Heimatort, welcher nach außen so schön und fröhlich leuchtete, vor allem zur Weihnachtszeit.
Emelie wollte am liebsten ganz weit weg von ihrem Heimatort sein. Nach außen schien alles so schön, jedoch hinter den Häuserfassaden, vor allem in ihrem Elternhaus, war nichts schön.
Sie hatte Angst, nach Hause zu gehen. Ihre Mutter sagte immer: "Sei ein braves Kind und mach das, was der Vater sagt!", und wenn sie trotzte, kam von der Mutter: "Der Papa meint es doch nur gut mit dir!"
Nur wusste die Mutter nicht, was der Vater mit ihr anstellte, wenn sie alleine mit ihm war. Die Mutter wollte es auch nicht wissen, geschweige denn es glauben. Als Emelie sich einmal traute, der Mutter darüber zu erzählen, hatte sie nur gesagt: "Sei still Emma, stell dich nicht so an!"
Die Magie des Winters schenkte aber auch schöne Erinnerungen an ihre Kinderzeit. Sie liebte es, morgens die Eissterne an den Fenstern zu betrachten, wenn der erste Frost kam. An Weihnachten kam ihre Lieblingstante Elfriede zu Besuch.
Mit ihrem eleganten Kostüm und ihrem toupierten Haaren wirkte Sie etwas schrullig und aufgetakelt. Tantchen nahm sie immer in den Arm, knuddelte und knutschte sie ab und nannte sie „meine kleine Prinzessin“. Mit Tantchen backte sie Plätzchen und sie durfte diese mit Eiweißzuckercreme und Perlen dekorieren. Wie Eissterne an den Fenstern sahen ihre Weihnachtsplätzchen dann aus. Tantchen war stolz auf Emelie und lobte sie immer. Sie war ihr eine gute Freundin, fast wie eine zweite Mama. Von ihr hatte sie die Passion zum Kochen und Backen übernommen. Aber Tantchen vertrug sich nicht gut mit ihren Eltern und blieb nur an den Feiertagen zu Besuch.
Am meisten genoss sie es jedoch, zur Chorprobe zu gehen. Dort fühlte sie sich frei, weil sie dann sein durfte, was sie war: Ein Mädchen von neun Jahren.
Auf dem Weg zur Chorprobe erfand sie manchmal eigene Liedtexte. Sie sang sie dann nur für sich ganz alleine:
"Zum Himmel singe ich und rufe dich herbei.
Oh Engel, nimm mich mit auf deinen Schwingen.
Hoch zum Himmel, nimm mich mit und lass mich nicht mehr weg."
Plötzlich zuckt sie zusammen, als eine warme Hand sich auf ihren Rücken legt und eine tiefe Stimme sie aus ihren Gedanken reißt:
"Was singst du da, Liebes? Das habe ich noch nie gehört!" Sie blickt auf und schaut in die liebevollen Augen ihres Partners Paul:
"Ich wollte dich nicht erschrecken. Wie ich dich hab singen hören, wurde ich neugierig weil ich dieses Lied nicht kenne." Paul legt seinen Arm um sie und drückt sie behutsam an sich. „Ich hoffe, es geht dir gut, meine Liebe!“
Emelie war gerührt von seiner Fürsorge:
"Ja, es ist alles in Ordnung. Beim Anblick der Kinder auf der Straße kamen Kindheitserinnerungen hoch, sowohl angenehme als auch dunkle. Es ist dreißig Jahre her, dass ich das letzte Mal hier war. Das muss ich wohl jetzt erst mal verarbeiten. Es ist gut, das du gerade jetzt bei mir bist!"
Emelie war mit achtzehn von zu Hause ausgezogen und nie wieder zurückgekommen. Sie hatte auch nie den Wunsch verspürt zurückzukommen. Jedenfalls nicht, so lange ihr Vater lebte. Erst nachdem sie vor zwei Jahren die Nachricht von seinem Tod erreichte, konnte sie Frieden finden und mit ihrer Kindheit abschließen. Paul hatte sie erst vor einem Jahr kennen und lieben gelernt. Davor war sie nicht in der Lage, eine längere Beziehung einzugehen. Der Missbrauch durch ihren Vater saß zu tief. Mit Paul hatte sie jedoch einen sehr liebevollen und verständnisvollen Partner gefunden und hoffte, dass sie nun den ganzen Schmerz ihrer Kindheit loslassen konnte.
Ihr Leben sollte nicht mehr von lähmender Angst bestimmt sein, ihre Seele will nicht mehr weinen. Sie will jetzt einfach nur Frau sein und leben.
Sie wird diese Qualen endgültig aus ihrer Seele vertreiben, um endlich frei und glücklich zu sein. Ihre Seele wünscht sich zu lieben und geliebt zu werden. Ihr ging in diesem Moment auf, dass der tiefere Grund darin lag, mit Paul in ihre Heimatstadt zu reisen, um mit all dem vergangenen Leid abzuschließen und einen Neuanfang zu wagen.
„Komm! Lass uns die Mäntel anziehen und zum Rathausplatz laufen, um den großen Tannenbaum zu sehen und mit dem Chor zu singen.“
Emelie hakt sich bei Paul ein, während sie den Weg zum Rathausplatz entlang laufen und denkt: `Früher war vielleicht mehr Lametta, aber heute ist mehr Wärme in den Herzen.`