Das zweiundzwanzigste Türchen
Erneut hat es einer geschafft unter dem Rateradar zu fliegen. Vielen Dank lieber
@*****o83
Die widerstreitenden Gedanken eines Mannes, der auf dem Weg zur Familie ist um mit den Verwandten Weihnachten zu verbringen. Nicht wenige von uns werden sich wahrscheinlich darin wiedererkennen.
In der Prozession der roten Lichter
Ich fahre heim für Weihnachten. Ich fahre, sag ich, dabei ist es mehr ein geleitetes Gleiten auf Gleisen. Vor mir zwei Schneisen, die sich parallel durch den Schnee schneiden wie Spuren von Skifahrern oder Schienen von Zügen. Einander ebenso parallele, rote Lichter folgen diesen endlosen Bahnen wie in einer Prozession. Wir bewegen uns schon, durch diese Baiserlandschaft, nur halt sehr langsam. Andächtig und leise gleiten wir, Wagen hinter Wagen. Niemand wagt es zu hupen, oder die Spur zu verlassen. Wir folgen offenbar dem Schneeräumer, der dort vorne irgendwo sein muss, und uns durch diese Schneewelt führt, wie wenn er unser Bischof wäre.
Der Schnee fällt in Fülle und dimmt schier jeden Schall. Der Schnee ist überall und nimmt alles ein. Allanwesendes Weiß in Diffusion. Ich empfand befriedende Einfachheit, in dieser klanggedämpften Welt, für eine ganze Weile. Kein oben, kein unten, keine Farben. Einfach nur lenken ohne zu denken. Nur kommt mal der Punkt, wo selbst Stille zu laut wird.
Ich dreh das Radio an. Nachrichten. Ich schau den Navi an und der Navi sagt, ich befinde mich auf einer Bundesstraße. Er sagt und zeigt es mir. Er streicht mir die Straße rot und berechnet mir meine Restzeit laufend neu. Minute für Minute addiert und summiert er Zeit. Er schätzt und wägt und kalkuliert. Es sind noch über vierzig nun, meint er.
Ich fahre heim für Weihnachten auf einer Straße, die es nicht mehr gibt. Wobei, es gibt sie wohl. Der Navi sagt ja es sei so und die gegipsten Skulpturen, die die Straße säumen, belegen die Existenz menschengemachter Strukturen unter dem Schnee.
Aber im Moment gibt es sie beide nicht mehr. Die Straße, wie die Bäume. Im Moment gibt es die ganze Welt nicht mehr. Keine Lieferketten, keine Anschlusszüge, keine Zivilisation. Alles was es gibt ist das Weiß und unsere nicht enden wollende Prozession der roten Lichter.
Ich fahre heim für Weihnachten. „Heim“ sag ich, dabei ist es das gar nicht mehr. Es ist bei meinen Eltern zuhause. Es war mein Zuhause.
Ich bin dort aufgewachsen und als ich ausgewachsen war bin ich ausgezogen. Ich kenne jede Diele dort, jede Ecke, jedes Fenster, jeden Schnörkel der Tapete im Wohnzimmer. Ich weiß, wo die Töpfe stehen und wo der Seiher. Ich weiß, wo das Wärmekissen ruht, und wo das gute Besteck. Ich weiß, wie man nachts sich durch das Haus bewegt ohne die Dielen knarzen zu lassen. Ich weiß auch, welche Diele man heraushebeln kann, um Gegenstände oder Substanzen darunter zu verbergen, falls man dies mal muss.
Ich hätte gerne in meiner Wohnung Dielen, aber da ist nur PVC. Es ist gut, weil PVC nicht brennt und ich nicht sterben muss. Das ist sicherer.
Ich fahre heim für Weihnachten, seit vierundfünfzig Minuten jetzt und werde deutlich später ankommen als angekündigt. Meint der Navi jedenfalls. Und der weiß das. Der ist klug. Mein Vater fuhr noch mit Straßenkarten. Das machte klug. Das ist der Unterschied.
Meine Mutter wird warten, mein Vater wird schnarchen. Die Tanten werden mit der Mutter im Wohnzimmer sitzen und Tee trinken. Sie werden, mit der Tasse in der einen und einem Plätzchen in der anderen Hand, auf mich sorgenzerfressen warten und darüber beraten, welches der Kinder im Leben die meisten Fehler begangen hat oder die größten. Die Onkel werden auch schnarchen oder noch in der Küche sitzen und Würste machen mit der alten Wurstmaschine, wo man sich so einen Wolf kurbeln muss. Sie werden das Radio auf Mittelwelle laufen haben und sie werden angeschäkert sein, wie sie das immer waren zu diesem Zeitpunkt von Heiligabend. Aber dieses Mal werden sie nur zwei Kurze gezwitschert haben und selbst die im Verborgenen.
Es werden nur zwei der Onkel da sein, weil Onkel Wanja nicht da sein wird. Also gar nicht mehr. Und ich war nicht mal auf seiner Beerdigung.
Und eben Letzteres wird zur Sprache kommen. Ich wünscht, ich komm erst in der Nacht an und alle schlafen schon. Ich schleich mich dann durchs Haus wie früher und morgen ist…
…morgen.
Ich war noch nie mutig.
Onkel Wanja, das war ein Schrank! Mein Gott! Ein Berg von einem Mann. Ich bin als Kind auf ihm herumgeturnt und geklettert, als ob er ein Baum wäre. Alles an ihm war so fest und hart und seine Arme dick wie die Äste des Birnbaums im Garten seiner Datscha.
Onkel Wanja spielte Akkordeon aus Leidenschaft. Wobei, ich sage Leidenschaft, aber es war mehr als das. Der Onkel war nur vollständig, mit seinen Fingern auf den Tasten seines roten Akkordeons und vielleicht einer Schar Schnäpsen, die er, jeweils mit einem Ruck seines Kopfes Richtung Nacken, seinen Hals hinunterstürzte. Dann glühte der Onkel wie eine Lampe. Knallrot wie sein Akkordeon. Seine Haut leuchtete dann fast purpurn und glänzte vor Schweiß. Sein Haar war nass, seine Augen glasig, aber glücklich.
Wanja sang nicht aus voller Kehle. Er sang aus voller Seele. So war der Onkel. Ein Bär von einem Mann. Und ich war nicht…
Dieses Frühjahr hatte ich ihn im Krankenhaus besucht. Einmal. Nicht mal ne viertel Stunde. Ich hatte zu tun. So viel zu tun. Ich hab immer so viel zu tun. Man glaubt es nicht.
Der Onkel lag da. Ich weiß, dass er da lag, aber er war nicht zu sehen. Ich konnte ihn nicht sehen. Er lag da irgendwo darunter. Unter der gebleichten Klinikdecke und der fahlen Haut eines dürren alten Mannes versteckt. Da drunter lag er. Der Monitor, der mir über Blutsättigung und Herzschlag des Onkels ungefragt Auskunft gab, sagte mir, dass dies der Onkel sei. Ich sah mir zur Sicherheit dennoch das Clipdings am Rahmen des Bettes an, das mir das beglaubigte.
Ich war alleine dort. Abends im schalen Kliniklicht. Weder die Tante, noch die Vettern waren da und ich hatte Säfte mitgebracht.
Das hatte ich von meinen Eltern, die stets Säfte mitbrachten, wenn sie jemanden im Krankenhaus besuchten. Weiß der Teufel, warum das Leute taten. Als ob sie ihren Beitrag zur Genesung leisteten. Vielleicht tun sie es ja immer noch. Die Leute, wie die Eltern. Ich weiß es nicht.
Ich nahm die beiden Säfte jedenfalls wieder mit, und ging sicher, dass mich die Krankenschwestern nicht im Flur sahen, als ich ging. Keine Ahnung warum. Bis heute weiß niemand, dass ich überhaupt dort gewesen war. Ich war noch nie mutig.
Ich wechsel den Sender am Radio und Bing Crosby singt mir seinen Wunsch nach weißen
Weihnachten ins Gesicht. Ungefragt. Ich fühl mich verarscht von Bing Crosby. Ich fühle mich verhöhnt. Fick dich doch, Bing Crosby, mit deinen weißen Weihnachten!
Ist leicht sowas zu säuseln, mit weißen Weihnachten und so Zeug, wenn man so ne Stimme hat und vor allem, wenn man gemütlich in der warmen Stube steht und einen sterbenden Baum dekoriert wie einen General. Mit Stern obendrauf. Und Lametta zuhauf. Als wäre dies die Bestimmung von Bäumen. Aber frag mal mich, Bing Crosby, was ich zu weißen Weihnachten zu sagen habe hier draußen im weißen Nirgendwo. Echt Mann. Schau dich um, Bing Crosby! Hier ist Fargo…
Ich wechsle nochmal den Sender und diesmal ist es George Michael, der von seinen letzten Weihnachten klagt. Das Lied ist ausgelutscht und totvernommen. Aber wenn man es seit langem nicht gehört hat und es dann zu Weihnachten mit einem Mal wiederhört, hat es dennoch wieder das, was es mal hatte. Da ist dennoch wieder die Magie. Unter dem Kitsch versteckt. Da unten. Jedenfalls für mich. Ich hab geküsst zu dem Lied.
Letzte Weihnachten. Letzte Weihnachten waren die letzten Weihnachten für das rote Akkordeon. Was das Akkordeon wohl jetzt macht? Liegt es wartend im Regal wie Hachiko? Verhaftet in Erinnerungen, an seine große Zeit, als es noch im Mittelpunkt stand von rauschenden Festen?
Was war Weihnachten früher groß! Was war die Zeit zwischen den Jahren groß! Das war unsere Hauptsaison. Der Rest vom Jahr war lediglich Nebensaison und Geplänkel im Vergleich zu dieser Zeit.
Der erste Weihnachtstag wurde bei der Tante gespielt. Rauchschwaden auf vollen Rängen. Blaue Gesänge von blauen Onkels mit Bengalos im Mund. Alles naturgegeben. Am zweiten Weihnachtstag dann das Rückspiel bei uns zuhause. Gleiche Kulisse, gleiches Geschehen. Gefüllter Vogel für gefühlte Noble zu gefüllten Onkels mit nem Vogel und nem Schuss. Und zum Schluss das Grand Finale, mit Schweinebraten und zu Schweinen geratenen Onkeln, bei Wanja und Masha, an Silvester. Und jeden fucking Tag dazwischen, an jedem fucking Abend, Freundschaftsspiele und sackkarrenweise Napoléontorte.
Am Ende jeden Abends, oder besser, jeder Nacht, wenn die Tische vollstanden mit Gebirgszügen von Flaschen und Gläsern, in deren Täler Kronendeckel und Teller zu finden waren, von denen wir Kinder, noch vor dem Schlafengehen, schnabulierten, schmetterten die Männer noch, auf den Schultern getragen vom roten Akkordeon, Lieder, die immer noch widerhallen…
…früher war mehr Lametta.
Was haben die früher getrunken und geraucht. Geraucht, wo und wann sie auch immer standen, lagen, saßen. Küche, Schlafzimmer, Bad. Egal.
Im Auto mit acht Jungs auf der Rückbank übereinandergeschichtet, während vorne zwei Väter im Unterhemd sitzen, die Zigaretten in Ketten rauchen? Normaler Mittwochnachmittag nach dem Training.
Kein Mensch hat sich darum geschert oder gar das Fenster runtergekurbelt. Heute müssten acht Väter die Kinder abholen und jeweils einen passenden, und von Stiftung Warentest mit mindestens gut bewerteten, Kindersitz im Auto mit Isofix befestigt haben.
Das ist gut. So müssen die Kinder nicht sterben. Das ist sicherer.
Früher war mehr Lametta.
Was haben die getrunken. Auch bei uns in der Familie. Heute besuchen sie sich zum Kaffee und trinken Entkoffeinierten, während sie über Indikationen und Medikationen fachsimpeln. Als ich klein war, wurden zu solchen Anlässen Kristallgefäße mit Likören und Cognacs gereicht wie Toffifees. Hatten die bei Dallas gesehen.
Und wenn J.R. und Sue-Ellen mittags sich einen Drink ballern, warum nicht Wanja und Mascha?
Früher war einfach mehr Lametta.
Mein Vater und die Onkel waren ja auch keine Ausnahmen. Es gab so viele Legenden, die auf dem Schulhof von kleinen Mündern zu großen Ohren wanderten. All die Gerüchte, die gingen, die fantasiegemästeten…
Das war ein anderer Schlag damals. Das waren Männer, die sich südlich des Adamsapfels nicht rasierten. Männer, die dies nördlich davon nur mit echten Klingen taten. Männer, die sich Tabac Original pfützenweise mit Schmackes auf die Backen klatschten und mein Bac, dein Bac oder unser Bac auf ihre bewaldeten Körper sprühten. Männer, die fahrradfahrend Lieder sangen oder fröhlich Melodien pfiffen, welche sie nur unterbrachen, um Frauen in einer ganz bestimmten Melodie hinterherzupfeiffen. Oder um zu rauchen. Männer, wie Wanja einer war.
Männer, die an Weihnachten vom Balkon pinkelten oder auch mal auf den Tisch kackten, nur um zu beweisen, dass sie auch wirklich alles täten, falls Letzteres infam in Frage gestellt würde.
Ob das mit dem Tisch wirklich passiert ist, weiß ich nicht. Ich hab das immer bezweifelt, aber Wanja schwört immer noch darauf, dass Baschugin, sein verrückter, drahtiger Nachbar mit der dicken Frau, das getan hatte, als jener noch jünger war, als ich es heute bin. Baschugin, das war einer…
Ich schweife ab. Es ist mittlerweile dunkel geworden. Ich folge ohne zu fragen den roten Lichtern durch eine ansonsten mehr schwarz als weiße Welt. Ich versuche dabei die Räder in den Rillen zu halten, wie ein Tonabnehmer auf einer verwellten Schallplatte. Unsere Prozession ist aus dem Gröbsten raus. Sie löst sich auf. Langsam, aber sicher, tut sie das vor meinen Augen, während der schwarze Himmel von unten ausgehöhlt wird von einer blassen, flachen Kuppel. Rote Lichter ziehen mal links, mal rechts, davon zu neuen Bahnen, manchmal begleitet von blinkenden gelben.
Wir sind kurz vor der Stadt, aber der Navi sagt, ich sei im Nichts. Diesmal so richtig. Ich bin da, wo Drachen sind. Jedenfalls für ihn. Nicht kartiert. Ich bin hier.
Hier waren früher Äcker, heute tangiere ich eine Neubausiedlung aus Einfamilienhäusern, die so weiß sind und aneinandergebaut, dass sie aussehen wie dahingewürfelte weiße Pappkartons.
Es kommt nun ein Kreisverkehr, den ich nicht kenne, bevor ich wieder auf einer Straße lande, die ich zwar kenne, aber nicht sehen kann. Gleich müsste der Bolzplatz kommen, aber das tut er nicht. Den gibts nicht mehr. Hier steht jetzt ein Marktkauf. Ach ja, das hatte sie mir gesagt. Hier kommt sie einkaufen.
Sieben Minuten sagt der Navi. Unsere Prozession ging dann doch zügiger. Sie werden alle wach sein und auf mich warten. Sieben alte Gestalten, deren Anblick wie ein Spiegel wirkt, der mir vor Augen führt, dass ich nicht mehr Kind bin.
Die Cousins werden erst morgen eintrudeln. Sie kommen nur fürs Hauptprogramm und gehen vor der Zugabe. Typisch. Heut Abend wär ich allein.
Ich spiele mit dem Gedanken zunächst ins alte, kleine Stadtzentrum zu fahren, um eine Kneipe zu finden, die heute geöffnet hat für die, die an diesem Abend eine brauchen. Ich spiele mit dem Gedanken dort einzulaufen wie in einen kleinen, sicheren Hafen und mich dort einzukaufen, um, ohne Vielredens und Aufhebens, mich volllaufen zu lassen und, gleich dort am Tresen, zu versenken.
Oder wenigstens Mut anzutrinken. Um heimzufinden.
Ich war noch nie muttig.