Falls es mal jemand schafft Charlie so nachzuahmen, dann hat er dafür 6 satt 3 Autorenpunkte verdient. Lieber
@**********silon vielen Dank für deine unvergleichliche Art uns mit Worten zu verzaubern.
Die heutige Geschichte erinnert mich an Weihnachten, wie es bei mir Zuhause war, als ich noch ein Kind war. Genau so ging es bei uns auch zu.
Früher war mehr Lametta
Endlich ist Weihnachten! Eva presst das Gesicht an die beschlagene Fensterscheibe und sieht hinaus auf die Straße. Gestern Abend fiel Schnee und die graue Häuserschlucht sieht jetzt aus wie ein Winterwunderland, fast so wie in „Holiday on Ice“. Die Äste der Buchen glitzern in der Sonne wie mit Puderzucker bestäubt und die Dächer gegenüber tragen dicke, weiße Hauben wie die köstlichen Baissiers, die Oma Hilde in ihrem Laden verkauft. Ihr fällt das Vanillekipferl wieder ein, das sie am Abend zuvor frisch vom Blech stibitzt hat. Sie kramt es aus der Seitentasche ihres Schlafanzugs und steckt es in den Mund. Es ist so süß und zart, dass es auf der Zunge zergeht.
Der Duft nach ausgelassenem Speck und Zwiebeln zieht durch die Wohnung. Eva hört ihren Vater in der Küche fluchen. Wahrscheinlich hat er sich wieder in den Finger geschnitten mit dem scharfen Messer, auf das er so stolz ist. Wenn er das Essen macht, ist es immer ein Fest. Er kann alles kochen, das hat ihm die Oma beigebracht, aber er hat nur sonntags Zeit dafür. Unter der Woche muss Mama das übernehmen und das schmeckt meist nicht so, obwohl Mama doch in der Hauswirtschaftsschule war. Eva weiß nicht genau, was das für eine Schule ist, aber anscheinend lernt man dort auch Bügeln. Mama liebt es nämlich, zu bügeln, am liebsten mit Karel Gott. Dann summt sie vor sich hin und sieht ganz glücklich aus.
Bestimmt hatte ihre Mutter eine Eins im Bügeln und eine Fünf im Kochen, denkt Eva und sieht gebannt zu, wie Papa den Braten würzt und dann mit reichlich Wein übergießt. Zufrieden klappt er den Römertopf zu und schiebt ihn in den Backofen. In einer großen Schüssel ruht der Spätzleteig und wartet darauf, in kleine Stücke gerissen zu werden. „Papa, darf ich helfen?“ Papa nickt und gibt Eva ein Holzbrettchen. Beate, ihre kleine Schwester, ist jetzt wach und stürmt in die Küche. Sie will auch mitmachen, ist aber erst 3 und darf nur zusehen. Beate quittiert das mit lautem Protestgeheul. Eva nimmt sie beiseite und gibt ihr ein paar Kekse. Papa ist immer schnell genervt. Vor allem dann, wenn Mama mal wieder unpässlich ist.
Aus dem Wohnzimmer ertönen die ersten Weihnachtslieder vom britischen Schmuseimport Nummer 1, Roger Wittaker, der Mann, den alle Mütter lieben. Mama kommt in die Küche im rosa Morgenmantel, den Kopf voller Lockenwickler und morgendlicher Leidensmiene. Sie bleibt im Türrahmen stehen und sieht zu, wie Vater und Tochter konzentriert Spatzen schaben.
„Kurt, du wolltest mir doch helfen, den Christbaum zu schmücken? Und du hast doch hoffentlich gestern noch Lametta besorgt?" „Lametta, Lametta!“ Papa knallt die Teigschüssel auf den Tisch. „Herrgott im Himmel, Gerda, was soll ich denn noch alles machen? Ich bin doch kein Tausendfüßler!“ „Tausendfüßer, Tausendfüßer!“ johlt Beate und patscht mit ihren Händen nach den Spatzen, die fein säuberlich auf dem Brettchen aufgereiht liegen. „Du kommst jetzt mal mit ins Bad, Fräulein!“, sagt Mama und zerrt Beate aus der Küche, bevor ihr Mann völlig ausflippt.
Zwei Stunden später ist der Baum geschmückt und die Wohnung duftet nach Rostbraten, Vanillezucker und nach 4711. Papa Kurt hat zur Feier des Tages eine Krawatte umgebunden und trägt den blauen Pullunder, den Mama selbst gehäkelt hat. Mutter und Töchter tragen neue Strickkleider und Strumpfhosen in aufeinander abgestimmten Rosétönen. Das ist gerade modern und Mama findet das trés chic.
Oma und Opa kommen mal wieder zu spät. Das ist immer so, aber Papa regt sich trotzdem auf.
Als sie dann endlich eintreffen, werden sie von Mama mit großem Hallo begrüßt. Plötzlich ist es voll, laut und eng in der Wohnung. Oma Hilde hat sich in ein imposantes, rotes Samtkleid gezwängt, Opa Ludwig bleibt hinter ihr wie ein grauer Schatten. Die Mädchen stehen Spalier und Oma tätschelt ihnen die Köpfe. Dann marschiert sie schnurstracks in die Küche, um den Inhalt der Kochtöpfe zu inspizieren. Dabei redet sie ununterbrochen, erzählt von den unverschämten Mietern bei ihr im Haus, über die sie sich ständig ärgern muss und von den letzten Umsätzen in der Bäckerei. Und natürlich von Bernhard, ihrem Lieblingsenkel, weil der doch gerade erst Geburtstag hatte. Er ist ja so ein aufgeweckter, hübscher Junge und so gescheit!
Eva kann Bernhard nicht ausstehen. Er riecht komisch und lacht immer viel zu laut über seine eigenen Witze, die nicht die Bohne lustig sind. Außerdem schummelt er jedes Mal beim Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spielen. Er ist ein unverschämter Grobian, der ihre kleine Schwester so lange hänselt und ärgert, bis sie weint. Zum Glück muss sie ihn an Weihnachten nicht sehen.
Opa setzt sich in die hinterste Ecke der Eckbank und studiert das Etikett des Moselweins mit Kennerblick. Er hat einen lustigen fränkischen Akzent, doch er kommt selten zu Wort, weil Oma Hilde schon immer für zwei redet. Eva bleibt vor der Eckbank stehen, ihren Teddybären vor den Bauch gepresst wie ein Schild. Fasziniert betrachtet sie die kleinen Borsten, die aus Opas Nase ragen und die sich so lustig bewegen, wenn er redet. Papa hat Opa ein Glas Wein eingeschenkt und die Männer prosten sich zu. Oma Hilde drängt sich mit wogendem Busen neben Opa auf die Eckbank und sieht ihn missbilligend an. „Ludwig, musch du scho widda Wein trinke? Du musch doch fahre nochher!“ „Dass die Frau auch immer was zum Schimpfen hat,“ sagt Opa und lacht, ohne seine Frau eines Blickes zu würdigen.
Braten und Spätzle werden in feierlicher Stille verzehrt, unterbrochen nur von zufriedenen Schmatz- und Schlürfgeräuschen. Oma Hilde lobt die Soße und Papa Kurt platzt fast vor Stolz. Mama beeilt sich, den Nachttisch und den Kaffee zu servieren, schließlich will sie auch etwas zum Festmahl beitragen. Ihre heißen Vanilletörtchen mit Kirschsoße sind das Evergreen, das immer geht, wenn die Kinder mal wieder nicht essen, was auf den Tisch kommt. Eine Stunde später ist die erste Flasche Wein geleert und die Männer sind heiter. Die Frauen tratschen bei Eierlikör über sämtliche nicht anwesenden Familienmitglieder. Eva nervt ihre Mutter so lange, bis sie den Fernseher einschalten darf. Kaiserin Sissi will sie auf keinen Fall verpassen!
Bei Tisch werden die Scherze anzüglicher und das Lachen der Damen wird schriller. Mama erzählt von der Nachbarin im ersten Stock und den Männern, die dort ein und aus gehen. Was für eine Schlampe! Arbeiten tut die sowieso nichts. Opa erzählt einen Witz und Papa Kurt lacht dröhnend mit hochrotem Kopf. Sissi heiratet Franz. Opa öffnet die nächste Flasche Wein.
Beate langweilt sich und zerrt an den Weihnachtskugeln, bis der Tannenbaum zu wanken beginnt. Sie schreit wie am Spieß, als Mama sie schimpfend wegzieht. Dabei fällt eine der Kerzen um und der Weihnachtsbaum fängt Feuer. Opa kichert: „Advent, Advent, der Weihnachtsbaum brennt!“
Alle schreien durcheinander. Mama versucht, die angekokelten Geschenke zu retten, Oma reißt die Fenster auf und schreit hysterisch um Hilfe. Papa versucht hektisch, mit einem Stuhlkissen die Flammen zu ersticken und rennt dann aus dem Zimmer, um den Feuerlöscher zu holen. In weniger als fünf Minuten verwandelt er das Wohnzimmer in eine sibirische Schneelandschaft.
Der Baum qualmt jetzt nur noch ein bisschen. Mama bringt die kleine Schwester ins Bett. Papa Kurt genehmigt sich einen Schnaps. Eva flüchtet auf die Eckbank zu Opa, der sich seelenruhig ein weiteres Glas Wein einschenkt. Er zwinkert seiner Enkelin zu und lallt mit verklärtem Blick: „Kind, lass es dir gesagt sein: früher, zu meiner Zeit, war alles besser. Früher war einfach mehr Lametta …“