Nun der Schluss - endlich, werden manche denken *lol*
Brigitt sprach aus, was alle dachten: „Du hast dein Wort gehalten. Obwohl du nicht wirklich mein Gefangener bist und es wahrscheinlich auch nie warst, gebe ich dich frei, oder wie man dazu sagen mag. Was jetzt weiter geschieht, kann ich nicht sagen, solange es Alex nicht besser geht.“ Die anderen stimmten zu, sie hatten das vorher so besprochen.
„Ich stelle euch mein Haus zur Verfügung bis ihr wisst, was ihr machen wollt und es dem Professor besser geht. Ihr könnt das Haus und das dazugehörende Gelände ganz nach eurem Belieben nutzen. Ich behalte mir nur mein Zimmer im oberen Stock vor.“ Auch damit waren alle einverstanden und es wurde aufgeatmet. Sie hatten auf dieses Angebot gehofft, aber nicht wirklich damit gerechnet, zu unfreundlich waren sie zueinander gewesen.
Steif drehte er sich um und verließ den Raum. Brigitt fand, dass sie noch nie jemanden gesehen hatte, der gleichzeitig so erleichtert und einsam gewirkt hatte, wie Jack in dem Moment wo er hinausging. Sie beschloss, ihn später in seinem Zimmer aufzusuchen und noch einmal mit ihm zu reden. Irgendetwas, fand sie, war noch unausgesprochen. Aber dazu kam es nicht.
„Ich bin froh, dass wir jetzt hier in Sicherheit sind“, sagte James nach einer Weile. „Hier kannst du dich endlich einmal ausruhen, Celia und ein friedliches Leben kennen lernen.“ Sie antwortete nicht, denn sie war eingeschlafen. Er schaute zu ihr hin und lächelte zum ersten Mal, sonst hatte meistens ein nachdenkliches Stirnrunzeln sein Gesicht verunstaltet. „Bringen wir sie ins Bett“, meinte Sven. „Ich bin auch müde. Das ganze ist zwar anders ausgegangen, wie dich dachte, aber es ist zu Ende, hoffe ich.“
Ivo streckte sich und gähnte. „Ich werde mich auch gründlich ausschlafen und ich hoffe, dass er die Wahrheit gesagt hat. Habt ihr bemerkt, wie verschlossen er seine Gedanken gehalten hat?“ Sven nickte, auch ihm war es aufgefallen, aber er wollte niemanden beunruhigen. „Gehen wir schlafen. Es ist spät geworden. Ich werde noch einmal nach dem Professor schauen. Sven, du kannst auch zu Bett gehen, wenn ich müde werde, wecke ich dich“, meinte James, nahm Celia hoch und brachte sie auf ihr Zimmer. Kurze Zeit später folgten Sven und Ivo. Nur Brigitt blieb zurück. Sie war noch nicht müde, zu viele Gedanken geisterten in ihrem Kopf herum und wollten noch geordnet werden.
Sie ging in die angrenzende Bibliothek, Jack hatte verbotenerweise so eine Einrichtung, zog die enge Uniformjacke aus und begann damit die Buchrücken zu lesen. Wieder waren zahlreiche Liebesromane zu finden, aber auch Abenteuergeschichten und historische Abhandlungen, Fachbücher zu diversen Themen, darunter auch Archäologie, Psychologie und Geologie. Sie verstand den Mann immer weniger, denn die Bücher sahen aus, als würden sie häufig gelesen werden. ‚Der hat verdammt viele Interessen, wenn ich das so sehe’, überlegte sie. Dann griff sie nach einem Fachbuch über Feldarchäologie der neueren Zeit und begann darin zu blättern. Es wurde beschrieben, wie ein Historiker seine Jahrtausendentdeckung gemacht hatte. Der fand nämlich eine alte Mülldeponie. ‚So etwas ist immer eine Fundgrube. Warum habe ich noch nie so eine bahnbrechende Entdeckung gemacht?’, sinnierte sie, während sie weiterblätterte und nur die Texte zu den Abbildungen las. Zu allem anderen war sie doch zu müde. Beinahe war sie eingeschlafen als sie ein Geräusch hörte. Jemand war in den Raum gekommen. Noch immer wachsam, blieb sie still liegen und blickte sich durch die halbgeschlossenen Lider um. Jack stand an einem der Regale und suchte ein Buch. Er war nur in Unterwäsche bekleidet und schien sie nicht zu bemerken. Dann sah sie, wie er sich mit einem dünnen Buch in der Hand umdrehte und auf sie zukam. Er setzte sich vor ihr auf den Boden und sagte: „Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber mir ist vorhin etwas eingefallen, das ich dir schenken möchte.“ Dann überreichte er ihr den dünnen Band, stand auf und wollte wieder gehen. Brigitt schrie vor Entzücken und Jack drehte sich erschrocken um. „Das kann ich nicht annehmen!“, rief sie. „Das ist ein Juwel.“ Er lächelte über ihre Begeisterung und erwiderte: „Du kannst es behalten. Ich möchte, dass es in guten Händen ist, bei jemandem, der mit dem Inhalt etwas anfangen kann.“ Er drehte sich wieder um und verließ nun rasch den kleinen, gemütlichen Raum. Eigentlich hatte er vorgehabt, selbst noch etwas zu lesen, aber nun wollte er so schnell wie möglich weg von dort. Seine Gedanken kehrten zu Brigitt zurück, die halbnackt auf dem Sofa gelegen und in die Lektüre vertieft gewesen war. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und geküsst. ‚Ich bin ein verrückter alternder Mann, der jung aussieht und – verdammt, Jack, hör auf damit’, befahl er sich schlussendlich. ‚Es ist nicht gut, wenn du daran denkst.’ Mit langsamen Schritten stieg er die Treppe hoch und ging in sein Zimmer, seit Kindertagen bewohnte er es, wenn er hier war. Er hatte alle Kindheitserinnerungen hinausgeschmissen. Die Bemalung war hellgrau und die Möbel strahlten in einem klinischen weiß. Hier war alles nüchtern und hart, so wie er sein wollte – sein musste, um in dieser feindseligen Welt mit einer ungewollten Gabe zu überleben.
James schaute während der Nacht mehrmals nach Alex, doch der schlief ruhig. Sein Atem war wieder normal auch der Pulsschlag hatte einen guten Wert erlangt und war wieder tastbar. Das hatte ihm Sorge bereitet. Fieber konnte er auch keines mehr feststellen und die Verbrennung an der Schläfe hatte er mit Sven versorgt. Die anderen Verletzungen waren nicht so gravierend gewesen und mussten erst wieder in zwei Tagen behandelt werden. Einzig die Brandwunde machte ihm noch Bedenken. Er hoffte, das richtige Mittel verwendet zu haben, ansonsten könnte es zu erheblichen Komplikationen kommen. Danach schaute er jedes Mal bei Celia hinein, ob sie auch schlief. Mittlerweile fühlte er sich als ihr Beschützer in dieser kalten, ihm selbst fremd gewordenen Welt. In wenigen Wochen hatte sich sein gesamtes Weltbild gewandelt, das musste er auch selbst erst verkraften und verarbeiten.
Sven schlief wie ein Murmeltier. Er war so müde wie schon lange nicht mehr und froh, als er die Uniform ausziehen konnte. Seit seiner Entführung hatte er nicht mehr so tief und fest geschlafen, wie in dieser Nacht.
Ivo träumte von Delphinen. Er schwamm mit ihnen im Meer und ritt auf ihren Rücken. Es gefiel ihm und er wollte nicht mehr aus dem Wasser steigen. Immer mit den Delphinen schwimmen, das war sein Wunsch. Aber dann sprach einer der Delphine: „Du musst aus dem Wasser, du bist ein Geschöpf des Landes. Kümmere dich um dein Land.“
„Ich habe doch kein Land“, antwortete Ivo verwirrt. Doch der Delphin lachte nur, schubste ihn an und glitt in die Tiefe hinab, dorthin, wo Ivo im nicht folgen konnte. Er blieb alleine in der Lagune zurück und schwamm ans Ufer. Dort erwachte er und versuchte den Traum zu deuten. ‚Irgendwann wirst du es verstehen’, hörte er den Delphin sogar im wachen Zustand. Er rieb sich die Augen und änderte seine Schlafposition, denn draußen war es noch finster und bis zur Morgendämmerung waren es noch viele Stunden.
Brigitt konnte nicht mehr schlafen, nachdem ihr Jack das Buch geschenkt hatte. So lief sie ruhelos durchs Haus und blieb immer wieder an seiner Tür stehen. Auch Jack konnte nicht einschlafen. Er stand am offenen Fenster und starrte hinaus ohne etwas zu erkennen. Niemals war ihm das Haus so einsam vorgekommen, seit hier Menschen waren, die lieben durften. Er senkte seine Barrieren und ließ den Geist frei. Zuerst flog er um das Haus herum, dann schaute er bei den Gefährten vorbei und sah, dass alle schliefen, nur Brigitt war nicht im Zimmer, sie stand vor seiner Tür und hatte die Hand erhoben, als wollte sie klopfen, dann drehte sie sich wieder um. Ruckartig zog er sich in den Körper zurück und wäre beinahe aus dem Fenster gefallen. Gerade noch konnte er einen Sturz verhindern und machte erheblichen Lärm dabei. Er hielt sich am Rahmen fest und zog sich keuchend zurück.
Durch das Geräusch alarmiert, war sie ohne zu klopfen eingetreten und hielt bestürzt inne. „Jack!“, entfuhr es ihr. „Was machst du?“
Hastig drehte er sich um und stieß dabei gegen den Bettpfosten. „Nichts“, sagte er rasch. „Ich mache nichts. Geh schlafen, Brigitt.“
„Zuerst will ich wissen, warum du halb aus dem Fenster …“
„Ich habe mich nur zu weit vorgelehnt“, log er. „Lass mich alleine.“
Unschlüssig blieb sie an der Tür stehen und drehte sich dann um. Aber sie ging nicht zu Bett sondern zu Alex, setzte sich an sein Bett und schlief dort schließlich, seine Hand haltend, ein. Gegen morgen regte er sich. Vorsichtig löste er den Griff von Brigitt und drehte sich zu ihr um, wobei er leiste ächzte und stöhnte. Sofort erwachte sie und lächelte ihn schwach an. Er lächelte zurück und schloss dann wieder die Augen. „Schlaf noch etwas, Alex, du hast es nötig. Hast du Schmerzen? Soll ich Sven holen oder James?“ Mit geschlossenen Augen schüttelte er den Kopf, flüsterte aber: „Nein, bleib noch etwas bei mir.“ Sein Atem ging viel leichter als noch am Vortag und er schien wirklich keine Schmerzen zu haben. Brigitt streckte sich und lockerte die Nackenmuskulatur, da sagte er: „Ich habe alles verraten.“ Er klang so unendlich traurig und bitter, dass sich Brigitt neben ihn legte und ihn in den Arm nahm. Leise flüsterte sie ihm ins Ohr und erzählte was Jack gemacht hatte. „Nichts ist verloren, Alex, nichts. Du hast getan, was du musstest.“ Dabei drückte sie ihn fest an sich. Dann sprang sie unvermittelt auf, strich sich durchs Haar und ging ans Fenster. ‚Nein, nie wieder. Ich darf dich nie wieder umarmen, das halte ich nicht aus’, dachte sie und betrachtete den Sonnenaufgang. Langsam wurde es heller.
Sie stand schon eine Weile so, da trat Sven ein. „He, was machst du da?“, fragte er nicht unfreundlich aber überrascht. „Ich sehe aus dem Fenster“, antwortete sie düster. Dann kam er zu ihr und umarmte sie scheu. Das hatte er seit der Kinderzeit nicht mehr gemacht. Kurz erwiderte sie die Geste und rückte schnell von ihm ab. Irgendwie waren ihr jetzt Berührungen zuwider. Es erinnerte sie zu sehr an Alex, und dass er ihre Liebe nicht erwiderte. Dann fiel ihr Jack ein und das gab ihr ebenfalls einen Stich. Hastig drehte sie sich um und verließ den Raum. Sie ging in ihr eigenes Zimmer, legte sich ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Sie wollte keinen mehr sehen.
Einerseits war er froh, andererseits enttäuscht als sie gegangen war. Lange stand er noch am Fenster und starrte hinaus, ohne etwas zu sehen. Erst als es bereits dämmerte legte er sich ins Bett und befahl sich zu schlafen, diesmal halfen die Übungen nicht, die ihm die erforderliche Ruhe bringen sollten. Unruhig warf er sich im Bett herum.
Als er von unten Geräusche vernahm, stand er auf, zog sich an und ging nachschauen, wer schon wach war.
Im Speisezimmer fand er Sven und Celia, die sich angeregt unterhielten und zaghaft kicherten. Er wollte sie nicht stören, also nahm er nur etwas zu trinken und ging vors Haus. Ein kühler Wind wehte und die Luft roch frisch. Leicht fröstelnd setzte er sich auf die alte Holzbank neben der Tür und stellte sich vor, wie es wäre, wenn er genauso alt aussehen würde, wie er sich fühlte. Er trank sein Koffeingetränk und ließ die Gedanken treiben. Da fiel ihm ein, dass es noch einige Dinge zu erledigen galt, die er am Vortag einfach so vergessen hatte. Aber er war so müde, dass er sich nicht aufraffen konnte etwas zu tun.
„Was wirst du jetzt machen, Celia?“, fragte Sven und nippte an seinem Tee. Celia blickte nachdenklich in seine Richtung und zuckte unschlüssig die Schultern. „Ich weiß es auch noch nicht“, sagte er, als sie nicht antwortete.
„Ich habe Angst vor der Welt bekommen“, stellte sie nach einer Weile fest.
„Das kann ich verstehen, mir geht es auch so. Aber die Welt besteht zum Glück nicht nur aus Eumeria und Schmerzen. Soll ich dir etwas von dieser Welt zeigen?“ Er hatte sehr enthusiastisch gesprochen und nach ihrer Hand gegriffen, wobei sich seine Gedanken mit ihren verbanden. Ganz leise begannen sie zu kichern, dann wurden sie lauter und schließlich lachten sie, dass es sie selbst in Erstaunen versetzte.
Ivo betrat verwirrt den Raum und starrte die beiden an, die sich die Bäuche vor lachen hielten.
„Was ist so komisch?“, fragte er. Sven schaute kurz auf und musste weiterlachen. Er sandte seinem Bruder einen kurzen Gedanken zu, dann stimmte auch er in das Gelächter ein. „Ja, lasst uns über den ganzen Unsinn lachen“, sagte er.
Sie lachten so laut und so lange, bis Jack das Zimmer betrat, da verstummten sie plötzlich. „Lasst euch von mir nicht aufhalten. Ich muss noch einmal in die Stadt. Mir ist eingefallen, dass ihr alle keine Papiere habt, das will ich noch machen und dann braucht ihr auch noch Kleidung, ihr habt ja nichts außer den Uniformen.“ Ivo starrte ihn aus großen Augen an und sagte schließlich völlig verblüfft: „Du bist sehr großzügig. Ich weiß gar nicht, wie wir dir das danken sollen.“
„Versucht es am besten gar nicht erst“, erwiderte er schroff und ging wieder.
Ivo und Sven blickten sich ratlos an, zuckten die Schultern und begannen sogleich wieder zu lachen. Es war fast wie ein Rausch, auch Celia fiel wieder in das Gelächter mit ein. Sie hörten erst auf, als sie nicht mehr konnten. Danach fühlten sie sich besser auch wenn ihre Muskeln von der ungewohnten Bewegung schmerzten und sie sich dumm vorkamen, wegen nichts so gelacht zu haben.
Jack stieg die Treppe hoch und schaute kurz bei Alex vorbei. Er war wach und schaute sich im Zimmer um. „Hallo“, sagte er, als er den Besucher entdeckte. „Schön, Sie kennen zu lernen. Ich dachte nicht, dass Sie es noch schaffen würden.“ Seine Stimme klang heiser und müde, dennoch fuhr er fort: „Kommen Sie doch einen Moment zu mir. Dieser James holt mir gerade ein Frühstück, also habe ich Zeit und ich bin nicht mehr schläfrig.“ Jack setzte sich zu ihm ans Bett und Alex ließ sich alles berichten, was vorgefallen war. Vieles davon konnte er kaum fassen, aber er nahm es als Tatsache an und als Jack geendet hatte, hatte er viel zum Nachdenken. „Ja, Professor, so ist das gewesen. Jetzt seid ihr alle hier in meinem Haus und ich werde euch nachher gültige Papiere besorgen.“
„Warum tun Sie das alles?“
Jack dachte eine Weile darüber nach, bevor er schlicht sagte: „Darüber will ich nicht reden.“
„Oje“, war der einzige Kommentar den Alex dazu abgab.
Jack blieb noch eine Weile sitzen und als James mit dem Frühstück kam, ging er zu Brigitt. Sachte klopfte er und rief ihren Namen. Als sie sich nicht meldete, wollte er schon wieder gehen, doch da öffnete sie die Tür und fragte: „Was willst du?“ Er fuhr sich durchs Haar und sagte: „Heute fragt mich jeder, was ich will. Zuerst – kann ich rein kommen?“ Erst als sie nickte und den Weg freigab, trat er ein und schaute sich um. Das war einmal das Zimmer seiner Erzeugerin gewesen. In einem Nebenraum hatte er als Säugling mit einer Amme geschlafen, jetzt war es ein Ankleideraum. Das Schlafzimmer war schön geschnitten, hatte ein Erkerfenster mit einer Bank darunter, darauf saß sie jetzt und schaute ihn fragend an.
„Ich muss noch einmal in die Stadt und ich wollte dich fragen, ob du mich begleiten willst.“
Sie schaute ihn nun ungläubig an und fragte dann nach dem Grund der Fahrt. Er nannte ihn und sie willigte schließlich ein. „Schade, dass ich total pleite bin, ich hätte dringend einige Sachen gebraucht“, flüsterte sie.
„Darf ich dir aushelfen? Bei mir ist Geld wahrlich keine Mangelware, ich habe mehr als genug, da fällt es nicht auf, wenn ich etwas davon ausgebe. Für mich brauche ich nicht viel und ich habe mich immer gefragt, was ich damit machen soll.“
„Du bist zu großzügig, aber ich brauche etwas, also werde ich deine Hilfe weiter in Anspruch nehmen müssen und …“ Hastig schloss sie den Mund. Das wollte sie lieber nicht sagen, aber Jack hatte wie gewöhnlich das Nichtgesagte empfangen und er wurde rot vor Verlegenheit.
„So war das nicht gemeint. Ich stehe zu dem was ich sage und ich meine es so, wie ich es sage, auch wenn ich im Notfall lügen kann wie kein Zweiter.“
So nahm sie das Angebot an und bald fuhren sie in die Stadt. Zuerst statteten sie seinem Büro einen Besuch ab. Dort blieben sie einige Stunden, in denen Jack die Angelegenheit mit den Papieren regelte und die Anklage gegen Pippa und Bennet formulierte um sie dem zuständigen Staatsanwalt vorzulegen. Als das geschehen war, belobigte er noch die Beamten wegen ihres besonnenen Eingreifens, verschob einen Pressetermin auf den Abend und dann war es schon fast zu spät zum Einkaufen. Brigitt war währenddessen ungeduldig in den Büros herumgelaufen und war sich wieder einmal als lästiges Anhängsel vorgekommen.
„Komm, jetzt suchst du dir zuerst ein Kleid für den heutigen Pressetermin und morgen gehen wir dann richtig einkaufen, dann kannst du auch für die Anderen etwas besorgen. Aber ich musste das jetzt erledigen.“ In einer Nebenstraße befand sich eine kleine Schneiderei, die nicht nur nach Maß fertigte, sondern auch normale Konfektion verkaufte. Brigitt war von dem Angebot überwältigt. Sie wählte schließlich das günstigste Kleid, weil sie es vermessen fand, soviel Geld nur für eine Sache auszugeben. Immer hatten sie sparen müssen und sie hatte oft die alten Hosen von Ivo getragen. Auf dem Hof war es egal gewesen, was sie anhatte, die Tiere hatten sich nicht daran gestört.
Jack ließ es einpacken und beglich die Rechnung, dann gingen sie nebenan ins Schuhgeschäft und dort konnte sie nicht mehr frei wählen, weil sie zum Kleid passen mussten. So dauerte es lange, bis sie ein passendes Paar gefunden hatte und wieder beglich Jack die Rechnung und trug das Paket zum Wagen. Schweigend fuhren sie zu seiner Wohnung. Sie hatten gerade noch eine Stunde Zeit, um sich für die Konferenz fertig zu machen.
Brigitt staunte, als sie ihn in der Ausgehuniform mit all den Orden sah, die er sich verdient hatte. Er wirkte noch größer und ernster. Aber noch mehr staunte er über ihre Veränderung. Das Kleid in einem hellen Grün stand ihr ausgezeichnet, auch die Schlichtheit des Schnitts passte zu ihr. Alles saß perfekt und dennoch schien sie sich nicht wohlzufühlen, so fragte er: „Willst du lieber hier warten? Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst. Für dich ist das keine Pflichtveranstaltung, ich weiß nur nicht, wie lange es dauern wird.“
Sie überlegte eine Weile, dann sagte sie: „Wenn es dir wirklich nichts ausmacht, dann möchte ich lieber bleiben.“ Plötzlich wirkte er enttäuscht, aber er fasste sich schnell wieder, murmelte einen Abschiedsgruß und ging seiner Pflicht nach.
Brigitt zog das Kleid wieder aus und dachte: ‚Schade, jetzt hat er mir das ganz umsonst gekauft. Aber ich kann dort einfach nicht hingehen und mich allen Leuten zeigen. Das schaffe ich nicht.’
Die Zeit, in der er weg war vertrieb sie sich mit lesen und Musik hören. Dann stand er unvermutet vor ihr. Er wirkte ärgerlich, hatte sich aber wie gewohnt eisern unter Kontrolle. „Irgendwann platze ich“, sagte er schließlich, während er sich einen Whisky eingoss. „Die legen es tatsächlich auf einen Eklat an. Aber ich werde einen Besen fressen, bevor ich mir diese Blöße gebe.“ Er wusste nicht warum er das sagte, er war nur nach der Konferenz wutentbrannt weggefahren und hatte alle Termine für die nächsten Tage abgesagt. Nur einen musste er in den nächsten beiden Wochen wahrnehmen.
„Wir kaufen morgen alles Nötige ein und dann fahren wir zurück aufs Land“, bestimmte er. Brigitt nahm es freudig zur Kenntnis und fühlte sich schuldig dabei.
„Du bist nicht schuld, an gar nichts“, sagte er als er ihren Gedanken aufnahm. Da sprang sie auf und rief: „Verdammt noch mal, ist das schwierig mit einem Telepathen in einem Raum zu sein! Kaum denke ich etwas, kommentierst du es! Es ist ja fast so als wäre ich mit meinen Brüdern in einem Raum! Ich gehe jetzt schlafen.“
Sie sprang auf und rannte in das Gästezimmer. Verblüfft blieb Jack wo er war und haderte mit sich selbst, weil er anscheinend nichts mehr richtig machen konnte. Er wollte sie nur beruhigen und hatte alles nur schlimmer gemacht.
Deprimiert saß er die halbe Nacht wach und hörte Schuberts „Der Tod und das Mädchen“. Immer wieder ließ er es abspielen, bis er schließlich einschlief.
Brigitt war nicht minder niedergeschlagen, aber sie wollte es sich nicht eingestehen. Sie tat es als Heimweh ab und weinte sich in den Schlaf. Wieder einmal fühlte sie sich als Versagerin.
Am nächsten Tag taten sie als ob nichts vorgefallen wäre und machten ihren Einkäufe. Brigitt erstand robuste Kleidung für sich, ihre Brüder, James, Celia und Alex. Dann besorgte sie noch einige Hygieneartikel und kurz nach dem Mittag waren sie schon wieder auf dem Weg aus der Stadt. Sie hatten nur einen kurzen Halt beim Inlandschutz gemacht und Jack hatte alle Papiere erhalten, die er angefordert hatte.
Kurz nach Dunkelwerden kamen sie am Haus an. Während der Fahrt, hatten sie, wenn überhaupt nur über belanglose Dinge gesprochen. Jack hatte es krampfhaft vermieden irgendeinen Gedanken von ihr aufzunehmen.
Brigitt wurde freudig begrüßt und alle lobten die Sachen, die sie mitgebracht hatte. Sven fragte sie über die Kaufhäuser aus und über die Mädchen. Aber da konnte sie nur wenig Auskunft geben. Sie hatte nur rasch ihre Erledigungen abgeschlossen und kein Auge auf etwas anderes gehabt. Enttäuscht über sowenig Sinn für Kultur gingen Sven und Celia auf ihre Zimmer und zogen sich um. Brigitt hatte ihren Sinn für räumliches Erkennen bewiesen und für jeden das Passende besorgt. Sie hatte auch den Geschmack jedes einzelnen getroffen, nur bei James war sie sich nicht sicher gewesen, so hatte sie das gleiche gekauft, wie für Alex, nur einige Nummern größer.
Als alle versorgt waren, ging sie Alex begrüßen. Er sah schon viel besser aus, als noch am Vortag. Mittlerweile konnte er wieder aufstehen, wenn auch nicht für lange. Er freute sich, sie zu sehen und sagte es auch. Dann merkte er, dass sie etwas bedrückte. Wie so oft wagte er nicht, sie danach zu fragen. So saßen sie stumm am Fenster und betrachteten die Nacht.
„Ich habe es immer noch nicht gelernt“, flüsterte sie in die Stille. Alex fuhr hoch, beinahe wäre er im Sitzen eingenickt. „Was hast du nicht gelernt?“, fragte er erschrocken.
„Es ist schwierig, gerade dir, das zu sagen“, murmelte sie. Er ahnte was sie damit sagen wollte und schwieg betroffen. „Nichts hat sich geändert, Alex, absolut nichts. Es ist alleine meine Schuld, dass sie dich erwischt haben und es tut mir weh, weil du so verletzt wurdest.“ Starr schaute sie auf ihre Hände und wagte keinen Blick auf ihn. Dann sprang sie auf und rief: „Alles ist meine Schuld! Hätte ich diese verdammte illegale Sendung nicht gemacht, dann hätten sie uns nie gefunden, ganz gleich was er sagen mag, es ist mein Fehler gewesen. Mutter und Vater sind tot und ich bin nicht einmal fähig um sie zu trauern!“ Rasch lief sie hinaus und auf ihr Zimmer. Dort schloss sie sich ein und gab sich ihrem Elend hin.
Geschockt blieb Alex sitzen. Er hatte nicht gedacht, dass ihr das alles so nahe gehen würde. ‚Trauer muss einen Weg finden, sonst bringt sie einen um’, dachte er betrübt. Dann stand er auf und wankte zum Bett. Er nahm sich fest vor, mit ihr am nächsten Tag darüber zu reden. Aber dazu kam es nie. Brigitt vermied fortan jedes Zusammensein mit ihm, nur wenn noch jemand anwesend war, blieb sie. Sie wagte es nicht mehr, ihm allein unter die Augen zu treten, zu stark waren ihre Schuldgefühle.
Jack merkte natürlich, dass eine Änderung stattgefunden hatte. Deshalb sprach er Brigitt in einer ruhigen Minute an. Alle waren mit der Erkundung der Umgebung beschäftigt und Alex schlief auf der Terrasse.
„Brigitt“, sagte er ungewöhnlich sanft. Sie schaute von ihrer Arbeit auf. Vor einigen Tagen hatte sie angefangen, seine archäologischen Bücher zu studieren und sich schon viele Notizen gemacht.
„Wir müssen, denke ich, dringend reden. Ich sehe, dass du dich nicht wohl fühlst und du jedem aus dem Weg gehst.“ Er strich sich durch das Haar und fuhr aufseufzend fort: „Ich wünschte, du würdest mir sagen, was dich so bedrückt. Soll ich wieder wegfahren? Ihr könnt gerne hierbleiben, so lange ihr wollt.“ Er setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch und wartete, wobei er vermied sie direkt anzusehen. Mit der Zeit hatte er gemerkt, dass sie nicht gerne angesehen wurde. Warum das so war, konnte er nicht erraten, aber er ahnte, dass es an ihrer ständigen Unsicherheit lag.
„Es hat nicht wirklich mit dir zu tun“, begann sie schließlich, legte den Stift zur Seite und schloss das Buch. Dann schien sie ins Leere zu schauen, während sie weiterredete: „Ich fühle mich nur so unnütz. Alle machen Pläne was sie jetzt machen werden. Ivo, Sven, Celia, James und Alex wollen nach Ulan Bator gehen, weil Sven seine Ausbildung fertig machen will und Celia geht mit, weil sie Sven mag. James hat in der Betreuung von Alex eine Aufgabe gefunden, die ihm Sinn gibt. Heute Morgen hat mir Ivo freudig erzählt, dass er in Ulan Bator Geologie studieren will. Wusstest du, dass er dort bereits angefragt hat und er aufgenommen wurde?“ Sie schaute Jack an und er nickte bestätigend. „Sogar du hast es vor mir erfahren. Sie haben mich nicht einmal gefragt, ob ich mitkommen möchte. Ich weiß nicht, Jack, ich komme mir ausgeschlossen vor.“ Sie wollte schon aufstehen und weggehen, da griff er über den Tisch hinweg nach ihrer Hand und sagte: „Geh nicht. Bleib bei mir – so lange du willst oder so lange, bis du dir über deinen Weg klar geworden bist.“
„Ich wäre dir genauso im Weg, wie den anderen“, sagte sie, blieb aber sitzen.
„Willst du wenigstens darüber nachdenken? Ich …“, er schluckte einige Male und blinzelte heftig, was Brigitt irritierte, weil er selten Gefühle zeigte. Er räusperte sich, wollte sich wieder durchs Haar streichen, bemerkte, dass er ihre Hand noch hielt und ließ sie, wo sie war. Dann fuhr er fort: „Ich hätte es gerne, wenn du bei mir bliebest.“
„Warum, Jack? Ich bin nichts, eine heimatlose Bäuerin, nein, nicht einmal eine Bäuerin, eine Magd, ein Viehhirte.“ Sie wurde immer heftiger, riss sich los und warf die Bücher zu Boden. „Das bringt doch alles nichts! Was nützen mir diese gottverdammten Bücher, wenn ich nicht einmal eine Studienberechtigung habe!“
Jack sprang nun ebenfalls auf und rannte zu ihr. Er nahm die sich Wehrende in den Arm und hielt sie fest, bis sie sich heulend an ihn klammerte. Dort schluchzte sie: „Es tut mir so leid, Mutter, Vater. Ich wollte euch keinen Kummer bereiten. Nicht einmal verabschieden konnte ich mich und es ist alles meine Schuld.“ Betreten hielt er sie fest. Er hatte nicht geahnt, dass ihre Schuldgefühle so tief gingen, dass sie sich die Schuld an allem gab. Fast schon wollte er sie beruhigen, bis ihm wieder einfiel, wie barsch sie auf oberflächliche Floskeln reagierte. So hielt er sie einfach und wartete, was noch kommen würde. Es war eine schwere Probe für ihn, nicht seine Fähigkeiten zu nutzen und ihre Gedanken zu lesen.
„Ich habe soviel falsch gemacht und es gibt keinen Weg zurück. Wie soll ich irgendwo leben können mit dieser Schuld? Mutter und Vater – sind weg, ich werde mich nie bei ihnen entschuldigen können, nie aussprechen. Es ist für immer zu spät. Alex“, ihre Stimme wurde eine Spur bitterer, als sie an ihn dachte. „Ihn liebe ich, dass es wehtut und dennoch habe ich ihn im Stich gelassen. Ich bin es nicht wert, noch zu leben. Warum konnte nicht ich sterben statt Mutter oder Vater?“ Sie wollte sich losreißen, aber Jack hielt sie unerbittlich fest. Er nahm sie an den Oberarmen und schob sie ein Stück von sich. Dann beugte er sich hinab, schaute ihr in die Augen und sagte: „Erstens hast du niemanden im Stich gelassen, zweitens sind deine Eltern nicht wegen dir gestorben, ich habe dir doch gesagt, dass wir diesen David Nochwas gekauft hatten und drittens, was deine Schuld angeht – wir müssen alle mit unseren Fehlern leben und daraus lernen. Du wurdest mir in den Weg gelegt, damit mir, von dir, die Augen geöffnet werden und ich endlich die begonnene Aufgabe fortsetze. – Schau mich an, Brigitt, wende dich nicht ab. Ich bin ein Mörder, ein Folterknecht und unbarmherziger Diktator in meinen Einheiten – aber du hast mich geändert. Du warst es, die den Wegweiser in die richtige Richtung gerückt hat und mir die Tür zum Leben gezeigt hat. Denkst du, es ist von ungefähr, dass ich euch geholfen habe? Das hat sicher nichts mit deiner liebreizenden Art oder deinem Aussehen zu tun, darauf lege ich keinen Wert. Du bist grundehrlich, Brigitt, erdverbunden und du lässt niemanden im Stich. Wer ist nackt durch den Wald gelaufen und hat der Gefahr nicht geachtet, die sie umgeben hat? Hm? Ich weiß noch genau, wie du mich niedergeschlagen hast.“ In der Erinnerung daran musste er lächeln, auch wenn es verzerrt wirkte, weil er sich auch an den Schmerz erinnerte. „Komm“, sagte er dann und führte sie hinaus. Zusammen gingen sie in einen Schuppen, dort hatte er ein Solarmotorrad, wie es Alex hatte. „Was hältst du von einer rasanten Ausfahrt?“
„Gute Idee“, antwortete sie und wischte die Tränen aus dem Gesicht. Er wies auf das Gefährt und grinste. „Du fährst“, sagte er dann und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich kann nicht.“
„Pah! Erzähl mir keinen Blödsinn, sicher kannst du. Ich sitze hinten und du fährst. Los, steig auf.“ Nach langem Hin und Her bestieg sie doch das Motorrad und startete. Dann kletterte er hinter sie, streckte einen Arm nach vorne und sagte: „Gib Gas, Lady!“
Es war eine wilde Fahrt. Brigitt war anfangs unsicher und schaltete einige Male falsch aber Jack regte sich nicht auf und sie wurde sicherer. Immer schneller fuhren sie durch die Landschaft. Endlich hielt sie an Vor ihnen lagen die Außenbezirke von Sunflower. Trostlos sah es hier aus und dennoch fühlte sich Brigitt viel wohler. „Danke“, sagte sie und umarmte ihn spontan. Dann drehte sie sich zu den tristen Gebäuden und meinte düster: „Wer hier wohnen muss, ist wirklich arm dran.“
„Das stimmt allerdings. Ich habe vor, das etwas zu ändern. Wenn die Verteilung etwas gerechter wird, dann könnte man das hier langfristig abstellen und niemand müsste in diesen Elendsquartieren hausen. Ich kenne diese Wohnungen von innen. Als Ron Christensen war ich öfter bei einem Freund eingeladen, der dort gewohnt hat, nun haust er in Zurick, was auch nicht besser ist.“ Er starrte abwechselnd auf die düsteren Hochhäuser und dann wieder auf Brigitt. „Willst du mit mir als Partnerin etwas verändern?“, rang er sich endlich durch. Jetzt schaute sie auf ihn und sagte dann nachdenklich: „Als Partnerin … etwas bewegen … ja, warum nicht?“ Dann lächelten sie sich an, wie sie es in den Katakomben zuletzt getan hatten, bevor er ihr von seiner schrecklichen Macht berichtet hatte.
Als sie zurück waren, erzählte sie den anderen von ihrer Entscheidung, in Sunflower zu bleiben. „Bist du verrückt“, war noch das Mildeste, was sie zu hören bekam, aber sie blieb fest und als Alex schließlich ein Machtwort sprach, verstummten alle. „Es ist ihre Entscheidung! Ich will von niemandem mehr etwas hören! Jeder hier hat einen Weg vor sich und keiner braucht sich über den Entschluss eines anderen aufzuregen. – Ich wünsche dir alles Gute, Brigitt und ich halte deine Entscheidung für gut.“ Ein letztes Mal nahm er sie väterlich in den Arm und küsste sie auf die Wange, was ihr die Tränen aus den Augen trieb. „Du sollst doch nicht nett zu mir sein, Alex“, sagte sie lachend und weinend zugleich.
„Dann bin ich jetzt nicht nett und sage dir, mach deinen Job hier gut, Mädel. Ich bin stolz auf dich.“
Am nächsten Abend war Jack zu einem Empfang bei der Präsidentin geladen und somit auch Brigitt. Bereits am Morgen fuhren sie los, weil er Brigitt neu einkleiden wollte. Sie hatte keinerlei Abendgarderobe. Als das erledigt war, fuhren sie ins Büro und er zeigte ihr anhand von Bildern die Personen, die sie am Abend sehen würde. Darunter waren auch Verwandte von ihr, General Lindstrom mit Gefährtin sowie Senatorin und Senator Landmann. Dann erklärte er ihr einige grundlegende Änderungen, die er von politischer Seite her einführen wollte, darunter eine Reform des Bildungswesens und des Arbeitsrechts. Er hatte vor, den Senat zu überzeugen, wie wichtig die Einhaltung von Mindeststandards war und wie unsinnig das bisherige Lohn- und Abgabensystem. „Ich kann dir nicht alles in diesen wenigen Stunden sagen, aber heute Abend brauchen wir nur zu glänzen und uns in unserem Ruhm zu sonnen, die Präsidentin gerettet zu haben. Natürlich werden wir heute auch Emilie begegnen, das wird mir eine besondere Freude sein.“ Er grinste gefährlich.
Brigitt staunte als sie fertig angezogen war. Das neue Kleid betonte ihre Figur und ließ sie zierlicher erscheinen als sie tatsächlich war. Es war ihr nur mit Mühe gelungen, Jack davon zu überzeugen, dass sie keinerlei Wert auf Schmuck legt und sie gerne darauf verzichten würde. Er hatte schließlich nachgegeben.
Als sie ihm fertig angezogen gegenüberstand war er sprachlos. Sie hatte recht gehabt, was den Schmuck anging. „Du wirst heute mit deiner gewollten Schlichtheit alle in den Schatten stellen. Sie werden dir die Füße küssen wollen und den Boden anbeten über den du schreitest, nein schwebst.“ Sie lachte. „Jack, was soll das? Du klingst ja richtig …“
„Stimmt. Entschuldige. Aber mir geht es eben im Moment so. Ich fühle mich richtig aufgekratzt und noch nie habe ich mich auf einen Abend so gefreut wie heute.“ Dann fuhren sie zum Empfang. Jack hatte die schwarze Ausgehuniform mit den vielen Orden an, daneben schien Brigitt in dem zartvioletten Kleid zu strahlen.
Sie ließen sich vom Autopiloten fahren und bald waren sie an ihrem Ziel. Zu früh, wie Jack fand, aber nicht zu früh, was ein angemessenes Erscheinen anging.
Der Empfang war pompös. Es waren sämtliche Senatoren, Senatorinnen, hohe Militärs und hochrangige Gäste aus dem Ausland anwesend. Alle wirkten ernst und gemessen.
Der Mann am Empfang verkündete sie mit Namen. Warum die Administration auf dieses Relikt aus einer fernen Vergangenheit zurückgegriffen hatte, war eines der vielen ungelösten Rätsel auf die es nie eine Antwort geben würde.
„Jack MacGregor, Chef des Inlandschutzes und Vorsitzender der Telepathenkommission mit seiner Partnerin Brigitt Lindstrom-Nielsson.“ Alle starrten zu ihnen und Jack schritt stolz lächelnd die Stufen zum Saal hinab. Er begrüßte einige Leute mit einem Nicken und ging dann direkt zur Präsidentin. Steif war seine Verbeugung aber Brigitt neigte nur leicht den Kopf. Dann sagte Jack noch immer lächelnd, was sehr befremdlich auf die Umstehenden wirkte: „Präsidentin, ich möchte Sie meiner Partnerin vorstellen, Brigitt Lindstrom-Nielsson. Wir bitten Sie morgen um ein dringliches Gespräch, was Reformen angeht. Es ist wirklich wichtig, sonst würde ich nicht das Wochenende dafür opfern wollen.“
„Was sind das für Pläne, Jack?“, fragte sie und beugte sich interessiert vor. Er berichtete kurz, dass er sie in Punkto Bildung und Arbeitsrecht unterstützen würde, er dafür von ihr im Gegenzug eine Änderung der Verfassung verlangte, indem die Religion herausgenommen wurde, die seiner Meinung nach nichts mit einem Staatsgebilde zu tun hatte und er wollte freie Hand für Reformen im eigenen Bereich. „Ich bin erstaunt, dass Sie mich unterstützen wollen“, sagte sie schließlich und sicherte ihm zu, das Geforderte schriftlich zu bestätigen.
„Ich werde Sie beim Wort nehmen, Präsidentin und morgen gegen Mittag bei Ihnen erscheinen. Vielleicht wäre es auch einmal an der Zeit, die Gefühlswelt der Menschen, besonders der Telepathen zu reformieren.“ Er lächelte schon wieder so unverschämt zufrieden, wie Brigitt fand. Noch einmal verbeugte er sich steif vor der mächtigen Frau und schritt dann mit Brigitt an der Hand in die Mitte des Saals. Er flüsterte ihr ins Ohr: „Bitte, spiel jetzt mit.“ Dann blieb er stehen, drehte sie zu sich und küsste sie auf den Mund.
Ein erstauntes Raunen ging durch den Saal. Einige der ausländischen Gäste applaudierten verhalten andere riefen leise „bravo“. Brigitt war zuerst erschrocken, doch so widerlich war es gar nicht, wie sie gefürchtet hatte.
„Du machst mich gerade zum glücklichsten Mann des Universums“, verkündete er, als er sie freigab.
„Na, das halte ich für übertrieben“, antwortete sie keck. „Wo gibt es hier Getränke?“
„Das finde ich aber jetzt nicht nett von dir. Aber wenn du so durstig bist nach dem Kuss, muss ich dich wohl an das Buffet führen. Folge mir, Brigitt Lindstrom-Nielsson.“
„Wohin du willst, solange ich nur am Ziel etwas zu trinken bekomme.“
Ein sehr alter Mann näherte sich ihnen. Jack blieb stehen als er ihn bemerkte und verbeugte sich. „Senator“, sagte er höflich und ließ ihn mit Brigitt alleine. „Ich hole Getränke“, damit war er weg und sie wusste nicht, wie ihr geschah.
„Du bist also meine Enkelin. Ich dachte nicht, eines der Kinder meines Sohnes, jemals zu sehen. Aber wie ich eben bemerken durfte, bist du ebenso verrückt wie er.“ Senator Landmann lachte, es war als würde Papier zerrissen werden und Brigitt wusste noch immer nicht, was sie sagen sollte. Schließlich sagte sie: „Es freut mich auch, Senator. Mutter sagte mir, dass Sie ihr geholfen haben und dafür möchte ich mich noch einmal bedanken.“
„Ja, ja, das ist lange her. Vielleicht wird es wirklich Zeit, dass hier Änderungen stattfinden, zulange ist das System schon in einer Art Erstarrung gefangen. Mach etwas aus deiner Macht, mein Kind.“ Er küsste ihre Hand, drehte sich um und ging seiner Wege.
Jack und Brigitt arbeiteten hart an der Durchsetzung ihrer Forderungen und langsam kam Bewegung in die Sache. Zuerst wurde die schmerzhafte Befragung abgeschafft, dann verkleinerte er nach und nach den Inlandschutz bis nur noch eine kleine schlafkräftige Truppe zurückblieb, die weiterhin direkt der Telepathen-Konferenz unterstellt blieb.
Lange brauchte es, bis Brigitt begann die Liebe zu fühlen, die sie dachte verloren zu haben, als sie Alex ziehen ließ. Doch eines Tages erwachte sie und fühlte sich wie neugeboren. Sie hatte das Gefühl, Bäume ausreißen zu können und alles zu schaffen, was sie sich vorgenommen hatte. Fröhlich pfeifend lief sie nackt durch die Stadtwohnung und suchte nach einem fröhlichen Lied im Automaten. Dann rief sie: „Ich habe dich gefunden! Endlich! Sie ist das Tor und dahinter das Leben!“
Ja, Brigitt hat ihren Weg gemacht. Ich habe lange in Ulan Bator unterrichtet, vom Rollstuhl aus zuletzt. Jetzt habe ich aufgehört und die Aufgabe den Jungen übergeben. Ab und zu bekomme ich Nachrichten aus Eumeria. Die Reformen greifen nur langsam, es gibt eine Öffnung. Jack hält aber nach wie vor die Fäden fest in der Hand. Er wird sich nie von seiner Macht trennen, dafür ist er zu sehr mit ihr verwachsen, einzig Brigitt hält ihn auf dem Boden. Sie war das Beste, das ihm passieren konnte. Wenn ich ihm zuerst begegnet wäre, hätte er es nicht überlebt und ich wahrscheinlich auch nicht.
Ich bin froh, dass James hier ist. Er ist der geborene Pfleger und Sven eifert ihm nach. Ich denke auch diese beiden sollten sich begegnen. Sven hat eine Vaterfigur gebraucht, nachdem Robert tot war. Celia ist die gute Seele des Hauses. Lange hat sie gebraucht, sich an das Leben außerhalb des Labors zu gewöhnen und nun ist sie tagaus tagein beschäftig, macht Spaziergänge und liebt das Leben an sich. Keiner in unserer Umgebung hält sie für absonderlich. Hier sind nämlich alle etwas wunderlich, wenn ihr mich fragt.
Wir wohnen direkt in der Universität, Ivo hat die Wohnung bekommen, nachdem er hier studiert, promoviert und eine Professur ergattert hatte. Er ist ebenso wie Agnes der geborene Lehrer und die Universität ist sein Land.
Ja, wir sind alle unseren Weg gegangen.
Nur manchmal wünschte ich, dass es anders gekommen wäre.
Ich bin Alexej Ingmar Smirnov und dies ist das Leben meiner Kinder, auch wenn sie nicht meine Gene haben – die Kinder Eumerias.
(c) Herta K. 2010