Unterschätzen Sie die Dachse nicht!
Diese Geschichte wurde inspiriert durch meinen lieben Freund @*******1960 -----------------
Manchmal höre ich Stimmen. Ich mag die Stimmen. Sie sind freundlich und niemals harsch. Zumindest solange ich mache was sie sagen. Heute haben sie mir befohlen, den Schubkarren und den alten Fuchsschwanz von Papa aus dem Schuppen zu holen und damit in den Wald hinüberzugehen. Ich wollte zuerst nicht weil ich gerade ein ganz schwieriges Puzzle angefangen habe mit wahnsinnig viel Himmel und ich schon prima weit gekommen bin und jetzt erst zum interessanten Teil vorstoße, aber die meinten das hätte Zeit, und der Wald würde bereits rufen, ich solle doch mal das Fenster aufmachen. Hab ich dann gemacht und tatsächlich habe ich lautes Rufen gehört. Kein Witz. Ja, dann mußte ich wohl. Wenn der Wald ruft, muß man folgen. Das habe ich gelernt.
Bald waren wir aus dem vertrauten Gebiet nahe meines Hauses in eine Gegend vorgedrungen, die ich nicht mehr wiedererkannte. Ein Wald wie im Märchen. Hohe Bäume mit erhabener Ausstrahlung wuchsen zwischen großblättrigen Farnen und weich bemoosten Flächen. Wäre plötzlich ein Zwerg um die Ecke geturnt gekommen, ich hätte mich nicht gewundert.
Mühsam lenkte ich die Schubkarre über die wurzeligen Wege, denn natürlich durfte ich mit der Säge, auch wenn sie schon alt und rostig war, nicht auf dem Hauptweg gehen, damit mich der Förster nicht sieht. Hatte ja keinen Leseschein. Ich bin zwar verrückt aber nicht blöd. Kleiner jedoch feiner Unterschied.
Immer wieder mußte ich anhalten und mir den Schweiß von der Stirne wischen. Wir haben August. Da ist es bereits um Acht in der Früh sehr warm. Vor allem wenn man auch noch eine Kamera und drei Objektive mitschleppt. Ach, hatte ich das noch nicht erwähnt? Ja, ich bin Fotograf. Von irgendetwas muß ich ja leben. Von selber hüpft das Essen nicht in den Kühlschrank.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde dieser sinnlosen Plackerei hatten die Stimmen ein Einsehen und zeigten mir einen besonders hohen Baum, locker 20 Meter, den ich umsägen sollte. Ungläubig betrachtete ich den Baum und dann den rostigen alten Fuchsschwanz. Das ist nicht euer Ernst! Doch, kam es zurück. Mach einfach und du wirst schon sehen.
Also setzte ich die Säge an und sie glitt tatsächlich wie Butter durch den Baumstamm. Eigentlich hätte ich ja zuerst ein Eck raushacken müssen aus dem Stamm, aber die Stimmen hatten nichts von einer Axt gesagt, auch nichts vom Bäumefällen ... eigentlich hätte das so niemals funktionieren können, vor allem wäre der Baum nicht mitsamt den Wurzeln umgekippt nur weil ich ihn ein bissl angeritzt habe, aber ich sah mit eigenen Augen, wie der Baumstamm sich langsam zu neigen begann und schließlich mit der Krone unheilvoll krachend gegen den Nachbarn schlug. Ungläubig starrte ich auf die riesigen Wurzeln. Nicht nur, weil sie wirklich enorm waren, sondern weil sich darunter eine Treppe befand. Eine Treppe bitte! Unter einem Baum! Natürlich war ich jetzt neugierig und wollte wissen, wo die hinführt. Die Treppe. Vorsichtig lauschte ich, kein Einspruch. Also stieg ich die kreisförmig angelegten Stufen langsam hinunter, und stand bereits nach wenigen Minuten mitten in einer alten Grabstätte. Sehr grobe Schichtung. Schmucklos. Keine Beigaben. Nur Knochen. Wild durcheinandergeworfen. Keine vollständigen Skelette wie man sie in Kliniken und Arztpraxen dekorativ umeinanderhängen sieht. Wie unordentlich! Fast wäre ich versucht gewesen, die Knochen zu sortieren, aber konnte mich beherrschen. Schon wollte ich mich umdrehen und die Treppe wieder hinaufsteigen, da sah ich aus dem Augenwinkel ein Glitzern. Doch noch etwas Gold? Zwar würde ich es nicht behalten dürfen, soviel war mir klar, aber man konnte immerhin mal gucken. Vorsichtig tastete ich mich weiter nach hinten, es war trotz des von den Baumwurzeln aufgerissenen Riesenloches in der Waldbodendecke doch recht düster hier unten. Das Glitzern war verschwunden und auf einmal stand ein riesiger, alter Dachs vor mir. Er lächelte mich an, soweit Dachse lächeln können, und sprach: ''Gold wirst du hier keines finden. Auch keine Diamanten. Aber es gibt hier in der Gegend andere Schätze für Fotografen wie dich. Wenn du wieder nach oben kommst, wende dich gen Süden und steige den Abhang hinab. Dort wirst du wahrhaftig hohe Bäume finden. Mit diesen Fotos kannst du mühelos deine nächste Ausstellung bestreiten. Ich werde bei der Affengalerie in Paderborn ein gutes Wort für dich einlegen, man möge doch auch einmal Fotos zeigen. Diese Galeristen haben online eine gute Reichweite, wirst sehen. So kommst du eher an Gold als durch Graben in Gräbern. Lebe wohl mein Freund, du wirst beschützt.''
Freudig erregt stieg ich wieder nach oben, griff meine Kameras und die Säge (die Schubkarre ließ ich stehen, die würde niemand stehlen) und stieg den Abhang hinunter. Bereits nach der ersten Biegung konnte ich die Baumriesen sehen. Voller Ehrfurcht blickte ich zu ihnen auf. Daß es so hohe Bäume außerhalb von Australien gab, hatte ich nicht gewußt. Ich haute die Säge in den Boden, stützte meine Kamera am Griff ab und begann zu fotografieren. Wenn ich so versunken bin in meine Kunst fehlt mir jegliches Gefühl für Zeit und ich kam erst wieder zu mir, als die Sonne bereits tief gesunken war und hinter den hohen Bäumen verschwand. Du meine Güte, wie spät war es? Hatte ich den gesamten Tag hier verbracht? Eilig nahm ich Objektive, Kamera und Säge an mich und stieg den Abhang wieder hinauf. Doch der umgesägte Baum war verschwunden. Sowie meine Schubkarre. War es der richtige Abhang gewesen? Gab es mehrere Abhänge? Wo zum Teufel war ich? Panik stieg in mir auf.
Natürlich war ich am Morgen, noch halb im Traum, ohne mein Handy aus dem Haus gegangen. Google mußte nicht alles wissen und Anrufe bekam ich sowieso keine, ich hatte doch meine Stimmen.
Doch jetzt wäre mir eine ungefähre Richtungsanweisung doch sehr zupaß gekommen. Ich mußte mir eingestehen, ich hatte mich verirrt. Wie sollte ich jetzt wieder nach Hause kommen? Und wo waren die Stimmen, wenn man sie brauchte? Verzagt blickte ich in den undurchdringlichen Blätterwald. Vielleicht wenn ich den Abhang noch einmal hinunterstieg und nachzuvollziehen versuchte, von wo ich gekommen war?
Gesagt getan ... doch kaum hatte ich drei Schritte gemacht, hörte ich lautes Singen. Singen? Menschen! Fragen! Weg! Nach Hause! Mit neu erwachter Hoffnung wandte ich mich in die Richtung, in der ich die Sangeskünstler vermutete. Und siehe da, zwischen den Bäumen kam doch tatsächlich ein Trupp Pfadfinder fröhlich des Weges, alle in die typische Uniform gewandet. Als sie mich sahen winkten sie freundlich und wollten an mir vorüberziehen.
''Halt!'', rief ich, ''ich habe eine Frage. Kennen Sie sich hier aus? Ich habe mich verlaufen.''
''Guten Mutes lieber Mann, bin froh wenn ich ihm helfen kann'', sang der Anführer der Truppe lächelnd. ''Wohin möchte er denn reisen? Will den rechten Weg wohl weisen.''
Sollte ich jetzt auch singend antworten? Lieber nicht. Sonst würden sie am Ende laut schreiend davonlaufen. Daher antwortete ich in normaler Sprechstimme: ''Ich wohne in Schafsdorf, neben dem Golfplatz. Und jetzt habe ich völlig die Orientierung verloren.''
''Ach das ist doch kein Problem, hat er jenen Baum gesehn?'' Ich folgte der Richtung seines wedelnden Zeigefingers und in der Tat, dort hinten lag der Baumriese den ich am Morgen eigenhändig zu Fall gebracht hatte und den ich, vom Buschwerk verdeckt, zuvor nicht hatte sehen können.
''Von dort folge er dem Weg, immer gradaus, niemals schräg, und wir gehn jetzt nach Kanada, Hollari und Hollara.'' Die Umstehenden fielen ein in den Refrain und die gesamte Truppe entfernte sich unter jubelndem Gesang: ''Hollari und hollara, wir gehen jetzt nach Kanada!''
Nachdem ich meinen Baum wieder gefunden hatte, war es kein Problem mehr, auch den Weg nach Hause zu finden. Schließlich mußte ich nur meinen eigenen Spuren folgen, die ich am Morgen mit dem Schubkarren im weichen Waldboden gemacht hatte. Kamera, Säge und Objektive sicher in der Schubkarre verstaut, machte ich mich auf den Heimweg. Kurz schoß mir der Gedanke durch den Kopf, wieso ich den armen Baum hatte umsägen müssen, nur damit mir der Dachs die schönen Bäume weiter unten hatte zeigen können, doch da waren die Stimmen auf einmal wieder da: ''Niemals hinterfragen, niemals hinterfragen!'', forderten sie. ''Träume sind Schäume und der Zweck heiligt manchmal die Mittel. Manchmal auch nicht. Aber damit brauchst du dich nicht zu befassen. Geh jetzt einfach nach Hause, koch dir was Gutes und dann laß deine Fotos entwickeln.''
Hatte ich sowieso vorgehabt. Blöde Stimmen. Schmollend schob ich den Schubkarren, den ich eh auch völlig umsonst mitgeschleppt hatte, vor mir her und freute mich einfach nur auf mein Puzzle und natürlich auf das Entwickeln der Bilder.
Ein Jahr später, Schlagzeile in der Paderborner Zeitung: Wilhelmsson, der begnadetste Verrückte seit Kinski! Neue Ausstellung in der Paderborner Affengalerie!
• Herr Wilhelmsson, Sie sind ja bekannt dafür, daß man keine vernünftigen Interviews mit Ihnen führen kann, aber eines würde unsere Leser sicherlich interessieren: Ihre große Karriere begann ja vor einem Jahr mit der Fotoausstellung hier in Paderborn über diese riesenhaften Bäume deren Standort Sie nicht verraten wollten. Seither sind Sie ein weltweit gefragter Fotograf geworden. Worin liegt Ihrer Meinung nach ihr plötzlicher Erfolg begründet?
• Schafe und Dachse. Unterschätzen Sie vor allem die Dachse nicht. Sehr gescheite Tiere.
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