Ein Leben in sieben Akten
Akt 1: Die geschasste GroßschnauzeEs begann nicht 1978, als ich in die Bundeswehr eintrat. Es begann auch nicht 1982, als wir in Somalia waren. Es begann 1974, als meine ersten Sensei mir beibrachten, was Reiho ist. Das Wort besteht aus zwei anderen Worten. Reishiki und saho. Reishiki beschreibt den technischen Aspekt von Anstand und saho beschreibt, wie man das in lebbare Form gießt.
Bei näherer Betrachtungsweise begann es jedoch noch früher. Als Kind eines Soldaten und einer Hausfrau in den Fünfzigern, gesegnet mit zwei Schwestern und zu wenig Raum, wurde ich zu Oma und Opa entsorgt. Opa war und ist bis heute mit den damaligen Sensei das Leitbild des Benehmens, des Anstandes und der Ehre. Ich war damals ein Hänfling. Im wahrsten Sinne. Dürr, schwach und wenig selbstbewusst. Die Schüler an der Grundschule hatten schnell raus, wer ein Opfer ist und wer nicht. Zudem war ich verflucht mit dem, was man eine große Klappe nennt. Es gibt wenig Dinge, die man zurücknehmen und ungeschehen machen kann. Das gesprochene Wort gehört eindeutig dazu. Typische Dinge wie: „Mein Gott, bist du häßlich!“, spiegelten nicht nur die von mir wahrgenommene Realität wider, sondern gleichsam mein mangelndes Gefühl für Takt und Respekt.
Solche Sprüche waren mein Tagesgeschäft. Das der anderen war es, mir Respekt einzuprügeln. Da die anderen zu dämlich waren zu bemerken, dass es immer nur kurzfristig hielt, nämlich so lange, bis ich wieder sprechen konnte, gönne ich den Hohlbirnen.
Am Ende gab es die unheiligen Drei, die den ganzen Schulhof dominierten. Harald, Fredi und Uwe. Wobei Uwe Fredis Bruder und der gemäßigte Mitläufer war. Aber mich festhalten, wenn ich wieder Prügel bezog, ging immer. Ein Plan musste her. Ein… guter, durchdachter Plan. Da es im Jahre des Herrn Anno Dunnemals 1968 lediglich 3 Fernsehprogramme gab und ich kein eigenes Radio oder Handy hatte, resultierten meine Recherchen auf der Tatsache, dass ich einen Bücherei-Pass hatte. Sherlock Holmes, Perry Rhodan, Professor Zamorra, John Sinclair, sogar Tarzan waren meine Superhelden in diesen Jahren. Nur, was nützten sie mir? Ich verfügte weder über Kampfroboter, Strahlenpistolen, Damönenkreuze oder magische Waffen. Und den Sherlock wollte ich auch nicht in meinem Fahrwasser wissen. Dann kam die Erkenntnis.
Nicht in Büchern, in einer Kneipe! Opa schickte mich mit Zwei Mark (!) in die Kneipe, eine Schachtel Zigaretten holen. (Anm. d. Red.: Jüngere Leser: Einfach hinnehmen, nicht aufregen) An einem mit grünem Filz bespannten Tisch spielten zwei Männer Billard. Aber es waren keine Löcher zum versenken da! Das weckte meine Neugier. Und da ich wieder einmal die Klappe nicht halten konnte, quatschte ich die Typen einfach an.
„Das nennt man Karambolage, Junge!“
„Kenne ich nur, wenn Mama Auto fährt“, sagte ich und die ganze Kneipe lachte sich kaputt. Ich bekam sage und schreibe 4 Bluna spendiert. Das führte A) dazu, dass ich naseweise Sprüche irgendwie doch gut fand und B) ich das Spiel erklärt bekam. Karambolage besteht nur aus drei Bällen. Ein Dunkelroter und zwei Weiße. Der Gag ist, dass man mit seinem Spielball immer beide anderen berühren musste, egal wie.
„… und wenn nicht direkt, dann spielst du über Bande, schau!“
Da fiel der Groschen. Über Bande! Den Gegner nicht direkt angreifen. Aus gesicherter Position… der Plan stand. Die Lösung hieß: Günther. Günni war auch Schüler. Unsere Schule bestand aus der Grundschule, weiter hinten, fast im Wald und der Hauptschule vorn an der Straße. Aber: Wir nutzten beide denselben Schulhof. Und so kam es, dass ich fortan in den Pausen eher die Nähe der älteren Schüler suchte. Sie konnten mit meiner großen Fresse nicht immer sofort umgehen, aber ich konnte zu dieser Zeit gut Witze erzählen. Das kam gut an.
Dann kam der Tag der Tage. Es gab in der zweiten Klasse den Trend, aus Papierstreifen kleine Haken zu formen und mit einem Gummi auf die Mitschüler zu schießen. Hauptziele damals waren die beiden Blondinen Silvi und Kerstin. Also mischte ich mit und beschoss Harald und Fredi. Ein Blick in ihre schäumenden Gesichter verhieß nichts Gutes. Das ist immer das Problem bei einem Gottkomplex. Nur weil sich keiner wehrt, heißt das nicht, dass man die Spitze der Nahrungskette ist. Für mich hieß es nur: Als Erster auf dem Schulhof sein. Und das klappte gut. Ich war nicht so behäbig wie Harald und konnte schneller rennen als Fredi, auch wenn der längere Beine hatte. Ich huschte also zur Sporthalle. Am Beginn des Beetes zu den Fahrradständern. Warum? Weil sich Günni und Gang bereits, das sah ich aus den Augenwinkeln, auf dem Weg zu ihrem Stammlaber-Stützpunkt befand.
Fredi erreichte mich als Erster und packte mich am Kragen.
„Hab ihn !“
„Halt das Arschloch fest!“, keuchte Harald.
„Oh, ihr stammt aus Vulgarien!“, keuchte ich, weil Fredis fette Pranke mir die Luft abschnitt. War wohl nicht deren Humor.
„Alter, jetzt polier ich die die Fresse!“ freute sich Harald und holte weit aus. Doch zum zuschlagen kam er nicht mehr. Eine monströse Hand tauchte aus dem Nichts auf und hielt sein Patschepfötchen eisern fest. Günnis in diesem Moment Engelsgleiches Gesicht tauchte hinter Harald auf. Zwei andere Hände hielten Fredi fest, Uwe traute sich gar nicht erst heran.
„Du willst den Kleinen verprügeln, Pappkopp?“
„Der hat auf mich geschossen!“
„Stimmt das, Tom?“
„Ja. Stimmt. Weil er auf die Mädchen geschossen hat!“
Nun. Sagen wir so: Die Empfänger der Lektion war heute nicht ich. Die beiden Blödmänner mussten Günni schwören, dass ich auf dem Schulhof unangreifbar bin. Sonst… und dieser drohende Damokles schwebte fortan über Harald und Co. Ein Blick reichte, und sofort war Ruhe. Mein Triumpf? Für diesen Tag, ja. Meine Strategie war zwar von Erfolg gekrönt, aber eben als Kind nur von kurzer Dauer. Denn der Deal bezog sich auf den Schulhof. Meine Schuld. Und eine Lehre.
Harald und Fredi lauerten mir zwischen den Garagenplätzen und dem Mittwald auf. Und diesmal bekam ich es richtig. Ich war stinksauer. Meine Laune wurde auch nicht besser. Ich weinte. Vor Wut, vor Hilflosigkeit, vor Rachsucht. Am schlimmsten war die Hilflosigkeit. Die Tage waren wie in einem Rausch. Scheiß auf die zerrissenen Klamotten, Scheiß auf die Bücher, die Hefte, den Füller. Scheiß drauf, dass sie mich zwangen Regenwürmer zu essen und aus Pfützen zu trinken. Na klar, ich konnte Günni wie einen Pitbull auf sie hetzen, aber das war nicht richtig. Also wie löst man unlösbare Probleme? Es war Freitag, zur Schule war ich nicht. Meine aufgeplatzten Lippen schmerzten, die beiden Veilchen engten mein Sichtfeld ein, ich hatte Durchfall und meine Knie taten weh. Trotzdem ging ich zum Kiosk. Perry Rhodan, vierte Auflage, Heft 421. Am Kiosk sah mich der nette Verkäufer mitleidig an. Dankeschön. Zahlen und an den Dortmund-Ems-Kanal. Mein Rückzugsort für das wöchentliche Abenteuer im Weltall. Dazu musste ich am Krankenhaus vorbei. Dem vorgelagert war eine alte Turnhalle. Vorn am Eingang war ein neues Dings angebracht, das aussah wie die Mischung aus einer Vitrine und einem Schrein. Hinter dem Glas waren Bilder. Bilder von Menschen in weißen Pyjamas die sich gegenseitig wegwarfen. Das sah federleicht aus. Sie rangen am Boden, würgten sich und hebelten sich… cool. Judo. Samstag Probetraining. Okay. Das machen wir so. Opa zahlte das. Mein lieber Opa….
Well… so einfach war es nicht. Die Lehrer, in den japanischen Kampfkünsten werden sie „Sensei“ genannt, was nichts anderes heißt wie: Lehrer, zeigten uns nicht nur, wie man seinen Gegner bezwingt, in die Flucht schlägt, hebelt, würgt und außer Gefecht setzt. Nein, Sensei Bauszus und Sensei Lewicki zeigten uns, wie man einen Kampf gar nicht erst beginnt. Als ich nach 2 Jahren den grünen Gürtel errang, ging ich bereits in die 4. Klasse und Günni mit seiner Gang hatten auf eine höhere Schule gewechselt, sowie Harald und Fredi (aufgrund der Intervention meiner Eltern) waren der Schule verwiesen worden. Eines Tages kam ein baumlanger Typ mit wildem Bart in die Trainingsstunde und verkündete, ab morgen werde man auch Karate anbieten. Wer nicht zu weich wäre, sollte erscheinen. Weich? Moi? Okay… es ging nahtlos weiter.
Am Ende musste ich feststellen, dass Kampfkunst eine Charakterschule ist. Meine große Fresse habe ich nie abgelegt, aber durch das beständige Üben der Kriegskünste passiert etwas. All die Schmerzen, Zerrungen, Blessuren, blauen Flecke, all die Muskelschmerzen, Erfahrungen und Niederlagen erschüttern etwas in uns Menschen. Etwas, das uns klüger macht und uns reifen lässt. Selbst wenn ich es in der Folgezeit darauf anlegte, mich prügeln zu wollen, es ging niemand mehr darauf ein.