Medea
............ angelehnt an das antike Drama "Medea".
Medea
„Er ist mir egal!“ Eine einzige Träne kullerte nun langsam an ihren dunklen Augenringen, an ihrer leicht gebogenen Nase vorbei. Dann verfing sie sich in einer tiefen Falte, von wo aus die Träne an ihrem bleichen und steinhart verschlossenen Mund vorbei geführt wurde. Julia stellte besorgt fest, dass sich neue Linien auf Medeas erschöpften Gesicht abzeichneten. Die Träne sammelte sich nun für einen Moment an der Kinnspitze. Dann tropfte sie anmutig auf ihren Schoß. Medeas Augen waren hellwach und weit geöffnet. Man hätte meinen können, sie durfte als Beleg ihrer Liebe ja nichts verpassen, musste jede neue Wunde, jedes neue Gift so gut sie konnte in sich aufnehmen. Auch die dicken, roten Äderchen auf dem Weiß ihrer Augen, und die Pupillen, die mal fast die Iris ausfüllten, mal Stecknadelkopf klein waren, irritierten Julia. Es war nicht gut.
„Er ist mir scheißegal! Mir geht’s gut! So gut wie ihm! Ich hab' ihn gesehen, er sieht gut aus!! Gesunde Haut, volle Lippen, strahlende Augen!“ Medea flüsterte nun, während sie mit knochigen Fingern zittrig die Spur entlang fuhr, die die Träne gezogen hatte. „Ihm geht’s gut! Dann diese … Frau... sie sah auch … gut... aus. Sie hatten Spaß miteinander.“ Vielleicht enstanden so diese neuen Falten, dachte sich Julia, vielleicht gruben sich die Tränen ein. Im gleichen Moment schalt sie sich für ihre blöden Gedanken.
„Bestimmt lieben ihn die Frauen!“ Sie wurde wieder lauter. „Aber mir geht’s auch gut! Wirklich!“ Medeas Augen fixierten Julia nun, und schauten gleichzeitig in ein glasiges Nichts. Es war wie in ein schwarzes, kaltes Feuer zu blicken. Aber es war doch schon ein halbes Jahr her! Und erst letzte Woche hatte Medea noch erzählt, wie es endlich besser geworden war, besser, nachdem sie Monate lang auf ihre Liebe mit einem Stock eingeschlagen hatte, wie auf ein nicht sterben wollendes, brüllendes Lebewesen, und dass sie nun endlich, endlich verreckt war, diese Liebe. Aber sie war wohl nur betäubt gewesen. Ohnmächtig.
„Ich verstehe nur nicht, wie es passieren konnte... ich dachte alles wäre ok... . Und jetzt...“
DIE Platte wieder! IMMER wieder die gleichen Sätze!
„...irgendwie... klar hatten wir Probleme, aber das haben doch alle! Ich bin doch nicht verrückt...“ Das Flüstern wurde wieder so leise, dass Julia die Augenbrauen zusammenzog, in der Bemühung, Medea irgendwie zu verstehen. Eigentlich wusste sie, was Medea sagen würde. Sie hatte es in den ersten Monaten wie ein Gebet zu ihrer Liebe unendlich oft wiederholt. - Sie verstand es nicht! Sie verstand es nicht! - Es war zum Steinerweichen! Und es war doch schon besser gewesen! Warum hatte sie ihn nun treffen müssen?
„Ich hätte es nicht gedacht! Wir haben uns doch SO GELIEBT!“ Die letzten beiden Worte sprach sie klar und deutlich aus. Es tropfte Hoffnung aus ihnen, wie süßer Saft aus einer reifen Honigmelone; aber jeder dieser funkelnden Tropfen verwandelte sich auf dem Weg zum Boden in einen kleinen, grauen Albtraum.
„Medea...“ Julia fasste Medeas Hand, die ihr so vertraut war, die aber nun eiskalt war. Es brach ihr das Herz. Und sie machte sich Sorgen.
„Vielleicht geht’s ja doch nicht? Ich weiß nicht... . Dass es ihm so gut geht, das geht nicht!Das geht nicht!“ Julia schaute Medea so mitleidig an, wie sie nur konnte.
Und da geschah etwas.
Etwas in Medeas Körper machte 'Klick'. Plötzlich war etwas anders. Medeas Blick wurde wieder klar. Das Feuer erlosch. Sie schien wieder zu sich zu kommen. Das war gut. Oder?
„Medea... . Damit musst du leben. Ich hatte das auch schon, mit Kristoffer... das ist Teil des Lebens. Es ist so... . Die meisten Beziehungen enden mal.... und...“
„Ja!“ Ihre Worte rollten an, wie ein abfahrender Zug. „Die meisten enden mal. Aber nicht so. Ich bin nicht verrückt. Er muss mich angelogen haben. Er hat mich in eine Falle gelockt. Du kennst mich, Julia? Ich merke, wenn was los ist. Ich bin nicht blöd oder verrückt.“ Sie brachte das vor, wie zwingende, logische Argumente. Wie Fakten.
Es stimmte, Medeas „soziale Kompetenz“ war hoch, wie man auf Julias Arbeit zu sagen pflegte. Sie verstand das auch nicht. Die beiden hatten so innig gewirkt. Sie kannte kein Paar, das sich so geliebt hat. Und die Kinder.... !
„Du bist auch nicht verrückt, Medea... aber... „
„NEIN!! Bin ich auch nicht!!!“ Mit einem Ruck hatte Medea ihre sehnige Gestalt kerzengerade aufgestellt.
„Bin ich auch nicht!“ wiederholte sie, während auch die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte, was Julia merkwürdigerweise noch mehr beunruhigte.
„Naja...“
„So geht’s auf jeden Fall nicht! Er kann so nicht davonkommen. Wir haben zu lange alles geteilt. Wir haben uns zu lange geliebt! GELIEBT!! Julia!!“
Julia lief ein Schauer über den Rücken.
„Ist alles klar, Medea..... ?“ So eine blöde Frage, dachte sie. Als sie sich eine Strähne zurückstrich, merkte sie, dass nun ihre eigenen Finger zitterten .
„So eine blöde Frage! Natürlich!“ Medeas Stimme war ganz ruhig. Als ob sie mit einem Schlag Frieden mit der Welt gemacht hatte.
„Ich hab die Lösung. Ich würde jetzt gerne Zeit alleine mit meinen Kindern verbringen!“
Medeas bestimmende Körpersprache zwang Julia förmlich aufzustehen. Sie nahm ihren Mantel vom Sofa. Daneben lag ein grünes Playmobilmädchen, mit Röckchen, langen Haaren und geschminkten Augen, ansonsten aber vollständig gleich wie die Originale, die Männchen.
„Ok.... . Medea... bist du ok?“
„Nein Julia, weil es ungerecht ist. Weil es nicht fair ist! Aber im wirklichen Sinne: „nicht fair!“. Im tieferen Sinne... . Verstehst du?“
„... ich weiß nicht... es fühlt sich eben sehr krass an...? .. also sehr, SEHR krass?“
Mit einem abschätzigen Lächeln seufzte Medea.
„Ja! 'Krass'!“ Medea rührte sich nicht, schaute nur. Julia schaute unsicher zurück. Ein Rauswurfsblick aus Eisen!
„Also... ich geh dann mal.“
„Ja.“
Die Abschiedsumarmung war kurz und hart gewesen. Im Hausflur, beim Runtergehen, kramte Julia in ihrer Daunenjacke, suchte nach ihrem Handy. Vielleicht sollte sie Tim anrufen? Sie wusste nicht mal, ob sie seine Nummer noch hatte.
Vor dem Haus blieb sie stehen und suchte ihre Adressliste durch. Unter „Tim“ stand nichts. Eine gelbe Tram fuhr vorbei. Sie fand seine Nummer unter „MedeasTim“. Sie rief ihn an, und nach anfänglichem Zögern und Zicken verabredeten sie sich im Misclivska, in der Schlesischen Straße.
Die Tram war gerade vorbei, und auch auf die U-bahn musste sie warten. Natürlich war er schon da. Er saß mit dicker Jacke draußen und trank irgend etwas Dampfendes.
„Hi Tim.“ Sie reichten sich die Hände.
„Medea geht’s schlecht!“
„Ja!“ Er verdrehte die Augen. „Ich WEISS, dass es ihr schlecht geht! Ihr geht’s schon seit Monaten schlecht! Es hört gar nicht auf, mit dem schlecht gehen, verdammte Scheiße! Weißt du denn, wie ich mich fühle?“ Er beugte sich mit weit hochgezogenen Augenbrauen nach vorne. Seine Stirn lag in Falten. „Wie scheiße, dass ausgerechnet ich gerade ihr so wehtun musste... . Was ist denn jetzt so wichtig? Gibt’s was Neues, vielleicht?“
Julia hatte den Ausbruch mit zusammengezogenen Lippen und schrägem Blick zugehört, was Genervtheit ausdrücken sollte.
„Ich hätte dich nicht angerufen, wenn es nicht wichtig wäre! Die ist ganz komisch, und wir müssen uns um sie kümmern! Die hat dich doch kürzlich mit irgendeiner Frau getroffen...“
„Hä? Was für ne Frau? Da ist keine Frau! Ich kann auch wegwollen, ohne ne andere Frau! Du weißt, wie empfindlich sie ist. Ständig hat sie sich angegriffen gefühlt, und dann hat sie mich angegriffen, mit Worten! Mit Schuld! Ich konnte das nicht mehr! Schuld ist genau so eine Waffe wie Faust und Knüppel, weißt du?! Es war Selbstverteidigung! Ich musste weg!“
Julia dachte, dass Tim wirklich attraktiv war. Er hatte sanfte, sehr wache Augen, seine Hände, die gerade miteinander rangen, waren groß und schön.
„Ihr! geht’s! Schlecht! Wir müssen hin. Vielleicht die Psychiatrie anrufen. Ich weiß nicht mal, ob die Kinder bei ihr sicher sind. Die war ganz komisch!“
Als Julia die Kinder erwähnte, wurde Tim bleich.
„Ja... . Ach verdammt, ich wollte ihr doch nicht wehtun... Verdammt! Es tut mir doch leid...“
Auch Tim schien neue Falten bekommen zu haben. Er war schon aufgestanden. Legte einen Fünfeuroschein auf den Tisch, eine Geste, die Julia bisher nur aus Hollywoodfilmen kannte, und schob knarzend einen Stuhl zur Seite, damit er rauskonnte. Die Sache mit den Kindern hatte sofort gewirkt. Obwohl es auch recht beunruhigend war, wie schnell er ihr glaubte, dass die Kinder in Gefahr sein könnten. Sie mussten zurück zu Medeas Haus! Schnell!
Währenddessen hatte Medea einige Informationen aus dem Netz geholt, war kurz in der Apotheke gewesen, hatte noch aufgeräumt, hatte Milly begrüßt. Die kam strahlend von der Schule, ihre langen blonden Haare wehend, ihr blauer Blick aber verkümmerte, als sie ihre Mutter sah.
Mit einem merkwürdigen Lächeln, das so wirkte, als zeigte es eher einen Riss in einer Seele, als einen lächelnden Mund, erklärte Medea Milly, dass sie sie und Kevin in deren Zimmer sprechen wolle. Milly gehorchte sofort, was nicht ihre Art war.
Kevin war schon im Zimmer, saß nur da, und guckte irritiert. Um ihn herum lagen verstreut Playmobilfiguren und ein Piratenschiff. Entgegen ihrer Gewohnheit nahm Milly Kevin in den Arm. Entgegen seiner Gewohnheit nahm er die Umarmung an.
Medea kam rein. Sie war totenbleich. Sie setzte sich gegenüber auf einen schiefen Schreibtischstuhl. Alle drei schauten sich an.
„Milly, Kevin! Ihr wisst ja, dass ich euch liebhabe!“
Allgemeines Nicken.
„Und ich würde alles tun, um euch zu beschützen!“
Nicken.
„Ihr seid zu jung um das zu begreifen, leider..., aber....“ Rotze und Tränen rannen über Medeas Wangen und Mund und Kinn. Sie wischte einen Teil davon mit der Handinnfläche weg und verrieb es auf ihrem Ärmel.
„Die Welt ist so... Manchmal muss man Opfer bringen, um sie ins Gleichgewicht zu bringen...“
Beide nickten unsicher.
„Und ihr seid die Menschen auf der Welt, die mir am wichtigsten sind. Neben Papa! Das wisst ihr?“
Nicken.
Medea stand auf. Ihr Körper war so straff gespannt, wie ein Mastseil im Sturm. Sie zog umständlich ein Fläschchen aus der Hosentasche und schüttelte die weißen Flocken, die darin dicht schwammen, auf.
Dann nahm sie Kevins Spongebob-Figur, die die er am meisten liebte, und drückte sie ihm in die Arme.
Sie nahm sein Gesichtlein sanft zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger, und küsste ihn ganz langsam auf den Mundwinkel. Er schmeckte salzig. Dann trank er. Ohne Widerspruch. Auch Milly trank. Alle drei weinten nun. Milly war ein Stück weggerutscht.
Sie schien schon schläfrig zu werden. Das Mittel sollte schnell wirken. Medea musste nur den richtigen Moment abpassen, in dem sie beide nichts mehr spürten, aber bevor sie alles wieder ausgekotzt hatten.
Kevins Kopf sackte leicht gegen das Holz seines Bettes. Sein Nacken schien zu schwach sein, um seinen Kopf zu tragen. Seine Augen öffneten und schlossen sich sehr langsam.
„Mach die Augen zu, Milly!“ befahl Medea mit brechender Stimme.
Der Draht, den sie um Kevins Hals legte, roch nach Metall, was sich mit Kevins Aprikosenduft biss. Sie legte den Draht über Kreuz. Wenn man das nicht tat, konnte man nicht die nötige Kraft entwickeln, wie sie recherchiert hatte.
Tief dämmerungsblaues Licht fiel durch das Fenster. Die Haut der drei Gestalten schimmerte weiß. Von Milly war nichts zu hören. Die wollte die Augen öffnen, Kevin ansehen, ihm noch mal in die Augen sehen, ihm helfen. Aber die Lieder waren zu schwer. Von Kevin hörte man nichts. Wie durch eine Wand hindurch hörte Milly nur, wie ihre Mutter heulte, und gleichzeitig vor Anstrengung knurrte, immer wieder aufhörte, immer wieder Kevin zuflüsterte, wie sehr sie ihn liebte. Milly hörte, wie ihre Mutter seinen kleinen Kopf mit Küssen bedeckte, und wieder ansetzte, knurrte, und in panisches Kreischen überging, als von Kevin doch ein sehr leises aber hohes Quieken zu hören war.
Dann hörte Milly ein Knacken, dass so hässlich war, dass sie sich im nächsten Moment übergeben musste. Grunzend kam ihre Mutter zu ihr und legte auch ihr die Schlinge um den Hals.
Als Julia und Tim das Treppenhaus hochliefen, hörten sie schon ein merkwürdiges Geräusch. Ein tiefer Ton, der immer wieder abbrach. Vor Medeas Tür waren Nachbarn versammelt. Die hatten vor 10 Minuten die Polizei gerufen, die aber noch nicht da war. Tim schloss auf, es roch nach Kotze und Scheiße. Dann drängte er entschlossen die Nachbarn zurück und stürmte mit Julia rein. Der abbrechende, tief vibrierende Ton kam aus dem Zimmer der Kinder.
Entsetzen hatte beide mit eiserner Faust am Herzen gepackt. Sie standen erst mal nur da. Julia kamen Bilder vor Augen, was denn passiert sein könnte. Aber sie drängte sie weg. Das konnte nicht sein. Das war Quatsch. Angstbilder vom Fernsehen eingeimpft! Medea war ein guter Mensch. Das konnte nicht sein.
Plötzlich machte Tim einen Riesensatz, riss die Tür auf und sah, wie Medea auf dem Boden saß, und mit versagender Stimme brüllte. Die Augen waren zur Decke gerichtet, dadurch war nur das Weiße zu sehen, die Haare offen, zerzaust und abstehend, teilweise lagen Büschel davon um sie herum. Sie hatte die Köpfe beider Kinder in ihren Schoß gelegt. Und sie brüllte, inzwischen stumme Schreie.