(RF) Treppenstufengespräche - Riley B.
Das vierte Treppenstufengespräch:Riley B.
Es gibt Dinge, die kann man für Geld nicht kaufen. Erst recht nicht mit der MasterCard. Natürlich gehören Gesundheit und Liebe dazu; aber auch Erinnerungen und Gran’ma’s Sugar Cane Molasses Sweets.
Damals, vor gut achtzig Jahren, wurden sie nach der Zuckerrohr-Ernte aus den Überresten der Ernte in Itta Bena, Mississippi, für die Kinder der Feldarbeiter gekocht. Weihnachten fand schon mal vorab im späten Sommer statt, weil Weihnachten im Dezember mangels Geld fast immer ausfiel.
Die Zuckerrohr-Melassebonbons schmecken etwa wie Riccola Schweizer Kräuterzucker, nur ohne Kräuter und weniger nach Schweiz.
Einzig die funkelnden Augen des alten Mannes trotzen dem Verfall seines von Diabetes gekennzeichneten aufgeschwemmten Körpers. Sie strahlten, als wir uns auf den Stufen zur Galerie des B.B.‘s Club in der Beale Street, Memphis, Tennessee mühsam niederließen. Die Krankheit hat den massigen Körper fast bewegungsunfähig gemacht. So kämpfte der alte Mann darum, sich auf den Stufen niederlassen zu können. Mein Kampf hingegen bestand anschließend darin, neben ihm auf der schmalen Treppe noch Platz für mich zu finden.
Nach einigen tiefen Schnaufern hielt ich ihm eine hellbraune Papiertüte hin. Schweißperlen drängten sich neugierig durch die Poren seiner Haut, in der Hoffnung ihrer kurzen Lebensspanne – kürzer als die der Eintagsfliege – so viel Leben zu genießen wie möglich. Zögerlich – in neugieriger Erwartung des ihm so vertraut Unbekannten – griffen seine großen von der beginnenden Gicht gekennzeichneten Hände hinein. Ungewohnt gelenkig demonstrieren sie ein gewandtes Fingerspiel; gekrönt von dem Erfolg, am Ende einen länglich gerollten bernsteinbraunen Klumpen aus der Tüte zu ziehen.
Ein Lächeln deutet an, dass der alte Mann mit dem Gewinn seiner Bemühungen mehr als zufrieden war. Eine kindliche Zufriedenheit. Eine kristallisierte Erinnerung an die fast achtzig Jahre zurückliegende Jugend, die viel zu kurz gewesen ist; für ihn, wie für alle seiner Zeit in Tennessee.
Dann öffnet er seine fleischigen Lippen, entblößt eine Reihe noch immer weißer Zähne und ließ das Bonbon genüßlich verschwinden. Ein Zaubertrick, den er seit der Kindheit nicht mehr aufführen durfte.
Während sich der lange nicht mehr erlebte Geschmack der Jugend über die Sinneszellen seiner Zunge ausbreitete, schweiften meine Augen über den Raum. ‚Schäbig‘, denke ich. ‚Blaue Stahlrohrstühle an viel zu kleinen, runden Metalltischen in verrauchter Atmosphäre‘. Der kalte Rauch in diesem Raum lässt sich auch nun, Jahre seit Einführung des Rauchverbots, nicht mehr verdrängen. Dieser Geruch gehört einfach dazu. Er hat hier einen unbefristeten Mietvertrag, ohne Miete zahlen zu müssen. Des Abends bekommt er Besuch vom Geruch des frisch gezapften Biers, von Whiskey, vom Schweiß und teurem Eau de Parfum der Besucher im Blaumann oder weißem Kragen. Diese Melange, die Blues zu dem machte, was er ist.
Früher hatte man sich so und nicht anders einen Blues Club vorgestellt. Alte Männer spielen sich den Schmerz des Lebens von der Seele. Früher. Aber die Zeit ist in niemals enden wollender Bewegung. Nur nicht hier. Nicht hier in Memphis, Tennessee. Hier in der Beale Street hatten die Uhren schon immer einen ganz eigenen Vier-Viertel-Rhythmus, sofern es überhaupt Uhren gab.
Ich habe Riley Zeit gegeben.
Während er sein Bonbon lutschte und er die Vergangenheit über die Geschmacksnerven wieder in sich aufnahm, habe ich geschwiegen. Nur die Bewegungen seiner Kiefer durchbrachen die Stille. Ich hörte, wie seine Zunge begann, mit dem Bonbon zu spielen; es hin und her schob, wie er den melassesüßen Saft schluckte, bis dass letztendlich die Vergangenheit drohte, mit dem letzten Rest des Bonbons zu versinken.
„One more candy, Riley?“ …
„…Noch ein Bonbon? So wie damals in Kilmichael hinter der Kirche nach der Sunday School?“
Da war wieder sein verschmitztes Lächeln. Seine Wangen runden sich vor Erwartung, als seine Gesichtsmuskeln ihm andeuteten: Jetzt lache ich.
„Ey man, do ya know, now I love ´em.“
„Now? And then?... Nun? Und damals?“
„It’s all different now, buddy... Nun ist alles anders. Alles“
Damals war es noch wesentlich schwieriger – da nicht opportun – sich mit Riley zu unterhalten. Riley ist schwarz. Und für einen weißen Jungen, wie mir, gehörte es sich nicht, sich mit einem Schwarzen zu unterhalten.
Heute ist dies – geringfügig – anders. Wir sitzen in seinem Club, auf seiner Treppe und warten heute, wie jeden Tag auf das Publikum des Abends: Sein Publikum. Hier und sonst ist er der König. Aber eben „nur“ ein schwarzer König. Ein Exot in den Augen der Weißen. Der Spieler, der Clown, der Unterhalter.
„B.B., ich habe nie verstanden, warum du so viele Gitarristen beeinflusst hast: Hendrix, Clapton, Gilmore, diMeola, und, und, und…“
Das Melassebonbon krachte zwischen seinen Zähnen, als er zubiss.
„Ey man,…“, begann er: „Ich habe es ja auch nie verstanden. T Bone Walker, Les Paul oder Django Reinhardt, Alexis Korner, Steve Winwood,… sie alle waren oder sind so viel besser als ich. Oder insbesondere Robert Lockwood, von dem ich später noch viel lernte.
Wer beeinflusste wen?“
„Aber Jimi Hendrix, oder Eric Clapton berufen sich auf dich als musikalischer Vater.“
„Vater bin ich auch.“ Er grinste.
„I really do have 15 kids… Ich habe 15 Kinder. Aber nicht von der gleichen Frau.“ Nun lachte er. „One woman, one kid, you know what’a mean.“
Ja. Ich weiß was er meint. Ich schaue gedankenverloren in die braune Papiertüte hinab, welche ich mit beiden Händen fest umklammert halte. Tief unten liegen die süßen Träume, aus Melasse gerollt. Fest kristallisiert und zuckersüß, aber alles andere als so steril, wie weißer deutscher Raffinadenzucker. Lauter kleine, weiße Kristalle. Alle gleich, alle unbedeutend klein. Wie großartig hingegen sind hingegen diese Melassestücke. Jedes einzigartig.
„Tja Riley. So wirklich singen kannst du auch nicht.“
„Ich weiß. Blind Lemon war besser. Lonnie Johnson ebenso. Aber du hättest sie hören sollen, wenn ich bei ihnen war. Als der kleine B.B. für den Nachwuchs sorgte.“
„Talking‚ bout singing, Riley… ich meine das Singen.“
„Me too“ Er lacht.
„1972 warst du im Knast, alter Mann.“
Riley lachte lauthals und verschluckte sich fast am Karamell, welches er listig aus der Tüte fingerte. „Yes, I did Sing Sing…“
„You did?“
„I did… „Ja, war ich. In Sing Sing. Es gab ein Thanksgiving-Konzert hinter Gittern. Mein bestes in über 60 Jahren auf der Bühne. Und das dankbarste Publikum.“
„Talking ´bout Les Paul, big man?“
„Er brachte mir Lucille?“
„Lucille?“
„Meine Gitarre. Die schwarze Gibson ES335. Alle meine Gitarren heißen Lucille. Die Geschichte findest du in diesem Internet, von dem jetzt alle reden. Ich habe sie oft erzählt.“
Das Lächeln verschwand. Ob es immer so war, wenn er diese Geschichte auch nach so vielen Jahren erzählt. Ich weiß es nicht.
„1949 in Arkansas“, beginnt Riley, „…da spielte ich in einer Blueskneipe. Der Club war klein. Heizung gab es keine. Feuer in einer alten Öltonne beheizte den Raum. Ruß schwärzte die alten Wände. Das war die Zeit, als Männer noch um Frauen kämpften. So auch dort. Zwei von ihnen prügelten sich.“
Riley erzählt die Geschichte schnell, routiniert, fast stenografisch und ich hatte den Eindruck, er wollte sie schnellstmöglich beenden, um sich dann wieder den melasseschwangeren Gedanken zuwenden zu können.
„Das Fass fiel um und die Flammen fanden viel zu schnell reichlich Nahrung. Panik entstand und wir rannten raus. Draußen realisierte ich, dass meine Gitarre noch immer in dem Raum war. So rannte ich wieder in das brennende Lokal und ich fand die Gibson. Später habe ich erfahren… sie hieß Lucille.“
„Wer?“
„Die Frau, um die sich die Männer stritten. Seitdem heißen meine Gitarren immer nur… Lucille.“
Ruhe trat ein und sein Blick schweifte in die leere Distanz jenseits aller Wände und Ballustraden.
„Riley, du hast immer gesagt, du bist kein großer Musiker.“
„Yeah, right!“ Er blickt auf die Tüte, die ihm die Erinnerung brachte. „Ich kann nicht singen, ich kann schlecht spielen und von Musik habe ich keine Ahnung. Das was Dizzy Gillespie, Miles Davis oder Charlie Bird Parker so machen… es ist so viel besser. Ich verstehe es noch nicht einmal.“
„Dafür, lieber Riley, spielst du aus dem Bauch. Keiner hat so viel Musik im Bauch…“
„…im Darm.“ Ein schallendes Lachen hallt von der Galerie des Raumes wieder und verfängt sich hundertfach in den Ballustraden. „Ich glaube, ich bin der einzige, dessen Bauchmusik gleich in zwei Halls of Fame zu finden ist… The Blues Hall of Fame und der Rock ‚n‘ Roll Hall of Fame.“
Riley, der nun die braune Papiertüte selbst hält, lässt seinen Blick wieder aus der Ferne auf das Nahe schweifen. Er schaut in die leere Tüte, schaut wieder auf und lächelt mich an:
„The Thrill Is Gone.“
Meinem Vorbild Riley „Blues Boy“ King gewidmet.