Eisland
Draußen weht noch immer der eisige Winterwind den Schnee über die Felder. Die Schneeglöckchen ziehen ihre kleinen Köpfchen ein und verharren ungeöffnet, während sie auf die wärmende Sonne warten.Hier drinnen, wo ich ganz bei mir bin, ist es längst Frühling. Und ich habe Mühe, das für mich zu behalten, den Frühling zurückzuhalten. Würde ich jetzt vor meine Tür treten, die Sonne, die Wärme und das Grün würden das Land überziehen.
Aber noch ist es nicht so weit. Noch muss die Erde ruhen, muss schlafen und sich erholen vom Jahreslauf. So wie auch ich meine Kräfte noch sammeln muss, um den Winter zu bezwingen.
Doch es liegt schon so ein unbändiges Sehnen in der Luft. Die ersten Krokusse trotzen dem Eis und die ersten Lämmer werden geboren. Noch sind sie allein und ohne meinen Schutz. Zu früh drängten sie nach außen. Nur die Starken unter ihnen werden überleben.
Und auch ich sehne mich nach der Welt, nach den Blumen, dem Duft der feuchten Frühlingserde, den munter gluckernden Bächen, dem Vogelgezwitscher, dem emsigen Summen unzähliger Insekten, den Strahlen der Sonne, die ich um die Mittagszeit beinah hören kann. Und ich fühle meine Kräfte wachsen, seit die Sonne an Yul wiedergeboren wurde.
Noch harre ich aus, bis ich stark genug bin. Bis die reinigenden Flammen entzündet werden, so wie ich die Herzen der Menschen entflamme, auf daß sie dichten, singen und sich lieben.
Der Winter war dieses Jahr besonders hart. Inzwischen war es schon April geworden und noch immer war das Land von Eis und Schnee bedeckt. Viele der Alten und einige der Kinder waren bereits gestorben. Fast alle anderen waren krank. Sie husteten und so manchem fielen die Zähne aus. Die Vorräte gingen zur Neige. Aber das ganze Land war noch immer fest im Griff des Winters und in Kälte erstarrt. Lange würden sie nicht mehr überleben können. Die ersten Lämmer waren bereits geboren. Aber ihre Mütter waren nicht stark genug und hatten nicht ausreichend Milch und so verendeten sie.
Er hielt sich die Ohren zu, denn er konnte das klägliche Rufen nicht ertragen. Ebenso, wie er das Weinen seiner kleinen Schwester nicht ertragen konnte. Die Mutter war vor wenigen Tagen gestorben und so gab es auch für den Säugling keine Milch mehr.
Der Vater saß Tag für Tag nur noch mit glasigen Augen am Feuer. Ab und zu legte er ein Scheit nach und er, Erik, sorgte dafür, dass das Holz im Langhaus immer vorhanden war. Ja, Holz und Feuer, das hatten sie noch. Aber keine getrockneten Beeren mehr, kein Fleisch und auch kaum noch Getreide.
Wenn die Kälte draußen es zuließ, ging er hinaus um unter der dicken Schneeschicht nach Moos zu graben, das sie dann kochten.
„Vater, sag mir, wann der Frühling kommt!“
„Erik, der Frühling wird wohl nicht mehr kommen. Leg noch Holz nach! Und dann lass uns schlafen, so wie das Land schläft, um nicht mehr zu erwachen.“
„Das ist allein deine Schuld, Sven Gunnarson!“ hörte Erik die Großmutter zischen. Er konnte sie kaum verstehen, so keuchte sie und jeder Atemzug wurde von einem Hustenanfall begleitet.
Der Vater erstarrte und sagte mit hohler Stimme und leeren Augen: „Halt dein ketzerisches Maul, alte Hexe. Wir legen unser Leben in die Hand des Herrn, so, wie der Priester es uns aufgetragen hat. So kommen wir ins Himmelreich.“
In dieser Nacht hielt der junge Erik seine Ahnin im Arm, als diese ihre letzten, schmerzhaften Atemzüge tat. Und fast unhörbar flüsterte sie ihm zu: „Er ist nicht stark, dieser neue Gott am Kreuz. Er ist zu schwach für unser Land! Such die alten Götter!“