Mutter 12/ 15
Das Hologramm baute sich als Projektionsfläche auf und neue, bewegte Bilder zeigten sich, begleitet von einer Reporterstimme. Ein mulmiges Gefühl verdrängte Victors kurz aufgekeimten Optimismus. Ein Feuerwerk aus Informationen stürzte auf ihn ein, bestehend aus verschiedenen Filmen, die Mutter vorher zusammenschneiden ließ. Die Apokalypse könnte nicht schlimmer sein. Der erste Beitrag widmete sich den Meeren und dem Fischfang.
Für Victor war Fischen verbunden mit einer Angel und dem fairen Kampf zwischen Fisch und Mensch. Konnte der Mensch den Fisch täuschen und überlisten? Lockte der dargebotene Köder das Opfer? Die Chancen waren gleichermaßen verteilt, fünfzig zu fünfzig.
Das was er nun sah, hatte mit Chancengleichheit nichts mehr zu tun. Riesengroße Schiffe, die eher schwimmenden Fabriken glichen, machten mit unterschiedlichen Arten von Netzen Jagd auf Fischschwärme. Der Reporter berichtete von Schleppnetzen, Grundschleppnetzen, Treib- und Stellnetzen sowie von Langleinen. Bis zu eineinhalb Kilometer waren die Netze lang, die mit Haken bestückten Langleinen sogar bis zu 100 km. Ohne Rücksicht auf Verluste wurden die Netze entweder über den Meeresboden gezogen, wo sie eine Spur der Verwüstung hinterließen oder in freiem Wasser, wo sie alles einfingen, was ihnen in die Quere kam. 100 Millionen Tonnen Fisch wurden jedes Jahr gefangen. Diese abartig große Menge führte dazu, dass immer mehr Fische ausstarben und in vielen Meeresregionen keine Fische mehr vorhanden waren. Es war kaum vorstellbar, dass aus reiner Gier dermaßen riesige Meere leergefischt werden konnten.
Außerdem klärte der Reporter die damaligen Zuschauer darüber auf, wie qualvoll viele Fische sterben mussten, weil sie zum Beispiel von den gewaltigen Fischmassen in den Netzen erdrückt wurden oder als unerwünschter Beifang getötet und im Meer entsorgt wurden. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis die Ökosysteme der Meere komplett zerstört seien, so sein Resümee. Eine weitere Belastung bildete die Verschmutzung der Meere. Über 10 Millionen Tonnen Plastikmüll landeten seinerzeit jedes Jahr im Meer. Fische und Vögel verhungerten, weil sie Mikroplastik für Nahrung hielten. In manchen Gegenden der Weltmeere sammelten sich unendlich viele Quadratkilometer große Inseln, nur aus Müll der Zivilisation bestehend.
Victor war betroffen, wollte aber trotzdem seine Ahnen nicht gänzlich in die Pflicht nehmen.
„Mutter, was hätten die einzelnen Menschen denn tun sollen. Sie konnten doch nicht alle angeln gehen. Hätte sich etwas geändert, wenn meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater keinen Fisch mehr gegessen hätten?“
„Erinnerst du dich an den Satz, den ich dir gestern Abend gesagt habe, als wir über Zucker sprachen?“ Victor grübelte kurz und zuckte leicht mit den Schultern.
„Die Dosis macht das Gift!“
Aus dem unteren Stockwerk setzte mittlerweile Gesang und Musik ein. Die Stimmung schien fröhlich und ausgelassen zu sein., der Duft von wohlschmeckendem Essen kitzelte in seiner Nase.
In der vierten Etage folgte nun ein Beitrag über die Tierhaltung, Eier, Fleisch und Milch. Das war zumindest kein unangenehmes Thema, dachte sich Victor.
Die Milch kam von Kühen oder Schafen, die den ganzen Tag auf der Weide standen, gackernde Hühner legten jeden Tag frische Eier und Fleisch stammte von Tieren, die auf dem Bauernhof herumliefen oder von bei der Jagd erlegten Tiere. Tierische Nahrungsmittel waren selten, weshalb sie nicht häufig auf dem Tisch landeten. Manchmal ging jemand aus dem Cluster auf die Jagd und brachte Hasen oder Fasane mit nach Hause. Das waren meist schöne Anlässe für eine ausgiebige Tafel.
Der Film hatte zu diesem Thema anderes zu berichten, was dazu führte, dass sich Victor beinahe übergeben musste. Es wurden Aufnahmen gezeigt von riesigen Ställen mit bis zu fünfzig Tausend Schweinen auf engstem Raum, dreckig und mit blutenden Verletzungen. Den als klug geltenden Tieren standen Panik, Schmerz und Angst ins Gesicht geschrieben. Sie schrien ihre Verzweiflung den Reportern entgegen und starrten mit ihren schmerzerfüllten Augen in die Kamera. Tausende Hühner mit herausgerissenen Federn und blutig gehackten Köpfen auf kleinem Raum versuchten verzweifelt mit ihren gebrochenen Flügeln zu schlagen. Es war ein Alptraum und Victor konnte nicht fassen, was er da zu sehen bekam. Was haben die Menschen denn da für Verbrechen begangen? Sie behandelten diese wunderbaren Geschöpfe wie tote, gefühl- und seelenlose Gegenstände. Eine erste Träne lief ihm über die Wange.
„Alles wegen des Geldes, Victor. Es ging nur ums Geld. Je weniger das Wohl der Tiere kostete, umso mehr Geld klingelte in der Kasse. Mensch ging zudem davon aus, dass Fleisch nicht viel kosten dürfe, damit jeder Mensch so viel davon essen könne, wie er wollte. Die Menschen waren davon überzeugt, ein Anrecht auf täglichen Fleischkonsum zu haben. So glaubten sie auch, es gäbe ein Grundrecht auf Konsum.“
Es folgten weitere Bilder, die im Schrecken sogar den Tierquälereien ebenbürtig waren. Riesige Fabriken, die dreckiges Wasser voller Gifte in Flüsse pumpten - qualmende Schornsteine - ausgetrocknete Seen - sterbende und brennende Wälder - riesige Felder, auf die Gift gesprüht wurde - Monokulturen, soweit das Auge reichte - aussterbende Tiere - Pumpen, die gierig das Öl aus der Erde saugten - riesige Bagger, die Berge abtrugen - Schächte, die in die Erde getrieben wurden auf der Suche nach Bodenschätzen - ...es wollte einfach kein Ende nehmen.
Jetzt flossen bei Victor die Tränen in Strömen, er schluchzte verzweifelt, stand taumelnd auf und verließ seine Wohnung. Er konnte sich diesen Alptraum, die Verbrechen seiner Ahnen nicht weiter anschauen.
Mutter hatte recht.
Es stimmte alles, was sie erzählt hatte. Und die Menschen hatten es damals gewusst.
Victors Weltbild war zusammengebrochen. Er war der Spross von Tätern und nicht von Helden. Hatte versucht, sich gegen ihre Horrorgeschichten zu wehren. Stritt alles ab. Wollte seinen Glauben an Humanismus und Pioniergeist früherer Generationen wahren. Vergeblich.
Er lief das Treppenhaus nach unten, stützte sich immer wieder taumelnd an der Wand ab und näherte sich der lauter werdenden Musik, dem Lachen und Singen, bis alle verstummten und ihn erschrocken anstarrten.
Es dauerte eine Weile, bis sich Victor, umgeben von seinem Cluster, wieder beruhigt hatte. Caroline hielt ihn fest in den Armen und küsste ihm zärtlich seine Tränen trocken. Jede einzelne. Mittlerweile wieder etwas gefasster, saß er am Gemeinschaftstisch und trank einen Tee. Er berichtete von den Ereignissen des Vorabends, den Zeitschriften, dem Spielfilm und all dem, was er von Mutter erfahren hatte. Niemand wagte ihn zu unterbrechen und mit Entsetzen betrachteten alle die holografischen Scans und Übersetzungen der Zeitungen und Zeitschriften.
Die Kinder wurden zum Spielen nach draußen geschickt, denn all das, was Victor offenbarte, war nicht unbedingt für Kinderohren bestimmt. Mutter hatte sich zu ihnen gesellt, hielt sich aber im Hintergrund. Victor zeigte die Dokumentationen, was einen kollektiven Schock auslöste. Es folgte eine längere Phase des entsetzten Schweigens. Schniefen, schluchzen und hochgezogene Nasen unterbrachen gelegentlich die Stille. Niemand hatte sich über diesen Teil der Menschheitsgeschichte, die Mitte des einundzwanzigstens Jahrhunderts jäh endete, jemals konkrete Gedanken gemacht. Es wurde allgemein akzeptiert, dass es zu diesem Zeitpunkt eine Art von Break gegeben haben musste und vorher nicht alles optimal verlaufen war. Fragen wollte niemand stellen. Es war halt einfach so.
Jetzt dämmerte allen, dass sie die Nachfahren von Tätern waren, von Menschen, die beinahe die ganze Welt auf dem Gewissen hatten, von Menschen, die die Erde selbstsüchtig ausbeuteten und Tiere aus Eigennutz quälten. Es waren ihre Urgroßeltern, die diese Verbrechen an der Menschheit und der gesamten Erde begangen oder geduldet hatten.
„Immerhin“, stellte Ayoma aus dem zweiten Stock nach einer Weile fest, „haben es die Menschen doch noch geschafft, die Welt zu retten. Wir sitzen alle hier und erfreuen uns des Lebens. Es gibt keine Tierfabriken mehr, Felder und Wälder haben sich erholt, Gift wird nicht mehr gespritzt. Wir konsumieren nur das, was wir wirklich brauchen und der Erde nicht schadet. Wir haben alle keinen Besitz, fahren keine stinkenden Autos, sind glücklich und leben in wertvollen Gemeinschaften. Von Süd bis Nord und Ost bis West geht es allen Menschen auf dieser Welt gut. Wir haben Familie und Freunde, müssen nicht hungern und machen jeden Tag, worauf wir Lust haben. Wir lieben und achten uns. Kann denn das Leben schöner sein? Gab es in der gesamten Entwicklung der Menschheit je eine so glückliche, einfache Zeit? Keiner muss um das Überleben kämpfen, es gibt keinen Hunger und keine Not. Nirgends.
Irgendwie haben unsere Vorfahren im letzten Moment doch noch die Kurve gekriegt.“
Erleichterte Gespräche setzten wieder ein, Tränen trockneten und sogar befreites Lachen stellte sich, wenn auch zaghaft, wieder ein. Es war tatsächlich so, wie Ayoma gesagt hatte, die Welt war gerettet. Sie war jetzt eine andere. Vor über hundert Jahren fand das Glück Einzug auf dem Planeten Erde.
Die Zubereitungen des Essens wurden wieder aufgenommen und die Gespräche kamen allmählich erneut auf die Wohnung im vierten Stock zurück. Victors Einschätzung, dass die vier Bewohner nicht eingemauert wurden, sondern sich versteckt hatten, fand allgemeine Zustimmung. Nach den Funden in der Wohnung zu urteilen, musste das Verstecken der vier Unbekannten und der Break sogar in direktem Zusammenhang stehen. Zumindest zeitlich betrachtet lagen beide Ereignisse sehr dicht beieinander.
Zadfar aus dem Hinterhaus wiederholte die von Anfang an im Raum stehende Frage, die alle beschäftigte:
„Vor was oder vor wem haben sie sich versteckt?“
Schweigen.
Überraschend für alle wurde die Stille von einem Räuspern unterbrochen und Mutter sagte mit leiser Stimme:
„Vor mir.
Sie haben sich vor mir versteckt.“
Alle sprangen auf. Riefen, nach Sekunden der Schockstarre, ungläubig durcheinander:
„Vor dir? Mutter?“