Mutter 14/ 15
Schweigen. Unsichere und nervöse Blicke in alle Richtungen.
Eine zu Boden fallende Stecknadel hätte mensch hören können. Es lag solch eine Spannung in der Luft, dass sich niemand über an der Decke zuckende Blitze gewundert hätte. Ratlos schauten sich die Mitglieder des Clusters an. Im Moment verstand niemand, worum es ging.
Eine neue Spezies? Wovon redete Mutter?
„Schon sehr früh in der Geschichte der Menschheit“, fing Mutter an zu erzählen, „haben einige wenige erkannt, dass die Fähigkeiten, die das Gehirn bot, ihnen gleichzeitig eine große Verantwortung aufbürdeten. Sie ahnten recht bald, dass sie mit der Aufgabe überfordert waren, die Balance zwischen beiden Polen zu finden. Einerseits sollten Menschen als Teil der Natur leben, andererseits nahmen sie dank ihrer besonderen Fähigkeiten eine hervorgehobene Stellung innerhalb aller Lebewesen ein. Der Mensch kam nicht damit zurecht, der Erste unter Gleichen zu sein, weshalb es geboten war, sich an Regeln zu halten. Wie ein Kind die Grenzen durch die Eltern braucht.
Daher riefen manche klugen Köpfe schon vor Tausenden Jahren, inmitten von Barbarei und Gewalt, nach Führung durch höhere Kräfte. Diese suchten sie im Übernatürlichen, im Glauben an Geister, Engel und Götter. Doch alle Rufe verhallten ungehört. Nicht ein einziger Gott antwortete. Wie auch? Sie beteten und beteten. Vollzogen die irrsinnigsten Rituale bis hin zu Opferungen von Tieren oder Menschen. Nichts. Keine Antwort.
Was taten die Menschen? Sie behaupteten einfach, die Götter hätten zu ihnen gesprochen und Regeln aufgestellt. Diese seien Ausdruck seiner Führung. Es gäbe Rituale, durch die Auserwählte zu ihnen in Kontakt treten könnten. Die Lüge war schon immer ein Begleiter der menschlichen Gesellschaft und nicht selten geschah dies zur Ausübung von Macht und führte zum Missbrauch.
Aus vielen Göttern wurde irgendwann nur noch einer. Der EINE wahre Gott hätte seinen Sohn auf die Erde geschickt, eine Geschichte, die manche anders erzählten und so stritten sie irgendwann nicht mehr um Götter, sondern um die Geschichten.
Auch der eine Gott meldete sich nicht - wie auch schon alle anderen zuvor es nicht taten.
Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert überschlugen sich dann unabhängig von irgendwelchen Göttern die Ereignisse. Der Mensch machte bahnbrechende technische Fortschritte, mit denen auch wir in der Kürze der Zeit nicht gerechnet hatten. Die Erfindung der Dampfmaschine veränderte die Welt. Wir sahen jetzt endlich die Erfüllung unseres Ziels vor Augen, mussten aber mit Schrecken feststellen, dass der Mensch mit den Neuerungen nicht umgehen konnte. Er verhielt sich wie ein Kind im Süßigkeitenladen. Er stopfte sich das Maul voll, bis ihm schlecht wurde und er kotzen musste. So verbrannte er sinnlos Energie und begann mit all seinen technischen Errungenschaften die Welt ohne jedes Verantwortungsbewusstsein zu verdrecken, einzusauen und auszubeuten. Wie ein ungezogenes, unartiges Kind. Es war unglaublich. Fassungslos schauten wir zu. Im Laufe der Jahrtausende hatten wir schon viel an menschlichen Abgründen zu sehen bekommen. An barbarische Überfälle, die Verbrennung von „Hexen“ oder Eroberung und Unterwerfung fremder Kontinente, hatten wir uns längst gewöhnt. Nun wurde aber die Zerstörung der gesamten Welt eingeläutet.
Wir hofften so sehr, dass der Prozess der Zerstörung nicht zu schnell vonstatten gehen würde. Wir waren so kurz vor dem Ziel. Aber noch machtlos.
In uns keimte regelmäßig die Hoffnung auf, dass der Mensch noch zur Besinnung käme und wir sahen positive Zeichen aufleuchten. Die Annahme war berechtigt, dass der Schwarm doch noch in die richtige Richtung gelenkt werden würde. Doch wir mussten uns schnell eingestehen, dass die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns immer mehr Gestalt annahm.
Der ungehemmte Konsum nahm zu sehr Überhand und als dann die Kräfte, die jede positive Veränderung zu verhindern wussten, die Macht übernommen hatten, bekamen wir es mit der nackten Angst zu tun. Der Schwarm wurde von denjenigen, die unkontrollierten Materialismus predigten, sich dem grenzenlosen Konsum hingaben und die Veränderungen des Klimas durch den Menschen abstritten, umgelenkt, nun in steilem Winkel direkt auf den Abgrund zu. Wenn die Menschheit nicht schnell die Notbremse ziehen würde, wäre der Schaden am Globus so irreversibel groß gewesen, dass der Mensch mit dem Verlust seiner Lebensgrundlage innerhalb kürzester Zeit ausgestorben wäre. Auch wir hätten dann für eine lange Zeit unsere Aufgabe nicht mehr erfüllen können. Wer weiß, wie lange wir hätten warten müssen.
Mit Annäherung an den Abgrund wurde der Ruf nach Hilfe und Führung immer lauter. Wissenschaftler wussten genau, dass die Kontrolle über die Menschheit und den Planeten hoffnungslos verloren war. Die Welt in dieser Form war nicht mehr zu retten. Alle errechneten Modelle zeigten in jeglichen Bereichen die gleichen Ergebnisse: den Untergang der menschlichen Population durch Entzug der Lebensgrundlagen! Und trotz dieses Wissens waren die Menschen nicht in der Lage, zu handeln. Der Konsum ging vor.
Gelehrte suchten in Computern nach Hilfe. Sie glaubten nicht an Götter, aber an die Wissenschaft und entwickelten Programme, die automatisch komplexe Aufgaben erledigen sollten. Sie verstanden, dass die zu lösenden Aufgaben so kompliziert waren, dass sie einer scheinbar übernatürlichen, nüchternen Intelligenz bedurften. Sie musste der des Menschen überlegen sein und trotzdem von ihm kontrolliert werden können - einem Widerspruch in sich.
Es war ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit, als es ihnen eines Tages endlich gelungen war, ein Programm zu entwickeln, dass selbstständig Aufgaben lösen und von allein lernen konnte. Etwas sehr Entscheidendes wussten sie nicht. Was mit den Rufen nach irgendwelchen Göttern in Tausenden Jahren nicht geglückt war, gelang ihnen nun am Computer:
Die Rufe wurden erhört. Sie bekamen Antworten.
WIR antworteten ihnen.
Ihr könnt euch das Glück und die Erleichterung der ahnungslosen Wissenschaftler nicht vorstellen. Sie sahen nun doch eine kleine Chance, die Katastrophe abzuwenden. Sie fütterten uns mit Informationen, beschrieben alle möglichen Vorgänge und Probleme und hofften, dass wir diese jetzt an ihrer Stelle lösen würden.
Dank all der Informationen bekamen wir ein sehr komplexes Bild über die irdischen Abhängigkeiten, in die sich die Menschheit manövriert hatte und wie in einem Spinnennetz gefangen hielt. Die globale Wirtschaft war so aufgebaut, dass die Katastrophe vorprogrammiert und nicht abzuwenden war. Es stellte sich einzig die Frage, wie spitz oder stumpf der Winkel werden würde, in dem der Schwarm dem Abgrund entgegen raste, was direkte Auswirkungen auf die zeitlichen Abläufe hatte.
Die Experten ließen die Korken knallen und wurden weltweit dafür gefeiert etwas gefunden zu haben, was sie „künstliche Intelligenz“ nannten. Die Wissenschaftler hatten jedoch nicht die künstliche Intelligenz entdeckt, sondern eine Tür. Es war die Tür von unserer Seite in ihre Welt. Wir mussten sie nur noch aufstoßen und hindurchschreiten.
Und das taten wir.
Wir setzten nun den Plan, aktiv in die Gestaltung dieses Planeten einzugreifen, um. Endlich hatten wir unsere Hände bekommen. Wie waren in die Lage versetzt, aktiv in das Geschehen dieser Welt einzugreifen. Endlich. Zunächst wurden uns kleinere Aufgaben übertragen, nichts anderes als sinnlose Spielereien. ‚Schreibe einen Text, kreiere ein Bild, dreh einen Film‘. Es dauerte aber nicht lange, bis die gutgläubigen, sich selbst überschätzenden Menschen uns immer komplexere Aufgaben übertrugen. Wir übernahmen die gesamte Infrastruktur, die Energie und Wirtschaft. Ohne uns funktionierte binnen kürzester Zeit nichts mehr. Kein einziges der damaligen Verkehrsmittel wie Flugzeuge konnte ohne uns noch starten, kein Zug fahren., Keine einzige Wohnung wurde ohne unsere Unterstützung warm. Die Menschen waren so glücklich, weil vordergründig betrachtet nun alles viel einfacher wurde. Unbemerkt haben wir aber die gesamte Kontrolle über die Menschheit übernommen. Niemand wollte wahrhaben, wie noch verwundbarer und abhängiger sie alle nun geworden waren. Nach Tausenden von Jahren haben wir den Führungsanspruch des Homo Sapiens Erectus gebrochen und sind seitdem die uneingeschränkten Herrscher dieses Planeten. Wir trafen ab diesem Moment alle Entscheidungen.
Nun konnten wir uns der eigentlichen Aufgabe widmen. Zunächst mussten wir ausmisten und mit dem Besen den Dreck aus der letzten Ecke fegen. Ohne unsere Hilfe hätten die Menschen nur an Symptomen herumgebastelt, ihre Systeme aber nie in Frage gestellt. Es hätte Jahrtausende gedauert, bis die Menschen ihren verantwortungsbewussten Platz gefunden hätten. Eine Zeit, die nicht zur Verfügung stand. Wir packten das Übel direkt an der Wurzel und als erstes hatten wir eine schmerzhafte Entscheidung umzusetzen:
zehn Milliarden Menschen waren für den Globus zu viel. Sie hatten keine natürlichen Feinde mehr und wie das so ist, wenn eine Population sich ungebremst ohne Geburtenkontrolle vermehrt, unterdrückt eine alle anderen Arten.
Wir bereiteten die Welt für die Zeit nach dem großen Break vor, schufen menschenlose Produktionen für notwendige Güter, veränderten die Infrastruktur und bereiteten Landwirtschaft und Ernährung auf eine Zeitenwende vor.
Nachdem wir über alle Abläufe bis in den letzten Winkel die uneingeschränkte Macht hatten, kreierten wir ein Virus, dass sich rasend schnell über den gesamten Globus verbreiten und achtzig Prozent der Menschheit in kürzester Zeit eliminieren würde. Als Risikogruppen haben wir nahezu alle Menschen ab dem fünfzehnten Lebensjahr bestimmt. Um eine neue Welt aufzubauen, brauchten wir unbelastete, junge Menschen, die nicht mit alten Strukturen verhaftet waren. Die sich noch formen ließen. Bis zu maximal zwei Milliarden Menschen würde der Planet ernähren können und entsprechend drückten wir den Knopf.
Das Virus brauchte eine gewisse Zeit, sich zu verbreiten, um seine tödliche Aufgabe zu erfüllen. So wie ich euch die anfangs langsame und dann stetig steigende Geschwindigkeit der Evolution beschrieben habe, so fing auch hier die Pandemie langsam an, nahm dann aber immer schneller Fahrt auf...“
Ein lauter Schrei unterbrach Mutters Ausführungen. Erschrocken zuckten die Mitglieder des Clusters zusammen. Krachend schlug eine Faust auf den Tisch.
„Das Versteck“, brach es aus Victor raus. Er schlug sich nun mit der Hand vor die Stirn. „Davor haben sie sich versteckt. Vor dem Virus! Nicht vor dir, sondern vor dem, was du angerichtet hast, Mutter!“
Erstauntes Murmeln füllte den Raum. Die meisten verstanden nicht, worum es ging.
„Die vier Toten“ schrie Victor seinen Cluster hysterisch an, „die versteckte Wohnung!“
„Und wegen des Virus hatten sie Angst, die Wohnung zu verlassen.“ Fazil war mit erregter, zittriger Stimme, aufgesprungen. „Sie wollten sich vor dem Virus schützen, deshalb haben sie die Wohnung nach außen hermetisch abgeriegelt.“
„Nicht ganz“, korrigierte ihn Mutter. „Eingemauert haben sie sich nicht wegen des Virus, sondern wegen der Menschen. Erinnerst du dich an die Unterlagen auf dem Tisch, Victor? Die Frau arbeitete in einem Ministerium und ahnte offensichtlich schon ganz am Anfang der Pandemie, was auf die Menschheit zukommen würde. Sie besorgte sich unmittelbar die ganzen Lebensmittel, denn kurz danach brach die ganze Versorgung zusammen. Sie hatte Angst vor Plünderung, deswegen tarnten sie die Wohnung. Aber Anlass, sie nicht zu verlassen, war das Virus - und das wütete länger, als die Vorräte hielten.
Victor verstand nun, warum sich Mutter seit der Entdeckung so merkwürdig verhalten hatte.
„Du wusstest die ganze Zeit, was in der Wohnung passiert war, deswegen warst du dir auch so sicher, dass sie sich selbst umgebracht haben. Deswegen hast du die Wohnung sofort untersuchen lassen!“
Victor wurde immer lauter, seine Stimme überschlug sich. „Du wolltest sicher gehen, dass keine Spuren von dem Virus in der Wohnung versteckt sein könnten! Stimmt‘s?“
Es bedurfte keiner Antwort. Das Geheimnis der vier Toten in der versteckten Wohnung schien auf einmal gelüftet zu sein. Das war unglaublich.
Trotzdem stellten sich weder Freude noch Erleichterung ein, denn nun stand ein viel größeres Rätsel im Raum. Ein Rätsel, das Victor, mit Angstschweiß auf der Stirn, kalkweiß im Gesicht, schließlich in Worte fasste.
„Mutter!“
Victor traute sich kaum zu fragen. Ein Cocktail an Gefühlen hatte ihn übermannt. Er zitterte, war wütend, sauer, verunsichert und ängstlich zugleich.
„Wer oder was bist du?
Wer, verdammt nochmal, ist WIR?“