Segafredo im Hbf, morgens um 9h
Ich habe ein wenig italienische Anarchie im ordentlichen Vorschriftendeutschland gefunden – einen Ort, der im rauchfreien Bahnhofsgelände Rauchen erlaubt und zu einem wunderbaren Kaffee überraschende Musik serviert („last night the dj saved my life“, „another one bites the dust“ oder „such a shame“). Zu all dem das italiano rapido des Personals, die üppige Gebärdensprache und ihr offenes Lachen.Sofort fühle ich mich an einem regnerischen Morgen in Rom oder Venedig, zwischen gut angezogenen Italienern, die kurz vor der Arbeit noch einen Kaffee nehmen. Leicht gebräunte Männer mit exaktem Haarschnitt in dunklen Anzügen und Kaschmirmänteln, etwas zu goldenen Uhren und zu weißen Zähnen, Frauen in klassischen Zweiteilern, mit etwas zu roten Lippen für einen frühen Morgen und zu schweren Armbändern, die ihr Sprechen mit viel Geklirr untermalen. Sie rauchen in tiefen, hektischen Zügen, als seien sie auf dem Sprung oder schon zu spät für einen Termin, nehmen aber noch einen zweiten oder dritten Espresso.
Ich erinnere mich auch an die Cafés auf langsam erwachenden piazzas an Sommermorgenden, ich, die Frühaufsteher-Touristin, die ihre noch schlafende Familie mit frischem Brot zum Frühstück versorgt und sich einen Kaffee gönnt, bevor sie ins Ferienhaus zurückschlendert. Da sitzen junge Männer in ärmellosen Unterhemden, braune, straffe Haut mit Goldkettchen, gegelte Locken über den samtdunklen Augen, die sich lachend aufziehen – vielleicht mit den Abenteuern der letzten Nacht. Ein paar Alte sitzen am Tisch, verschwitzte Sommerhüte auf dem Kopf und vergilbte Zigaretten im Mundwinkel, die Arme in die Seiten gestützt. Sie kommentieren die Artikel der Tageszeitung und politisieren großmäulig, doch mit Augenzwinkern. Alles wird schlechter, früher war es nicht besser – aber das Leben ist schön!
Und mitten in einem betriebsamen, grauen Bahnhof werfe ich einen letzten Blick von der Anhöhe meiner Erinnerungen auf ein sonnenlicht funkelndes Meer – und zahle meinen Kaffee. Für ein paar Euro habe ich eine kleine Reise ins Licht und die Lebendigkeit gemacht, bevor ich in meinen teakholz farbenen Arbeitstag eintauche.
©tangocleo 2010