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Stumm

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****ia Frau
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Stumm
die 8-Worte-Geschichte gestern hat mich zu einer Trilogie angeregt, deren erste zwei Teile jetzt fertig sind:

Stumm 1809

„Teufelswerk! Das ist Teufelswerk!“ schrie der Vater immer wieder auf sie ein, nachdem er sie niederknien geheißen hatte.
So kniete sie hier nur im Hemd, während der Regen so unbarmherzig auf sie niederprasselte, wie der Stock. Immer wieder hob und senkte sich seine Hand, die die Knute hielt, zum Schlag, bis sie die Schläge nicht mehr zählen konnte. Tränen verschleierten ihre Augen, doch blieben ihre Schreie lautlos, so wie noch nie ein laut über ihre zarten Lippen gekommen war, denn sie war stumm geboren.
„Ich hätte dich sogleich auf den Mist werfen sollen, nachdem du deiner Mutter, der Herr hab sie selig, aus dem Leib geschlüpft bist, du unnützes Wechselbalg!“ Und wieder wurden die Schläge härter. Endlich brach sie unter der Wucht seines geballten Hasses zusammen, nahm die Dunkelheit, die sie umfing beinah dankbar an.
Sie erwachte im Morgengrauen, halb nackt und durchweicht vom Regen und ihrem eigenen Blut, im Hof. Keiner der Knechte und Mägde hatte den Mut gehabt, ihr aufzuhelfen, aus Angst vor dem Despoten. Auch sie kannten seine Knute.
Zitternd rappelte sie sich auf, sie konnte nicht richtig sehen. Alle Linien wirkten verzerrt und asymmetrisch. Erst nachdem sie sich zum Brunnen geschleppt und ihren brennenden Durst gestillt hatte, wurde ihr Blick wieder klarer.
Sie dachte an all die Kräutersträuße, die sie den Sommer über gesammelt und getrocknet hatte, an all die heilenden Salben und Tinkturen, die sie zubereitet hatte, um in der harten Winterzeit den Menschen auf dem Hof zu helfen. Das alles hatte der Vater in dieser Nacht vernichtet. Sie war nur ein Wechselbalg. Von ihr konnte nichts Gutes kommen. Das Gute lag einzig im Wort Gottes und im Gebet. Aber da sie nicht sprechen konnte, konnte sie das Vaterunser nicht aufsagen. Also war sie schlecht. Nein, nicht schlecht. Sie war eine Hexe, eine Teufelin, in des Vaters Augen. Nun, dann sollte es so sein!
Sie wusste, wo Bilsenkraut, Schierling und Eisenhut wuchsen. Und es war ein Leichtes für sie, den Trank zu brauen und in sein Mahl zu rühren.
So hatte sich das Gift doch noch einen Weg in ihr Herz gebahnt. Als er unter Qualen starb lächelte sie – stumm.


Stumm 1939

Heute war sie draußen gewesen. Da spielten andere Kinder im Straßenstaub Hinkepanke. Dabei hatte sie sie schon oft aus dem Schutz der zugezogenen Gardinen heraus beobachtet. Oh, wie gerne wollte sie mittun! Aber die Munter litt es nicht, dass sie hinausging.
„Kind, bleib im Haus! Du bist nicht wie die anderen! Dort hast du nichts zu schaffen!“
Aber heute war die Mutter nicht daheim. Und die Sonne blinzelte ihr zu und das fröhliche Spiel der Kinder war so verlockend. Also ging sie hinaus.
Schüchtern, mit in die Schürzentaschen gebohrten Fäusten, näherte sie sich den umhertollenden Kindern und riskierte den einen oder anderen neugierigen Blick auf ihr ausgelassenes Treiben.
Endlich wurde sie von den Kindern bemerkt. Sie bildeten einen Kreis um sie und sie lächelte sie schüchtern an. Die Kinder grinsten und fingen an, sie im Kreis zu drehen. Dabei sangen sie:
„Seht einmal, die Stumme,
seht einmal, die Dumme,
seht einmal, die Stumme,
seht einmal, die Dumme,
seht einmal, die Stumme, …“
Immer weiter ging es so, bis es ihr schwindelig wurde und sie zu torkeln anfing. Die Kinder schnitten ihr Grimassen, streckten ihr die Zunge heraus. Sie hielt sich die Ohren zu, wusste nicht ein noch auch und fühlte den Kreis immer enger werden. Aus dem Drehen wurde ein Schubsen und Schieben, bis sie weinend im Staub auf die Knie ging. Unter Tränen stieß sie merkwürdige Laute aus. „Schaut mal, das ist gar kein Mädchen, das ist ein Tier!“ rief ein blonder Junge und gab ihr einen Stoß, dass sie mit dem Gesicht auf den Boden schlug und sich die Lippen blutig biss.
Da griff sie sich in ihrer hilflosen Ohnmacht einen Stein und warf ihn dem Kind an den Kopf. Blut strömte von der blonden Schläfe, als das Kind bewusstlos niedersank. Vor Schreck rückten die anderen Kinder auseinander, so dass sie weinend nach Hause laufen konnte.
Am Abend kam der Vater des Jungen zu ihrem Haus und schrie auf ihre Mutter ein: „Vergasen lassen sollte man die Missgeburt!“
Erscheckende
Wirklichkeiten reibst Du uns da unter die Nase!

Aber gekonnt! *spitze*

Seltsamerweise schreibe ich im Moment gerade etwas furchtbar Ähnliches in meiner Antidomgeschichte.
Ob es gerade in der Luft liegt, oder wir uns hier immer ähnlicher werden, immer näher kommen?

*gruebel* laf
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****ia Frau
22.263 Beiträge
Themenersteller 
Wer weiß, olove, wer weiß...

Vielleicht kommt man im Leben irgendwann an einem Punkt an, der einen nachdenklicher macht...
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****ia Frau
22.263 Beiträge
Themenersteller 
Stumm 2009
Hier in der Schule fühlte sie sich zuhause. Da war sie eine unter Vielen. Nichts an ihr war besonders.
Die Wochenenden daheim mochte sie nicht besonders. Ihr Vater arbeitete viel, und ihre Mutter ging ihr auf die Nerven, mit ihren ewigen Selbstvorwürfen. „Kind, ich muss irgendwas falsch gemacht haben, in der Schwangerschaft. Ob ich mich nicht gut genug ernährt habe? Weißt du, Kind, ich hatte immer viel Stress. Das scheint dir geschadet zu haben. Aber nicht, dass du denkst, ich liebe dich weniger, als wenn du sprechen könntest! Nein, Kind, du bist normal, du kannst nur nicht sprechen. Aber ich liebe dich auch so, wie du bist“
Es kam ihr vor, wie eine Gebetsmühle. Dieses „nein, du bist normal“. Was war schon normal?
Und wenn sie normal wäre, dann wäre sie ja nicht auf diesem Internat für Sprachgestörte, oder? „Ich liebe dich auch so, wie du bist!“ Whow! Warum dann immer diese Selbstvorwürfe? Und immer dieser Papierkram. Anträge für den Landeswohlfahrtverband, damit die Schule bezahlt würde. Schwerbehindertenausweis. Meine Güte, sie war doch nicht behindert! Sie konnte doch einfach nur nicht sprechen!
Die Mutter trank schon seit einer Weile und dachte, niemand würde es bemerken. Aber sie wollte keine Schuldgefühle haben. Was konnte sie dafür, dass die Mutter sich selbst zerfleischte, nur weil sie kein „perfektes“ Kind geboren hatte? War es ihre Schuld, so zu sein, wie sie war? Nein, das war es nicht. Und doch, sie wusste, sie würde niemals die Tochter werden können, die ihre Eltern sich gewünscht hatten. Da würde alle Mühe nichts helfen. Der Makel würde immer an ihr haften.
Aber wie sah denn ihre Perspektive aus?
Irgendwann würde sie die Schule beendet haben. Eine Ausbildung würde folgen. Auch die würde sie mit leidlich guten Noten abschließen. Und dann?
Vielleicht würde sie irgendeine Integrationsfirma finden, die sie aufnehmen würde. Hochqualifizierte Arbeit zu einem Dumpinglohn. Und sie wäre dort dann ein Aushängeschild für all die Institutionen, die sich die Behinderten auf die Fahne geschrieben hatten. „Seht her, wir integrieren erfolgreich!“
Wollte sie so enden?
Sollte das das Ende sein?
Sie würde so gerne schreien. Wenn sie nur wüsste, wie sie ihren Körper dazu bringen könnte. Aber wie immer wollte er ihr in dieser Sache nicht gehorchen.

Man fand sie am nächsten Morgen mit durchschnittenen Pulsadern.
Danke liebe Rhabia!
Warum nur haben die Menschen nur so viel Angst vor dem Andersartigen?
Ist das eine Urangst, wenn sie sogar schon bei Kindern zu beobachten ist? Oder sind es, wenn Kinder so feindselig reagieren, die Ängste der Eltern, die sie zeigen? Wohl eher ein Mangel an Liebe. Wie traurig.

Gudrun
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****ia Frau
22.263 Beiträge
Themenersteller 
Ja, Anderssein scheint wohl eine Urangst. Aber auch in unserer ach so modernen Welt werden Menschen, die nicht ins Schema passen ausgegrenzt.
Sie werden verlacht, verhöhnt, benutzt...
Traurig, aber real.

LG
Rhabia
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Danke .... für diese berührenden Geschichten

In der zweiten Geschichten erkenne ich eine mir bekannte (bereits verstorbene) Frau. Brutal und wirklichkeitsnahe geschrieben.

Für alle drei *bravo*


Herta
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
"Andere sind anders. Das geht doch nicht und muss sofort geändert werden. Anders sein - das darf man nicht! Dann könnte ich ja mal merken, dass ..." - ja, was eigentlich?

In solchen und ähnlichen Worten wird das millionenmal gedacht, und ich hab Ähnliches schon oft gehört ...

Mach weiter hier, liebe Rhabia! Es ist bitter notwendig. Und es sollte auch nicht verniedlicht oder beschönigt werden, nur damit es uns nicht weh tut.

(Der Antaghar)
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****ia Frau
22.263 Beiträge
Themenersteller 
Nun, geplant hatte ich diese drei Geschichten eigentlich für ein Kunstprojekt mit dem Thema Behinderung und Integration.

Die erste Schelte durfte ich mir jetzt vom Behindertenbeauftragten persönlich abholen:
Zu düster.
Zu depressiv.
Zu negativ.
*nixweiss*

Ich fürchte, der gute Mann macht sich jetzt Sorgen um mein Seelenheil...
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Erster Gedanke: So ein Idiot! Mann, ist der blöd!

Zweiter Gedanke: Er will die Realität nicht wahrhaben, er hält sie nicht aus.

Dritter Gedanke: Manche wollen eben alles schönreden und in Zuckerwatte tauchen ...

*

Tatsache könnte sein, dass er es einfach aus dem Blickwinkel sieht, dass man in etwas Dunkles mehr Licht bringen sollte?

*nixweiss*

(Der Antaghar)
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