Ein kleines Glück
.Leo Himmelsblaui
Eine kleines Glück
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Die Nacht steigt herab, als ginge sie auf eine Hochzeit von Königen. Majestätisch schreitet sie zu uns herab, vom Lidstrich zu den Zehen, schwarz wie das All. Sie steigt die Stufen hinab, mit den verblassenden Wolken als Kulissen, als wären sie nur aus Papier. Ein vibrierender, mit dem Bauch spürbarer, aber mit den Ohren nicht mehr vernehmbarer Bass und ein dumpfer, treibender Rhythmus durchdringen die Stadt und die Himmel und ziehen in die Herzen ein wie Heere siegreicher Barbaren. Die Nacht steigt herab. Gott dimmt das Licht und der Vorhang verzieht sich.
Blau wird zu Schwarz im kopfverdrehenden Widerhall ihrer Absätze und die Gemüter in der hitzigen Stadt warten mit Sehnsucht auf die Kühle, die sie unter ihrem allschwarzen Kleid führt. Die neue Luft wird die alte nicht ersetzen. Sie wird sie besänftigen. Sie wird die schwüle Luft schneiden und teilen wie einen Teig und sie wird dieses pastöse Gemisch aus Abgasen und Zigaretten und Schweiß in den Ecken belassen, wo kein Wind weht und kein Hund schläft.
Flip-Flops, gewetzt auf dem Asphalt von Typen, die aussehen als kämen sie grad vom Strand, liegen unter den Tischen auf den Terrassen der Cafés oder schaukeln an Zehen. Allerhand Tand baumelt an Hüften und von Schultern oder fliegt von offenen Balkonen.
Unten laufen Prozessionen von Frauen, unendlich schöne Frauen in allen Hauttönen, laufen ein wie Flotten stolzer Schiffe mit goldenem Bug. Sie sind bis an die Zähne bewaffnet mit Hüften und mit Brüsten. Ihre Schönheit ist von ewiger Natur und ihnen durchaus bewusst, wenn auch in der Tiefe, denn wenn es ihnen beliebt, öffnen sie ihre Blüten und verschenken ihren Duft dem, der das Glück hat.
Die Nacht ist herabgestiegen und nun selbst Mutter aller Dinge. Ihr Spiel hat begonnen und die Stadt ist voller Spieler. Nur ich spiele bei diesen Spielen nie mit. Ich bin siebzehn. Ich bin ein Loner und ich streife durch die Stadt und lass meine Augen frei tollen wie hungrige Hunde der Jagd. Sie können sich nicht sattfressen an Hälsen und Waden und Oberschenkeln. Ich streife herum wie eine Stubenfliege durch eine Küche fliegt, die voller Bratensäfte ist und satte Tropfen von süßer Milch. Ich bin aber nicht ziellos. Ich warte auf Dreiviertelelf.
Den ganzen Tag hab ich draußen verbracht unter einer nicht zu Scherzen aufgelegten Augustsonne. Es ist 1995 und es sind Hundstage. Und ich liebe die Hitze.
Rekordhitze. Sie hält mich ein Leben, als ob ich ein Reptil wäre.
Es sind Ferien und ich bin übrig. Kein Urlaub, keine Freunde, kein Eis am Stiel, kein Spiel auf dem 386er, was noch nicht ausgelutscht wäre. Kein gar nix.
Nur ich gegen Gott in der glimmenden Stadt. Vulkanovores Tier des Zementwälder.
Die Nacht ist herabgestiegen und streichelt mir die Haut mit kühler Hand. Sie säuselt mir in den Nacken wie ein Gebirgsbach einem Durstigen klingt. Aber sie löscht meinen Durst nicht. Ich sehne mich nach der Kühle des Kinos und dem Dolby Surround, der meinen Kopf befriedet wie der Schnuller ein Kleinkind. Der Kinosaal ist mir ein kaltes, dunkles Meer, in das ich abtauche und dann weg bin. Weg von all jenen Spielen, die hier draußen gespielt werden und denen ich niemals zugehörte. Zuhause, weil ich Geborgenheit fühle. Melanovorer Fisch des Großen Blau.
Aber ich muss auf den richtigen Zeitpunkt warten, um dorthin zu gehen. Dreiviertelelf. Dann muss ich dort sein. Deswegen ziehe ich nun wie eine Krähe Kreise um das Kino, das die Initialen meiner Schwester trägt. Treib mich herum in seinen Nebengassen und patrouilliere die Königstraße hoch und runter. Stuttgarter wissen, wo oben ist und wo unten.
Der Film hat schon vor 'ner Weile begonnen. Barton Fink. Das sechste Mal. Aber egal. Ich hoffe auf ein, zwei Szenen mehr. Ich kenne nur das Ende und male mir den Anfang selber aus. Ich kenne keine Trailer und keine Werbung. Ich meide sie immer, um ja nichts vorher zu wissen oder zu erwarten. Das ist das Wichtigste für mich. Ich will nicht warten auf etwas. Ich will das etwas auf mich wartet. Und bei Barton Fink wartet immer noch etwas. Ich kenne nur das Ende von Barton Fink. Heute noch. Der Anfang wartet immer noch auf mich und das ist etwas, was mir gefällt. Ich kenne nur das Ende mit dem Abspann und den aber bis zum Schluss. Bis der letzte Name gelaufen ist und ich versucht habe, mir alle anzusehen.
Gewöhnlich ist in Filmen die erste halbe Stunde das Beste vom Ganzen. Nachdem die endlose Werbung endlich rum ist und der Vorhang verzogen. Wenn die Lichter langsam verstummen und es endlich losgeht. Dieser Anfang mit seinem Schwung und seiner Verheißung. Seinem Verve, seinem Drama, seiner Wucht. Der Anfang, wenn alles möglich erscheint und die Musik aufregend klingt und alles verspricht. Der Anfang ist frei, nicht festgelegt, ungebunden. Er führt dich auch viele falsche Fährten, die aber alle noch möglich scheinen. Und das ist der Zauber!
Der Film kann noch gut werden oder noch schlecht. Er ist wie ein noch unbeobachtetes Quantenteilchen und wenn du aufhörtest zu schauen, bliebe er für immer beides. Er kann noch das eine sein, oder das andere, aber auf jeden Fall kann er dich noch überraschen mit seinen Szenen und Wendungen. Aber dann beginnt er sich festzulegen. Dialoge und Bilder und die Schnitte vor allem. Die Musik! Der Film bindet sich und folgt Schienen, die nach Schemata gelegt wurden und auf einen Showdown zusteuern, der angeblich alles bereinigen soll, aber in Wahrheit alles versaut.
Es ist soweit. Dreiviertelelf. Behende biege ich in die Bolzstraße ein und gehe baldig auf das Kino zu wie ein Räuber. Schwesterlein steht drinnen im Hellen und winkt mich ist Haus, nachdem sie sich vorher zweimal umgedreht hat. Schwesterlein winkt und ich komme. Sie lässt mich herein. Drinnen ist es unfassbar hell und kühl. Wie wenn ich in einen Pool gesprungen wäre aus Licht und aus Eis. Keiner sieht uns. Nur die Kolleginfreundin. Verstohlen flüstern wir drei uns zu. Die letzte halbe Stunde des Films. Dann noch zwanzig Minuten draußen warten und mit dem Vierer nachhause fahren. Wir werden die Scheiben ganz herunterziehen und die Nachtluft wird hereinströmen wie einen Ozean durch einen Damm bricht. Und wir werden uns über die beiden Johns unterhalten, Goodman und Turturro, und uns ausmalen, dass wir, wie die Cohens, eines Tages gemeinsam Filme drehen, die andere Geschwister in den Kinos schauen werden. Jetzt aber schnell wie der Wind die Treppe hoch!
Teppiche überall, sogar an den Wänden, und Vorhänge aus Velours. Sie sollen den Schall schlucken und sie schlucken auch mich. Das prunkvollste Haus, das ich kenne. Als ob hier Adelige wohnten. Niemand sieht mich. Außer dem gigantischen Johnny Depp, der mir von der Wand zugrinst. Der dritte John. Schwesterlein sagt schnell, geh da hinein! Von der Seite hinten. Letzte Türe. Wir stehen vor dieser Tür wie Verschwörer. Tür auf. Tür zu. Wie Diebe. Schnell rein und setzen. Kein Popcorn. Keine Chips. Kein Lakritz. Keine Saure Zungen. Nicht auffallen. Setzen. Der Sessel umarmt mich. Velours. Selbst an den Wänden. Die letzte halbe Stunde des Films. Aha, das war also vorher los. Sieh an. Der Meadows also so rum…Oha! John Goodman ist so gut…
Und den Satz kenn ich schon. Ich mag, wie er das sagt. Ich mag es auch zum sechsten Mal. Saug alles auf. Den Klang der Lautsprecher. Die Stimmen dröhnen durchdringend und dringen durch mich durch und durch die Luft. Befruchten sie. Nun trägt sie den Duft der Worte unter’m Herzen und dem von Karamell. Und etwas Furz. Aber auch das gehört im Kino dazu. Das macht es erst heimelig.
Es wäre nicht dasselbe, würden nicht Fremde dasselbe sehen, was ich sehe und dasselbe fühlen. Daher sieht man sich hinterher freundlich an. Vor allem diejenigen, die alleine hergekommen sind, tun das. Das gemeinsame Erlebnis verbindet und das lässt die Augenpaare sich pairen. In diesem Moment, am Grund des Meeres, bin ich kein Loner mehr. Zumindest, bis das Licht wieder angeht und der letzte rausgegangen ist und auch ich gegangen bin.