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Die Geschichten hinter euren Narben81
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An Tagen wie diesen

nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
An Tagen wie diesen
Eigentlich ist es ein ganz normaler Arbeitstag von mir, aber ... und da folgt die Geschichte dazu ... (ich musste mir das runter schreiben, ich wäre sonst geplatzt)


An Tagen wie diesen


Wieder so ein Tag, der mir schon am Morgen den Appetit auf den Abend verdirbt. Es ist wirklich die Hölle. Auf den Straßen lauter Irre unterwegs und ich mittendrin. Stau schon um sieben Uhr, nur zäh geht es dahin, hinein in die Stadt. Endlich, nach einem durchschwitzten T-Shirt und einem leer getrunkenen Kaffeebecher komme ich an meinem ersten Einsatzort an. Hier läuft noch alles nach Plan: Unterhaltung, waschen, aufräumen. Dann der Nächste auf der Liste. Ich hasse diese Hausbesuche, manchmal, an Tagen wie diesen.

Der nächste Einsatzort, beschert mir wieder Magenkrämpfe. Zuerst wate ich durch nasses WC-Papier, das schon an der Wohnungstür zu finden ist. ‚Schön, sie hat nicht vergessen, auf die Toilette zu gehen’, denke ich und räume das Papier weg. Sie ist bereits wach und empfängt mich mit Schimpftiraden, zum Glück beziehen sie sich nicht auf mich. Sie schimpft auf den unfähigen, unfreundlichen Therapeuten, der sie gestern im Stich gelassen hatte. Das ist mir heute aber so was von egal. Ich überrede sie zu einer Dusche, da hört sie endlich zu keifen auf. Heute kann ich das nicht hören. Mit viel Geduld geht die Stunde herum, Frau und Wohnung sind halbwegs sauber, sie sitzt jetzt wieder ruhig und zufrieden am gedeckten Tisch und schlürft ihren Kaffee. Ich möchte jetzt auch einen, habe aber gerade mal Zeit, eine Zigarette zu rauchen und es geht wieder weiter.

Ich rase durch die Straßen, immer die Fahrradkuriere im Auge, die stracks die Seite wechseln und sich zwischen den Autos durch den Verkehr fädeln.

Endlich komme ich beim nächsten Klienten an, finde wie zu erwarten in dieser Straße keinen Parkplatz und rase weiter, zwänge mich in eine freie Parklücke und laufe. Ich weiß genau, dass ich für jede Minute Verspätung bei dieser Dame Rechenschaft ablegen muss. Das nervt!

Vor der Haustür atme ich einmal tief durch. Das ist jetzt sozialer Wohnbau per exellence. Kaum habe ich die Tür aufgedrückt umweht mich schon der unvergleichbare Duft nach Schweiß, zuwenig Sauerstoff, Knoblauch, Zwiebel, Alkohol, kaltem Zigarettenrauch und Harn. Diese Duftwolke ist so dick, dass sie sich in der Nasenschleimhaut festsetzt und dort ein Eigenleben beginnt. Vorsichtig schlängle ich mich an den Mülltüten vorbei, die ebenfalls zur Geruchsbildung beitragen, steige über einen Haufen Hundekot, die Zigarettenkippen stören mich dort am wenigsten. Geschafft, ich bin glücklich an der Stiege angekommen. Jetzt immer zwei Stufen auf einmal hinauf in den ersten Stock.

Dort empfängt mich eine neue Wolke. Die Mischung aus Parfum und Stuhl, einfach wunderbar und unvergleichlich die dazupassende Note aus Harn, Schweiß und altem, vergammeltem Essen. Als ich eintrete weiß ich wieder nicht, wo ich meine Füße hinsetzen soll. Die nette Dame hatte Durchfall und so ist es eben gekommen, wie es kommen musste. Ich wate durch die Bescherung, stehe gewissermaßen in der Scheiße und frage mich, was ich hier mache. Warum habe ich nichts Ordentliches gelernt? Ja, werdet ihr jetzt sagen, die arme Frau kann auch nichts dafür. Sicher, das stimmt schon. Aber ich doch auch nicht. Wie komme ich dazu, den Dreck anderer Leute wegzumachen?

Also, Wut runter schlucken und den Widerwillen gleich mit. Dann ran an die Arbeit. Zuerst wird die Frau geduscht, nach einer halben Stunde Schrubberei dann das Bad und der Rest der Wohnung. Alles stinkt nach Stuhl, ich kann ihn fast auf der Zunge schmecken. Wie ein ekeliger Belag hat sich dieser Geruch durch die Riechnerven zu den Geschmacksknospen vorgewagt und lässt mich spucken.

Heute reiche ich ihr zum Abschied nicht mehr die Hand, ein Winken muss genügen. Noch einmal ins Auto und weitergehetzt. Auf zum nächsten sozialen Brennpunkt. Es leben die Substandardwohnungen! Wenigstens sind sie alle mit fließendem Wasser ausgestattet. Vor gar nicht allzu langer Zeit musste man das Wasser in einigen Häusern noch vom Gang holen und auf dem Herd erwärmen. Das ist echt toll, im 21. Jahrhundert. Kaum vorstellbar so etwas.

Also, dann … läuft es endlich wieder halbwegs nach Plan, bis der Angehörige die Wohnung stürmt und mich mit seinem Ärger über die Ämter voll labert. Ich weiß, dass die Ämter alles probieren, damit sie nicht zahlen müssen und nein, ich bin von einer anderen Organisation und wie bitte soll ich wissen, wie die Betreuung der alten Dame organisiert wurde? Schließlich bin ich nur die Aushilfe.

Jetzt wäre eigentlich Zeit für die Mittagspause aber ich muss noch Berichte schreiben. Also schnell irgendwo einen Kaffee trinken und dann zu jedem Klienten einige Zeilen schreiben und ab zur Dienstbesprechung. Fast hätte ich auf die wichtigen Formulare zum Ausfüllen vergessen, schließlich will ich ja irgendwann etwas Geld auf dem Konto sehen und Urlaub wäre auch nicht schlecht.

An Tagen wie diesen hasse ich meinen Beruf … an Tagen wie diesen … beginnt die große Frage nach der Sinnhaftigkeit meiner Arbeit.

(c) Herta 3/2010
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Wie gut wir Dir das nachempfinden können - alle beide ...

*troest* *taetschel*
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Danke für den Trost.

Vielleicht schreibe ich einmal etwas über die Dame mit den seltenen Haustieren - da kommt man sich vor wie Will Smith in "Men in Black" - überall Käfer. *angsthab*
boah, Herta, Hut ab, dass du sowas aushältst - da ist mein Ärger mit meinen Pedantenchef direkt ein Waldspaziergang dagegen!

Tapferkeitsmedailleverleih, Cleo
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Danke für die Tapferkeitsmedaille. *knuddel*

Es ginge ja noch schlimmer - alles kann man ja nicht schreiben, weil es einfach zu ekelhaft ist (selbst für mich *zwinker*)

Nein, ehrlich, heute hat mir die "Scheiße" wirklich schon gestunken und alle hatten nach der Dienstbesprechung einen Höllenspaß, als sie von meinem Vormittag erfuhren. Das musste einfach raus, normalerwiese plaudere ich nicht so direkt aus dem Nähkästchen *zwinker*


*aua*Herta
Profilbild
****ia Frau
22.263 Beiträge
Alles wird gut!
*knuddel*
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Danke *blume*

Aber ich glaube nicht, dass da etwas gut wird. Besser wird nichts, wenn immer die Bürokraten das Sagen haben und uns das Leben vermiesen. Ich kann leicht mit dem Dreck leben, aber schwer wird es mit der Bürokratie.


*sonne*Herta
Mein Gott,
hab ich auch schon Tränen vergossen
wegen ähnlichen Erlebenissen.

Aber lieber tanze ich jetzt
auf den Trümmern dieses entwürdigenden Systems,
wie ein Shiva oder Alexis Sorba, the Greek.

liebe Grüße
Peter-J.
Ich habe einfach Hochachtung davor, liebe Anhera, dass du nicht über dich selbst jammerst, so ungefähr: Mein Rücken tut weh, meine Füße auch, Hunger hab ich und müde bin ich schon lange. Nein, du beschreibst einfach nur, was ist. Das lässt es nicht subjektiv, sondern authentisch aussehen, echt und lebendig.

Auch wenn es grauselig ist. Und ermüdend. Und man ohnmächtig daneben steht. Manchmal - an Tagen wie diesen.

Wenn ich zu anderen Leuten putzen und kochen gehe und erzähle davon, dann ernte ich auch oft mitleidige Blicke. Aber ich weiß warum ich das tue, es bringt ein wenig Licht in diese Familien, es hilft vor Ort, unabhängig davon, wer das Chaos dort verursacht hat.
Und es finanziert meine neue Ausbildung. Letzteres hilft mir bei »Tagen wie diesen«.

Danke und liebe Grüße

Simone Gudrune
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Danke
für eure netten Worte und den Zuspruch. *blumenschenk*

Leider nehmen "Tage wie dieser" zu und können noch getoppt werden. Aber dazu schreibe ich nichts mehr - es ist einfach zum Irre werden - manchmal. *aua*

Vielleicht werde ich auch langsam ein zynisches altes Weib, weil ich das schon zu lange mache.

Liebe Grüße
Herta
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Man kann nur zynisch werden ...
Da ist nix mehr mit licht- und liebevollem Denken, so sehr man es auch möchte.

In diesem beschissenen System, in dem wir leben, in dem hochbezahlte Banker und Manager dafür, dass sie ihre Bank oder Firma in die Pleite getrieben haben, auch noch mit zig Millionen Abfindung belohnt werden? In dem aber jeder, der eine wirklich wertvolle Arbeit macht (die natürlich viel zu niedrig bezahlt wird) wie z. B. Du, liebe Herta, der kriegt beim geringsten Fehler und sogar bei echtem, menschlichen Engagement einen Arschtritt - und das ganz besonders in all den Institutionen und Einrichtungen, die sich christlich nennen, caritativ oder diakonisch.

Allerdings - kliene Jungs sexuell mißbrauchen, das darf man auch als Mitarbeiter der Kirchen. Da wird man dann allenfalls versetzt ... und alles andere wird totgeschwiegen.

Und da soll man nicht zynisch werden?

Liebe Herta, ich verstehe Dich sehr gut. *gleichplatz*

(Der Antaghar)
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Oh ja, lieber Antaghar, du nimmst mir die Worte aus dem Mund.

Aber ich würde statt diakonisch diabolisch sagen, statt caritativ spekulativ und statt christlich ... na, das steht für sich.

Und jetzt gehe ich in Deckung, weil ich habe bisher nur für solche Institutionen gearbeitet *undwech*

Was mich so richtig freuen würde wäre etwas mehr Rückhalt von seiten der Einsatzleiter und ein wenig mehr Zusammenhalt im Team. Wir bewegen uns im gesetzlichen Graubereich und keiner will es merken. Passiert dann etwas, dann heißt es, ihr hättet das nicht tun dürfen oder warum war das nicht dokumentiert. Dann steht die Pflegeperson alleine da und keinen schert es - weder Leiter noch Team. Schade.


Grüße von der *arsch*-Front
Herta
Hut ab! Du hast den Lesern einen Einblick gegeben und es sehr authentisch geschrieben ...was sich aber einige nicht vorstellen können, dass dein Beruf dir Einblicke und Aufgabenbewälltigungen gibt, die sehr viel krasser sind ... Mit den vielen Einschränkungen und ständigen Änderungen in den Pflegeberufen, braucht man schon ein dickes Fell, um in diesem Beruf nicht zu sehr zu verzweifeln.
Schön, dass es Menschen wie dich gibt und du schon so lange durchgehalten hast! Ich habe mich nach meiner Ausbildung kurze Zeit später umorientiert ...ich habe es nicht ertragen ...
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