Jedem das SEINe
Eine seitliche Bewegung, die er aus dem Augenwinkel wahrnahm, ging dem anschließenden Krachen voraus. Rums! Eine Regalbreite neben ihm war ein Buch zu Boden gefallen, lag aufgeschlagen auf dem Rücken und schaute ihn, scheinbar, provozierend an.Joachim atmete die angehaltene Luft tief aus, seufzte und sah sich nach Fantomas um. Aber der lag friedlich in seinem Sessel und starrte ihn, wie so oft, unergründlich an. Fast als grinste er. Der rotgestreifte Kater konnte es also nicht gewesen sein.
Doch wer dann? Joachim hasste diese unerklärlichen Dinge, die sich hin und wieder in seiner Gegenwart zutrugen, so, wie er überhaupt allem Unerklärlichen gegenüber eine tiefe Abneigung hegte.
Er wusste ganz genau, dass er dieses Buch, nach anfänglich neugierigem, dann immer ratloser werdenden Durchblättern ganz hinten ins Regal gestellt hatte. Es war eines der kleinen verflixten Dinger, die ihm sein Nachbar Zacharias, ein alter Kauz mit langem Haar, ebensolchem Bart und mit merkwürdigen Marotten, immer mal wieder vor die Wohnungstür legte oder bei Gelegenheit in die Hand drückte. Und nun lag es also unten.
Ächzend bückte er sich nach dem Bändchen und hob es auf. Er rückte seine Brille zurecht und schaute, es in der Hand wendend, auf den Titel. Ah, war ja klar, dachte er, ordentliche Bücher wie seine Atlanten, Kompendien, Tafelwerke und Lexika blieben, wie es sich gehörte, im Regal. Aber diese anderen, diese aufrührerischen kleinen Biester wie dieses hier, mit zweifelhaftem Inhalt und unaussprechlichen Autorennamen, die machten was sie wollten. Vor allem Unruhe stiften.
Genauso wie Elisabeth. I L A I S A - B E S S, wie sie sich gern nannte. Sie hatte ihn auch immer mit Fragen gelöchert, ihm alles Mögliche und Unmögliche gezeigt und eine Menge Aufregung in sein wohl geordnetes Leben gebracht. Was ihn erst so an ihr fasziniert hatte war nach und nach in einen Makel umgeschlagen. Wieso musste sie auch immer alles hinterfragen? Kann man die Dinge nicht so sein lassen, wie sie nun mal sind? Immer öfter hatte sie etwas an ihm zu kritteln gehabt, lieb gemeint, wie sie behauptete, aber ihn hatte es nur noch genervt. Er war eben wie er war. Punkt.
Irgendwann hatte Elisa-Beth aufgegeben und war aus seinem Leben verschwunden, wahrscheinlich irgendwo im Süden untergetaucht. Sicher untergegangen, wie er ihr immer prophezeit hatte, so wie sie rumlief mit ihren Zigeunerröcken und den offenherzigen Blusen und mit wehendem rotem Haar. Nur Fantomas, ihr Kater, war von ihr übrig geblieben, dessen Fell von demselben Rot war wie ihr Haar und das ihn nun unfreiwillig immer wieder an sie erinnerte. Der alte Zacharias fragte hin und wieder nach ihr. Die beiden hatten sich gut verstanden und bei einem Schälchen Tee anregende Gespräche geführt von denen er, Joachim, sich meist irgendwie ausgeschlossen gefühlt hatte.
»Die unendlichen Möglichkeiten des Seins« von einem Zachadeus Baummann hielt er in den Händen. Ja, es war eines von Zacharias´ Geschenken. Elisa-Beth war darüber hoch erfreut gewesen und hatte ihm versucht, den Inhalt nahe zu bringen. Aber er hatte abgewunken.
Wie viele Möglichkeiten konnte es schon geben? Hä? Es gab ihn, Joachim, doch nur einmal. Also gab es nur eine Möglichkeit des Seins für ihn. Woher er kam, was er war - das stand fest. Und das war auch gut so. Wo kämen wir denn hin, wenn sich jeder wie er grad wollte in andere Sphären verdrücken könnte? Ihm reichten drei Dimensionen durchaus. Welch Durcheinander gäbe es, wenn es auch noch unsichtbare gäbe? Schwebten dann die Briefe, die der Postbote, gerade in der 5. Dimension schwelgend, brachte, von allein die Treppe hoch zu seinem Briefkasten? Alles Unfug. Ein komplettes Chaos wäre das. Niemand wäre mehr sicher. Unordnung überall und Unsicherheit. Nicht mit ihm.
Er legte das Bändchen neben sich auf dem Computertisch ab und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Verflixte Kornkreise. Er würde es ihnen schon noch zeigen, diesen Parawissenschaftlern, die unter einer Decke steckten mit touristengeilen Bauern. Blöd waren sie ja nicht, das musste er ihnen lassen. Denn geschickt gemacht war das Ganze und bisher hatte auch niemand herausgefunden, wie sie es anstellten, die Halme so gleichmäßig zu knicken und diese riesigen zum Teil exakt kreisrunden Bilder ins Korn zu drücken. Für ihn selbst als anerkannter Computerfachmann für Bildbearbeitung und passionierter Balkongärtner war es eine Herausforderung, nach Möglichkeiten zu suchen, die den Schwindel aufdeckten und sie nahm einen Großteil seiner Freizeit in Anspruch.
Inzwischen erhob Fantomas sich bedächtig, machte einen Buckel, maunzte kurz und schritt dann, sich einen neuen gemütlichen Platz suchend, durch das Zimmer. Eigenartige Katze, dachte Joachim. Mit majestätischen Schritten ging der Kater geschmeidig, als trüge er eine kostbare Last, eine Sänfte vielleicht, auf seinem Rücken. Fast wie ein indischer Königselefant. Oder ein stolzes adeliges Pferd.
Klatschknall! Erschrocken schaute Joachim neben sich und dann zu Boden. Er traute seinen Augen kaum: Da lag es wieder unten, dieses vermaledeite Buch! Ihm wurde unbehaglich zu Mute und ein Kribbeln kroch seinen Rücken hinauf. Das gibt´s doch nicht!!! Eine unangenehme Unruhe überkam ihn: Hier war nichts! Niemand! Aufgeregt blickte er sich um und direkt in die grünen Augen von Fantomas, der jetzt auf dem Sofa neben der Zimmerlinde residierte. Ein Katzenauge schloss und öffnete sich wieder. Lachte der ihn etwa aus?
Hastig klaubte Joachim das Buch vom Boden auf und warf es weit ausholend und mit allem Enthusiasmus, dessen er fähig war, wütend in die gegenüberliegende Zimmerecke. Dort krachte es gegen die Wand und kam unter der Zimmerlinde zu liegen, diesmal geschlossen. Er würde noch irre werden, wenn das nicht aufhörte. Das war doch früher nicht so gewesen. Da war nie ... Erstaunt hielt er inne, ihm war gerade klar geworden, dass diese »Zufälle« erst mit Elisa-Beth hier Einzug gehalten hatten - aber leider immer noch da waren, obwohl sie schon längst wieder fort war.
Nachdenklich starrte er in die Zimmerecke. Die Zimmerlinde - hatte die sich eben etwa bewegt? Nein, wohl nicht. Aber irgendwie ... Joachim, den Kopf vorgeschoben, die Augen zu Schlitzen verengt, erhob sich langsam von seinem Stuhl. Da - etwas wie ein Gesicht, klein, alt und ein Bart, lang und ... nein, doch nicht.
Oh, jetzt fing er doch wirklich an zu spinnen! Mit einem Ruck setzte er sich auf. Nahm seinen ganzen Verstand zusammen und verließ fluchtartig das Zimmer Richtung Küche. Er brauchte dringend einen Kaffee. Am besten mit einem ordentlichen Schuss Whisky darin. Das war etwas, was jetzt garantiert helfen würde.
Diesmal sah er nicht aus dem Augenwinkel, wie sich eine zwergenhafte Gestalt neben der Zimmerlinde den Bart raufte, ihm mit kleinen Fäusten drohte und dann langsam, durchscheinender werdend, zerrann.
Am nächsten Morgen fand er in seinem Briefkasten eine Karte. Auf der Vorderseite war ein kleiner winkender Kobold, Zwerg oder Troll abgebildet und das Wort Zachadeus in altmodischen Buchstaben aufgedruckt. Verwundert hielt er sie in Händen. Erinnerte ihn doch der Zwerg plötzlich und beängstigend an die gestrigen Vorfälle. Vorsichtig drehte er die Karte um. Von wem sie wohl kam?
Mein lieber Joachim!
Ich hoffe, dir geht es gut und du hast alle meine kleinen Wunder inzwischen gefunden, die ich für dich in deiner Wohnung versteckt habe. Hast du dich schon mit Zachadeus angefreundet? Wie du sicherlich bemerkt hast, mag ihn Fantomas ausserordentlich und die beiden spielen oft Pferd und Reiter. Im Sommer werde ich wieder bei dir sein.
Bis dahin sei voller Liebe und aus ganzem Herzen gegrüßt
PS: Ich weiß, dass Zachadeus dir gern aus seinen Büchern vorzulesen würde, frag ihn doch mal!
Deine Elisa-Beth
© Gud_Rune 03/2010