Die Liebende
Die LiebendeSie lief durch ihre Wohnung – ziellos und ein wenig fremd, als wäre sie Besucherin bei sich selbst. Blieb vorm Spiegel stehen und schaute in ihr Gesicht – das war schön und entspannt, und das Glück strahlte aus jeder Pore. `Das bin also ich, wenn ich mich so geliebt fühle....´
Sie nahm ein Kissen vom Sofa und legte es in den Sessel, sie ging ins Schlafzimmer und hängte seine Hose auf einen Kleiderbügel, vergrub ihre Nase in seinem Hemd, das, fast noch warm, nach ihm duftete.
Sie ging wieder ins Wohnzimmer zurück, wo die Kaffeetassen noch standen. Eben war sie da noch gesessen, mit ihm, hatte seine Hand gehalten und ihn geküsst. Ihre Hand, die die Tassen nehmen wollte, um sie in die Küche zu tragen, sank wieder. Nein, sie sollten noch stehen bleiben, Spuren sein, dass er da gewesen war, bei ihr, in ihrem Leben. Sie sollten Zeugen sein für ihre Liebe.
Sie hätte zu tun, Dringendes zu tun, aber sie kann noch nicht, will noch nicht in das Leben zurück – nur widerwillig greifen die Zahnräder der Welt draußen wieder in ihr System, nur langsam springt der normale Motor ihres Seins wieder an; als wäre er lange ungenutzt in der Kälte gestanden.
Die Zeit mit ihm war außerhalb ihres sonstigen Lebens, selbst wenn sie mit ihm in ihrer Wohnung und in ihrer Stadt war, ihre Wege mit ihm ging
und ihre Orte mit ihm aufsuchte. Mit ihm verging die Zeit nicht schneller oder langsamer, aber anders; es war eine solche Dichte, eine Intensität, die den Stunden mehr Gewicht und scheinbar mehr Dauer gab. Mehr Leben in zwei gemeinsamen Tagen als in den Wochen ohne ihn.
Ihre Hand fasste Dinge und legte sie wieder hin, als könne sie nichts mehr halten oder an einen anderen Platz stellen. Alles war am rechten Ort, oder am falschen, was spielte es für eine Rolle?
Nur noch ihre Liebe war wichtig.
Liebe.
Da begegneten sich zwei Menschen, und plötzlich war es Liebe, mit einem Mal, von einem Moment zum anderen veränderte sich alles, obwohl alles gleich blieb.
Liebe geschah, in einem Augenblick, und dann wurde sie wahrgenommen, beglückte und erfüllte ein Sein. Nun begann der Prozess des Lieben Wollens und des Liebe Machens. Die Liebenden erfanden ihre Welt, ihre Worte, ihre kleinen und großen Handlungen, sie erfanden Grund und Anlass für ihr Tun, und das alles im Namen der Liebe. Was immer sie machten, sie waren sich der Liebe bewusst. Sie erfüllte sie von innen und umgab sie wie eine schützende Hülle.
`Mir kann nichts geschehen, denn ich liebe und werde geliebt´
Sie saß am Tisch und musste lächeln. Sie hatte sich nach Liebe gesehnt, sie hatte sich vor ihr gefüchtet, sie hatte sie verzweifelt gesucht und sie hatte gelernt, ganz gut ohne sie auszukommen.
Und jetzt war sie da, mit ihrem irrationalen Zauber und den weiten Schwingen der beflügelten Herzen.
Sie blickte auf die Kaffeetasse, sah seine Hände am Henkel, seine Hände, die ihre Haut berührt hatten und darunter ihr Herz. Da waren die wahren Spuren. Und die waren unverwischbar. Und am rechten Platz.
Lächelnd stand sie auf und räumte die Tassen in die Spülmaschine. Dann ging sie einkaufen und kochte für ihre Gäste, die sie am Abend erwartete. Die Liebe ging mit ihr und hüllte sie ein. Sie hatte eine ganze Welt aus Liebe in sich.
Ihr konnte nichts geschehen.
©tangocleo 2010