Die Rabenprinzessin
Man schrieb das Jahr 1480. Es war einer der ersten Tage an dem der Frühling die Oberhand über den langen, harten transsilvanischen Winter gewonnen hatte. Nur auf den höchsten Gipfeln der Karpaten sah man in der Ferne noch den Schnee liegen. Unruhig warf Eleana sich in ihrem Bett hin und her. Seit Tagen konnte sie des Nachts keinen geruhsamen Schlaf mehr finden. Seit dem Moment, als ihr Vater Graf Radu ihr beim Abendmahl eröffnet hatte, dass Prinz Nicolae, der Sohn des Grafen Dumitru, Gebieter über die angrenzende Grafschaft, um ihre Hand angehalten hatte. Nach langen Verhandlungen war man schließlich zu einer Einigung gelangt und ihr Vater hatte der Vermählung seinen Segen gegeben.
Obwohl sie die Burg ihrer Familie in ihrem bisherigen Leben kaum verlassen hatte, hatte Eleana schon so viel über die Familie ihres zukünftigen Gemahls gehört. Von der Macht und dem sagenhaften Reichtum dieses Adelsgeschlechts erzählte man sich landauf landab die phantastischsten Geschichten, die ihr von durchreisenden Gästen, die ihr Vater auf der Burg beherbergte, von den Dienstmägden oder den Händlern aus den umliegenden Dörfern zugetragen wurden.
Die meisten dieser Leute hatten ihr versichert, welches Glück sie habe, dass der Sohn dieses Hauses sie zur Frau auserwählt hatte. Alle – vor allem die Frauen – erzählten ihr, was für ein stattlicher Mann Prinz Nicolae sei. Er sehe über alle Maßen gut aus, sei stark, mutig und überrage die meisten Männer um Haupteslänge.
Doch hinter vorgehaltener Hand waren ihr auch seltsame Gerüchte zu Ohren gekommen. Es hieß, dass die Familie des Grafen Dumitru mit dunklen Mächten im Bunde stehe und vieles, das auf deren Burg vorgehe, nicht geheuer sei. Doch sie gab nicht viel auf diese Geschichten und wollte sie wohl auch nicht glauben, denn zu groß war Ihre Vorfreude auf den Tag, an dem Sie an der Seite ihres Gemahls der Enge der eigenen Gemächer entfliehen würde, um fortan ein Leben im Prunk zu führen.
Den genauen Zeitpunkt für ihre Vermählung hatten die Väter noch nicht festgesetzt, denn zunächst stand Prinz Nicolae in der Pflicht, die Sicherheit in der Grafschaft des Vaters wieder herzustellen. Immer noch zogen nach dem letzten Krieg marodierende Banden von Söldnern plündernd und mordend durch die Lande. An der Spitze der Truppen seines Vaters sollte er diesem Treiben ein Ende setzen. Nach seiner sicheren Rückkehr wolle man die Verlobung verkünden und dann mit den Vorbereitungen für die Hochzeitsfeierlichkeiten beginnen. Und erst zu diesem Zeitpunkt sollten sich Eleana und Nicolae erstmals Auge in Auge gegenüberstehen.
So wartete sie jeden Tag begierig auf Neuigkeiten über den Stand des Feldzuges, die ihr einen Hinweis auf die baldige Rückkehr ihres zukünftigen Gemahls geben konnten. Doch die Dinge standen offenbar schlecht, denn der Widerstand der Gegner war stärker als erwartet und es gelang nicht, diese in einem entscheidenden Gefecht zu stellen und zu besiegen.
Was ihr zusätzlich die Ruhe raubte war die Tatsache, dass sie seit ein paar Tagen nachts immer wieder von dem gleichen verstörenden Traum heimgesucht wurde. Es begann jedes Mal damit, dass zwei bernsteinfarbene Augen sie aus den verschwommenen Umrissen einer tiefschwarzen Wolke beobachteten. Nach einer Weile löste sich aus dieser Wolke die Silhouette eines schwarzen Vogels, der sich ihr mit gleichmäßigen Flügelschlägen stetig näherte. Und mit jeder weiteren Nacht, mit jedem weiteren Traum kam ihr dieser Vogel immer näher, bis sie schließlich schweißgebadet aufwachte.
Doch in dieser Nacht war es anders als in den vorangegangenen Nächten. Der Vogel war immer näher gekommen, doch sie war wie gefangen in einem Zustand zwischen Traum und Erwachen und vermochte ihm nicht zu entfliehen. Sie spürte, wie eine sanfte Brise vom Fenster Ihres Schlafgemaches her über ihr Gesicht strich. Was mit dieser sachten Berührung durch einen Luftzug begonnen hatte, fühlte sich auf einmal an wie die zarte Berührung durch ein samtweiches Etwas. Obwohl sie diese Wandlung völlig bewusst wahrnahm, war sie so tief in diesem Traum versunken, dass es ihr unmöglich war, aufzuwachen und die Augen zu öffnen.
Diese Berührungen waren so anders als die liebevollen Berührungen, die Sie vor allem als Kind von den Eltern erfahren hatte.
Sie spürte, wie ihre Bettdecke wie von Geisterhand zur Seite geschlagen wurde und dann nach und nach von ihrem Bett hinunter glitt. Die sanfte Berührung Ihres Gesichts verschwand und einen Augenblick später spürte sie die gleiche Berührung an ihren Knien wieder, von wo aus sie sich langsam über die Oberseite ihrer Schenkel nach oben richtete. Diese sachte Berührung löste eine zunehmende Erregung in ihr aus, die ihren Körper innerlich erhitzte und die Kühle der Nacht nicht spüren ließ. Wieder und wieder wanderte diese nicht greifbare Berührung ihre Schenkel herauf und herab. Immer tiefer wurde sie in den Strudel der Gefühle ihrer erwachten Weiblichkeit hineingezogen. Sie wurde zum Spielball dieser unerklärlichen Macht, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Willenlos öffnete sie ihre Schenkel unter den streichelnden Bewegungen, die in einer ständigen Hin- und Herbewegung über die Innenseite ihre Schenkel glitten und ihr eine bisher unbekannte Lust bereiteten, je mehr sie sie sich ihrem Schoß näherten.
Dieser Bereich ihres Körpers, den sie immer nur flüchtig und schamhaft während des Bades berührt hatte, stand nun förmlich in Flammen. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und krallte sich mit den Fingern in ihrer dichten kastanienbraunen Lockenpracht fest, als sie spürte, wie sich diese geisterhaften Berührungen immer mehr auf einen Punkt in Ihrem Schoß konzentrierte. Ohne dass sich Art oder Intensität der Berührung geändert hatten, wurde ihr Körper in immer kürzer werdenden Abständen von Wellen der Lust überschwemmt bis sich diese Lust ins Unermessliche steigerte und sie kurz darauf in einen ohnmächtigen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen wurde sie von den hellen Sonnenstrahlen eines strahlenden Frühsommertages geweckt. Noch schläfrig dachte sie über den Traum der vergangenen Nacht nach, als sie aus dem Augenwinkel etwas Schwarzes neben ihrem Kopf auf dem Kissen entdeckte. Sie griff danach und blickte verwirrt auf eine schwarze Feder.
Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, wie diese Feder auf ihr Kissen gelangt war, wurde sie von Hufgetrappel und lauten Stimmen aus dem Burghof unterhalb ihres Gemaches abgelenkt und blickte aus dem Fenster. Anscheinend war ein berittener Bote des Grafen Dumitru eingetroffen, der wichtige Kunde brachte. Schnell kleidete sie sich an und eilte die schmalen Stiegen des Turms hinunter. Sie hoffte, dass der Feldzug endlich beendet sei und sie nun endlich Nicolae begegnen werde. Doch schon als Sie den Burghof betrat und in das Gesicht ihres Vaters blickte, merkte sie, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.
Prinz Nicolae war mit wenigen Getreuen in einen Hinterhalt geraten und hatte in einem heldenhaften, aber aussichtslosen Kampf gegen zahlenmäßig überlegene Gegner sein Leben gelassen. Ihr Vater reichte ihr das Pergament mit der Todesnachricht, das vom Vater ihres Bräutigams unterzeichnet war und das ein schwarzes Siegel mit dem Familienwappen trug. Sie traute ihren Augen nicht als sie erkannte, was das Wappen darstellte:
Es war das Bildnis eines Raben mit weit ausgebreiteten Flügeln.
Die Legende berichtet, dass Eleana nie die elterliche Burg verlassen habe, um zu heiraten. Sie habe zeitlebens in ihrem Gemach im Turm gelebt und man erzählt sich, dass jeden Morgen bei Sonnenaufgang ein Rabe aus ihrem Fenster geflogen sei, der jeden Abend nach Sonnenuntergang zurückkehrte. Deshalb heißt der Turm bei den Bewohnern der benachbarten Dörfer bis heute „der Rabenturm“.