Jedem das SEINe Teil II
Mühsam stützte er sich auf dem Waschbeckenrand ab. Wo war nur seine Kraft geblieben? Er war erst Ende dreißig - und doch, als er seinen Blick zum Spiegel hob, erblickte er einen alten Mann: Zerknittertes Gesicht, rotgeränderte Augen, verkniffener Mund, hohle Wangen, graue Bartstoppeln, zerwühltes strähniges Haar. Joachim richtete langsam sein müdes Kreuz auf, versuchte sich gut zuzureden, aber als er seinen bekleckerten Pyjama sah, winkte er nur noch ab. Er hatte vergessen, ihn zu wechseln. Dann brachte er ein hohles Grinsen zustande und flüsterte sich zu: Altersheimer! Und musste unweigerlich an Elisa-Beth denken.Sie hatte Wortspiele über alles geliebt und aus vielen seiner ernsten und erhabenen Worte Verballhornungen gemacht. Meistens hatte er sich darüber geärgert, manchmal konnte er mitlachen. Er hatte sich von ihr oft einfach nicht ernst genommen gefühlt! Bei ihr wurde Alzheimer zu Altersheimer, Pizzaschneider zu Blitzableiter, neue Tastatur zu Metastase und Teppich zum Tief-Lieger. Für alles hatte sie ständig neue Namen. Es war anstrengend, wenn er mit ihr ernsthaft reden wollte. Aber nie langweilig.
Joachim kramte aus dem Badschränkchen ein Päckchen Aspirin und klemmte sich die Taschentuchbox unter den Arm, nahm noch den feuchten Waschlappen und schlurfte langsam, sich an den Wänden entlang hangelnd, zurück in sein Wohnzimmer. Erschöpft ließ er sich auf das Sofa sinken. Es diente ihm seit zwei Nächten als Lager, damit er es in seinem Zustand bis zum Computer nicht so weit hatte. Ächz - so eine Grippe konnte verdammt unangenehm sein.
Endlich lag er und das Flimmern vor seinen Augen und das Sausen in den Ohren ließen etwas nach. Sein Schädel brummte mit dem Kühlschrank um die Wette. Mist, er hatte das Wasserglas vergessen. Egal. Dann eben ohne nachspülen. Er zog die Aspirinpackung zu sich, pusselte sie auf und drückte eine Tablette heraus. Just in diesem Moment sprang Fantomas zu ihm auf das Sofa und Joachim kam zugleich ein unabwendbares Niesen an. Pschrrrhachchch - und weg war sie, die Tablette, unter das Bett gerollt. Ein Blick in die Packung bestätigte seine Ahnung, dass es die letzte gewesen war.
Ärgerlich und mit tränenden Augen schaute Joachim den Kater an, aber der drehte nur hoheitsvoll den Kopf, schielte zur Zimmerlinde und ließ sich am Fußende nieder. Fast meinte Joachim, ihn grinsen zu sehen. Aber er war zu schlapp, um sich noch über irgend etwas aufzuregen und sank kraftlos in die Kissen zurück. Langsam glitt er in einen Halbschlaf ähnlichen Zustand. Aus fast geschlossenen Augen nahm er noch Elisa-Beth´ Karte mit dem Kobold Zachadeus an der Wand vor ihm wahr und Fantomas neugieriges Näherkommen, dann dämmerte er weg.
Joachim träumte. Er sah sich auf einem sonnenbeschienenen Weg schlendern und in ein lebhaftes Gespräch mit Zachadeus vertieft, der neben ihm frohgemut auf dem roten Kater Fantomas ritt. Was müssen sie für einen seltsamen Anblick bieten...
»Ich habe die Nase voll!« Hörte er sich gerade sagen.
»Stimmt.« Antwortete Zachadeus.
»Ich will das nicht haben.«
»Dann lass es.«
»Aber ich habe nun mal Grippe.«
»Nur weil du es so willst und brauchst.«
»Wie bitte?«
»Dein Körper zeigt dir, dass du DIE NASE VOLL von einigen Dingen hast.«
»Aber die Viren...«
»Quatsch. Viren sind überall. Ob sie bei dir landen dürfen, das entscheidest du.«
»???«
»Dein Anrennen gegen die Welt um dich herum und dein nicht Wahr haben wollen und Ändern wollen der Umstände kosten dich viel Kraft. Das schwächt dich. Nicht die Grippe. Die zeigt dir nur WIE geschwächt du bist.«
»So leicht ist das nicht wie du da behauptest - einfach nur die Einstellung ändern...«
»Habe ich gesagt, dass es leicht ist? Aber möglich ist es. Es gibt unendliche Möglichkeiten im Sein. Du hast doch nun mein Buch gelesen. Hast du so wenig verstanden?«
»Du meinst, ich suche mir aus, ob ich Grippe bekomme oder nicht?«
»So ungefähr. Du erschaffst die Möglichkeit, eine zu bekommen.«
»Wie denn?«
»Wie gesagt: Durch dein Anrennen gegen...«
»Schon gut, schon gut. Ich verstehe.«
»Freut mich außerordentlich.«
»Und die anderen Leute, die Grippe haben, rennen die auch... ?«
»Jedem das SEINe.«
»Oh - das ist ja...«
»Ja, finde ich auch!«
Joachim verdrehte seufzend die Augen himmelwärts und wurde plötzlich der kleinen Leute gewahr, die durch die Weidenzweige über ihm lugten. Sie sahen aus, als wären sie Verwandte von Zachadeus. Verrückt war das. Aber gleichsam zauberhaft und irgendwie war ihm, als kannte er sie alle...
*
Als Joachim am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich seit langem zum ersten Mal wieder richtig ausgeschlafen. Die ihn umgebende Helligkeit ließ auf einen sonnigen Tag schließen. Er ließ seinen Blick zum Fenster wandern: Ja, blauer Himmel mit Schäfchenwolken. Eine sah aus wie eine Zipfelmütze und erinnerte ihn sofort an Zachadeus, worauf sein Blick die Karte suchte. Ja, Zachadeus trug genau so eine Zipfelmütze und jetzt war ihm, als griente der und zog eine Augenbraue hoch. Ob er noch nicht ganz bei sich war? Immerhin, die Grippe machte ihm ganz schön zu schaffen.
Schlagartig erinnerte sich Johannes an seinen Traum, überlegte - aber nur kurz - und stieg vom Sofa. Er würde jetzt in die Wanne steigen und dann nach einem stärkenden Frühstück und einem richtig guten Kaffee seinen Nachbarn Zacharias fragen, ob der mit ihm hinausgehen wollte. So ein bischen vor die Stadt, wo die Wiesen beginnen und plaudern würden sie, vom Hundertsten ins Tausendste kommend und lachen dabei, so, wie sie es jetzt immer mal wieder zusammen taten. Vielleicht fanden sie auch wieder ein Kornfeld mit diesen merkwürdigen aber wunderschönen Figuren darin...
Und wer weiß, vielleicht würde bald auch wieder Elisa-Beth dabei sein.
© Gud_Rune 03/2010