Eine Fiktion
Eine FiktionMüde wanderte sie durch die leergefegte Stadt. Es war heiß, der heißeste Tag des Jahres, so hieß es früher immer, wenn die Temperaturen auf über 36 Grad Celsius gestiegen waren. Nun war es noch heißer. Der Asphalt flirrte in der Hitze und die Stahl- und Glaswände der einsamen Hochhäuser leiteten die Sonnenstrahlen auf sie nieder. Sie suchte den Schatten an den Wänden und wollte sie dennoch meiden, denn auch sie strahlten Hitze ab.
Erst vor einem Tag hatte sie ein Shuttle in dieser Geisterstadt abgesetzt. Hier war das ehemalige Regierungsviertel und nahebei hörte sie das leise Murmeln eines Flusses, Traisen hatten die Menschen ihn einmal genannt. Das war aber lange her.
Nun ging sie durch eine zerschlagene Tür. Hier musste eines der Massaker stattgefunden haben, als die Bevölkerung durchdrehte und selbst das Militär klein beigeben musste, um nicht alle umzubringen. Vorsichtig stieg sie durch die Öffnung und blickte sich um. Hier war es um einige Grade kühler als draußen und sie atmete erleichtert auf.
„T’Bel, ich bin im ersten Gebäude“, sagte sie durch einen Kommunikator, der an ihrem Handgelenk befestigt war. Sie wartete auf keine Antwort, sondern ging weiter. „Keine Spuren von Leben“, gab sie weiter durch.
„Hier auch nicht A’anae“, kam endlich eine Antwort. Ihr Forschungspartner war in der Stadt, die einmal Vienna oder Wien genannt wurde. Auch dort war es nach dem weltweiten Zusammenbruch des Wirtschaftssystems zu starken Unruhen gekommen. „Ich kann hier keinerlei Spuren von Leben entdecken, sogar die Pflanzen sind weg“, sagte er weiter. A’anae nickte, wohl wissend, dass er sie nicht sehen konnte.
„Ich gehe weiter, T’Bel“, sagte sie schließlich und beendete die Kommunikation. Vorsichtig schlich sie durch die leere Halle.
Sie fand nichts, das ihr Interesse geweckt hätte und ging in einen anderen Bereich. Hier waren früher die Büros der Abgeordneten gewesen und ihrer Assistenten. Pressekonferenzen wurden hier vorbereitet und es wurde über das Wohl des Landes entschieden, das sich nicht immer mit dem Wohl oder den Wünschen der Bevölkerung deckte. Gerade in dem Jahr, bevor die große Katastrophe hereinbrach, fanden in diesem kleinen Flecken Wahlen statt. Irgendeine unbedeutende Person, sollte ein unbedeutendes Amt ausfüllen und so tun, als wäre es wichtig.
A’anae verstand nicht, wie das System funktioniert hatte, dafür hatte sie noch zuwenig Daten erhoben. Ein Kollege forschte in einem anderen Kontinent, wo sich Ähnliches, aber in größerem Rahmen, ereignet hatte.
Die Menschen hatten ihr gesamtes Hab und Gut, ihre Zukunft verspielt in einem Spiel, das sie ebenso wenig verstanden, wie A’anae die Demokratie und andere Staatsformen.
Sie ging weiter, aber alle Räume waren leer. Sie fand nicht ein Papierfetzelchen, das irgendeinen Aufschluss über die weitere Tragödie gegeben hätte. Nun öffnete sie die Kommunikation wieder. „T’Bel, ich kann hier nichts finden. Nur leere Räume. Es sieht aus, als wäre hier alles vernichtet worden – nein, nicht vernichtet, so gründlich kann niemand arbeiten. Es ist unheimlich.“ Eine Gänsehaut begann sich über ihren Körper auszubreiten und sie fröstelte in der Hitze. „Ich weiß“, kam es zurück. „Hier ist es genauso. Ich denke, wir werden bald Schluss machen. Wann sollte dich das Shuttle wieder abholen?“
„Erst in drei Erdumdrehungen“, antwortete sie düster.
„Vielleicht kannst du eine Mülldeponie finden und entdeckst dort etwas, was uns einen Hinweis darauf gibt, wie die Menschheit und sämtliche Lebewesen vom Erdboden verschwunden sind. Irgendwo müssen sie doch geblieben sein. Niemand löst sich einfach so in Luft auf.“
„In Ordnung. Ich sehe mich vorher hier noch um“, bestätigte sie und ging weiter. Jeden Schritt den sie tat fand sie deprimierender. Nur Glas und nackte Wände, sonst nichts.
Dann ging sie hinaus und hinunter zum Fluss. Im Flussbett fand sie das erste Anzeichen der Menschheit, eine Plastiktüte war unter einem Stein hängen geblieben und hatte die Zeiten überdauert. Der Schriftzug war verschwunden, auch die ehemals rosarote Farbe war einem einfachen Weiß gewichen. Entschlossen, diesen Fund zu bergen, nahm sie ihre Ausrüstung vom Rücken, suchte nach einer Bergungstasche und watete ins Wasser hinaus. Sie war erstaunt, weil das Wasser nicht kalt war, es war fast kochendheiß. Deshalb arbeitete sie rasch und bugsierte den Fund in den hermetisch verschließbaren Beutel. Dann wollte sie wieder aus dem Wasser steigen, als ihr Blick an einem weiteren Stein hängen blieb. Dort schien sich auch etwas festgekrallt zu haben. ‚Ist das lebendig?’, fragte sie sich und ging hin. Wieder nahm sie einen Beutel und bückte sich.
Ein Tentakel schoss hervor und zog sie mit sich. Ihr Schrei wurde nie gehört.
Sie erwachte in einem Traum aus Erde, alptraumhafter Erde. A’anae hatte den Eindruck in einem robusten Erdmantel zu stecken. Langsam begannen sich ihre Augen an das dämmrige Licht zu gewöhnen und sie fokussierte das Gebilde vor ihr. Das schien ein Lebewesen zu sein – oder irgendetwas, das sich bewegen und denken konnte.
„Wo bin ich hier?“, fragte sie schließlich
„Im Reich der Erde. Ich werde alle tilgen, die auf mir wandeln und mich zerstören“, antwortete das Wesen und A’anae fühlte, wie der Mantel um ihren Brustkorb fester zusammengezogen wurde. Erschrocken schnappte sie nach Luft. Dann begann sie damit, ihre Lungen zu dehnen und blähte den Brustkorb. Ihre Rasse war durchaus imstande einen Ring aus Eisen, der um die Brust geschlungen war, nur mit der Kraft der Luft und der Lungen zu brechen. Aber die Erde war unerbittlich und härter als Stahl.
„Wir sind keine Geschöpfe dieser Welt“, presste A’anae schließlich hervor. Es war Gelächter, das ihr antwortete. „Es ist dir gleichgültig, nicht wahr? Na schön, aber lass mich vorher noch eine Warnung durchgeben, dass alle Lebewesen aller Universen diesen Sektor meiden sollen.“
„Das hättest du wohl gerne, Kind der Sterne.“ Die Stimme klang weniger feindselig und A’anae hatte den Eindruck, als wollte es seine Geschichte erzählen.
Tatsächlich, nach einigen Minuten, in denen A’anae langsam ein Problem mit der Atmung bekam, begann das Erdwesen zu reden. „Ich musste es tun. Sie haben alles zerstört, angefangen bei den fleischlichen Mitbewohnern, dann die auf Chlorophyll basierenden und schließlich haben sie sich ganz tief in mich hineingefressen und alles genommen, das ich brauche, um hier das Leben im Gleichgewicht zu halten. So ist es eben gekommen, gerade nach dem Jahr, als hier die Hölle los war. Die Menschen begannen sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund selbst abzuschlachten – es scheint, wegen irgendwelchem wertlosem Papier, haben sie das gemacht. Es kümmert mich nicht, wer gut oder böse ist, wer recht oder unrecht hat, wer stark oder schwach ist. So habe ich gehandelt, lange hat es gedauert, bevor die Menschen begriffen, was wirklich los war.“ Das Wesen lachte grässlich, es klang als würden Steine und Erde einen Abhang hinabzurollen und ins Wasser plumpsen. A’anae hörte gespannt zu. Das war also das Geheimnis der Vernichtung. Wäre sie nicht so eingeschnürt gewesen, hätte sie sich jetzt vor Begeisterung etwas aufgebläht und zu glühen begonnen. So stellten sich nur ihre blauen Fühler auf und berührten sich an den Spitzen.
„Ja, sie dachten, dass sie die Erwärmung selbst verursachten. Aber so war es nicht. Ich habe so reagiert, wie jedes Lebewesen auf einen Krankheitserreger – ich bekam Fieber. Sie haben wie die Wahnsinnigen nach einer Lösung gesucht, dann sind sie alle Irre geworden und haben begonnen, sich wieder einmal selbst abzuschlachten. Als die meisten dann tot waren, habe ich sie geholt, jedes Lebewesen habe ich hier in meinem Reich erstickt und in mich aufgenommen. Ich bin die Menschheit und alle Lebewesen auf ihr, wenn du so willst. – Und nun, wird es Zeit, dass ich auch dich aufnehme.“
A’anae dachte angestrengt nach, was das für sie jetzt zu bedeuten hatte. Dann lächelte sie. „Du machst einen Fehler, wenn du mich absorbieren willst, denn meine Struktur besteht auf der Basis von Tertenium, einer Substanz, die auf der Erde nicht vorkommt und es auch nie wird. Vielleicht verträgst du mich, vielleicht auch nicht.“
Das Wesen lockerte jetzt das Band um sie und zog sich verunsichert zurück.
„Was wollt ihr hier?“
„Wir sind Forscher und wollen herausfinden, warum hier alles bis auf die siliziumhaltigen Dinge verschwunden sind. Nun hast du es mir erklärt und wir könnten alle wieder friedlich von hier verschwinden und unsere Erkenntnisse zuhause aufarbeiten. Was hältst du davon? Lässt du mich gehen? Wenn sie mich nicht finden, werden hier immer mehr Terteniumwesen erscheinen und die Erde noch mehr verseuchen.“ A’anae hatte sehr bestimmt gesprochen und abermals den Brustkorb gedehnt. Jetzt ging es leichter, der Panzer gab etwas nach. Das Erdwesen schien zu überlegen, dann gab es A’anae mit einem Ruck frei und sie fiel mit einem lauten Schrei in den Fluss, dass es nur so spritzte. Hastig sprang sie auf und sprintete ans Ufer. Sie setzte sich auf einen Stein und wrang ihre Fühler aus, dann schüttelte sie sich und aktivierte den Kommunikator. „T’Bel, ruf sofort den Shuttle, wir müssen hier umgehend weg, keine Verzögerungen – sonst geht es uns so wie den auf Wasser basierenden Wesen, die hier gelebt haben. Ich erkläre dir alles an Bord.“
In ihr herrschten Freude und Furcht, sie stritten um die Vorherrschaft und schließlich siegte die Angst. Noch nie hatte sie sich vor irgendetwas gefürchtet, aber das sprengte den Rahmen des Normalen bei weitem.
Drei Erdstandardstunden später saß sie im Sternenflieger und berichtete von ihrem Erlebnis.
„So? Bist du dir sicher, dass es so war?“, fragte T’Bel skeptisch. Sie nickte, was mehr Eindruck machte, als wenn sie noch einmal alles genau erklärt hätte. Er dachte darüber nach und sagte dann: „Die Erde hat sich also Fieber verordnet, um alle Eindringlinge zu tilgen. Interessant. Wir sollten diese Erkenntnisse zuhause genauestens analysieren.“
Sie dockten an den Sternenkreuzer und nur wenig später verließen sie das Sonnensystem.
Das Erdwesen hockte in seiner Höhle und wusste nicht, wie es das begonnene Chaos wieder loswerden sollte. Einmal entfesselt kann sie sich selbst nicht mehr stoppen.
Es muss seinen Lauf nehmen ...
(c) Herta 3/2010