Hase aus Schokolade - Bonnie_Faust
Wie es gewesen sein könnte In den Räumlichkeiten einer ehemaligen Zimmerei steht Rodolphe vor seiner Erfindung. Seine Augen folgen dem metallenen Arm, mit der daran befestigten Walze. Dieser Arm wird durch einen Keilriemen angetrieben und führt die Walze im Marmorbecken vor und zurück und wieder vor und zurück. Der Antrieb, den er für seine Conche, wie er seine Erfindung nennt, verwendet, trieb früher die grosse Säge an. Improvisation war die vergangenen Monate gefragt. Seine Geldmittel sind bescheiden.
Doch ist er gedanklich abwesend. Rodolphe geht im Geiste die vielen missglückten Versuche durch, die ihm diese Erfindung bisher beschert hatte. Jedes Mal, wenn er die Schokoladenmasse nach einem Versuch aus dem Marmorbecken kratzte, war seine Enttäuschung gross. Als er diese Maschine konstruierte, war er überzeugt davon, dass es ihm gelingen würde, eine ganz andere Art Schokolade herzustellen. Der Zucker sollte nicht mehr auskristallisieren können. Aber auch gestern erging es ihm nicht besser, als die vielen Male davor. Die Masse war krümelig, kaum formbar und geschmacklich bitter. So wie man Schokolade eben kennt. Nichts Neues hatte er bisher geschaffen. Aber ans Aufgeben dachte er nicht. So änderte er auch gestern wieder die Rezeptur. Schrieb sie akribisch in sein Notizbuch. Diesmal gab er etwas Kakaobutter dazu.
Die Maschine walzt und walzt, gleichmässig, scheinbar endlos, Stunde um Stunde. Rodolpe ist allein in seiner Schokoladenmanufaktur. Es ist schon spät in der Nacht und seine zwei Gehilfen längst zu Hause. Im Schein der Petroleumlampe begutachtet er sein Laboratorium.
Laute aufgeregte Stimmen dringen von der Seite des Mühleplatzes zu ihm. Rodolphe horcht gespannt in die Nacht und geht durch das Haupthaus den Stimmen entgegen.
„Das Wasser kommt!“ - Hochwasserwarung
Die Bewohner des Mattequartiers (Teil der Stadt Bern) sind alle auf den Beinen. Die Aare ist bereits an einigen Stellen über die Ufer getreten. Sandsäcke werden gefüllt. Ein Jüngling mit einem Handkarren bringt Nachschub. Gegenüber bei der Brauerei liegen schon Bretter bereit, um die Türen zu vernageln. In den folgenden Stunden lernt er eine ganz andere Welt kennen. Aufgewachsen als Apothekersohn oben in der Stadt, haben ihn die Überschwemmungen des Mattequartiers nie berührt. Doch jetzt ist er einer von ihnen. Angesteckt von der Angst, alles zu verlieren, wenn es nicht vorher in Sicherheit gebracht werden kann, hilft er überall mit. So wie auch ihm geholfen wird. Möbel müssen in die oberen Stockwerke getragen werden. Sandsackmauern werden gebaut. Immer weitere Säcke müssen abgefüllt werden. Doch das Wasser steigt und steigt. Die Lauben unter den Häusern bieten Schutz vor dem Regen, dafür wird man von unten her nass. Zum Schlafen ist keine Zeit. Hand in Hand arbeiten alle zusammen, egal ob Handwerksmeister, Tagelöhner oder Badehausbesitzerin. Die Bewohner des Mattequartiers sind in der Stadt oben, schlecht angesehene Leute. Aber hier erlebt Rodolphe einen Menschenschlag, dessen Schicksal und Wille zu einer gut funktionierenden Einheit zusammengeschweisst wird. Neid und Missgunst haben hier keinen Platz.
42 Stunden später schleppt er sich total verdreckt, erschöpft, hungrig und durchnässt in seine Manufaktur zurück. Nur, um nachzusehen, ob die Conce noch da ist. Denn wenn hier alles defekt ist, wird Vater wieder sein hämisches Grinsen aufsetzen. Er hat ihm nie verzeihen können, dass er nicht gewillt war, Medizin zu studieren, um später die elterliche Apotheke zu übernehmen. Statt dessen lernte er in Lausanne bei Amédée Kohler & fils das Handwerk des Schokolatiers.
Die Conce steht noch und zu seiner grossen Überraschung, läuft sie noch immer unermüdlich im gleichen Rhythmus. Rodolphe wirft einen Blick in das Marmorbecken. Es stockt ihm der Atem. Er traut seinen Augen kaum. Darin schwappt eine heisse dunkle, matt glänzende Flüssigkeit hin und her. Sie duftet himmlisch. Wie weggeblasen ist seine Müdigkeit. Er taucht eine kleine Kelle hinein, prüft die Konsistenz. Schon nach wenigen Minuten trocknet die Schokolade am Griff der Kelle ab und hinterlässt eine dünne feste Schicht. Er probiert und kommt in den Genuss einer zart schmelzenden, süssen Überraschung, die all die störenden Bitterstoffe verloren zu haben schien. Eine Idee lässt ihn ins Haupthaus zurück rennen. Über dem Schüttstein in der Küche hängt eine Kupferform. Ein Künstler aus der Gegend hat einen Hasen in das Kupferblech betrieben. Man hätte sie als Kuchenform gebrauchen können. Für Rodolphe war es aber immer nur eine schöne Küchen-Dekoration. Sehr gerne hätte er ganz viele verschiedene Formen in der Küche aufgehängt, dafür fehlte ihm aber das Geld. Schnell ist der sitzende Hase ausgespült. Wieder in seiner Manufaktur giesst er langsam, Schicht für Schicht diese köstlich braune Flüssigkeit hinein, lässt sie in die einzelnen Dellen fliessen, antrocknen und giesst die nächste Schicht.
Noch ist es Nacht. Es blitzt. Der Donner grollt ohrenbetäubend. Starke Winde peitschen Rodolphe die Regentropfen ins Gesicht. Sie stechen wie Nadeln. Sein Hemd, klatschnass, klebt an seinem Körper. Unter dem Arm, gut verpackt in einem Öltuch, trägt er einen länglichen Gegenstand. So schnell ihn seine Beine tragen, rennt er die 183 Stufen der Mattetreppe hinauf zur Hinterseite des Münsters. Seine Beine schmerzen, sein Atem geht keuchend. Trotzdem verringert er seine Geschwindigkeit nicht. Er schwenkt in die Herrengasse ein, ein hervorstehender Erker wirkt gespenstische Schatten auf das nasse Kopfsteinpflaster. Dann geht er rechts, kurz darauf wieder links, fast fliegt er an den Lauben vorbei. Die Schritte hallen, als er den Zytgloggenturm passiert. Schon ist er in der Marktgasse. Sein Herz schlägt gegen seine Rippen, ein Stechen in seinen Seiten macht sich bemerkbar. Nur noch ein paar Meter. Der Käfigturm kommt näher, bald hat er es geschafft. Vor der Apotheke seines Vaters bleibt er stehen. Es ist ein schmales Haus, nur zwei Fenster breit. Mit seinen Fäusten hämmert er wild an die Tür. Seine Augen haben einen entschlossenen Ausdruck, obwohl er müde und erschöpft sein müsste.
„Heute kann ich ihm beweisen, dass auch ICH es wert bin, ein Spross der Familie Lindt zu sein.“, denkt er trotzig.
Im Nachthemd und mit einer Kerze in der Hand öffnet Vater Lindt die Haustür. Minuten später steht auch seine Mutter neben dem Verkaufstresen, auf dem er aufgeregt das Resultat seiner monatelangen Bemühungen präsentiert. Er stürzt die Kupferform auf ein vorsorglich hingelegtes Seidenpapier und heraus rutscht ein lustig grinsender Hase aus matt schimmernder fast schwarzer Schokolade. Triumphierend schaut er zu seinem Vater, der aber nur missbilligend den Kopf schüttelt und murmelt: „Für solche Spässe ist mir mein Schlaf zu wichtig.“ Er nimmt seine Kerze vom Tresen und schlurft die Treppe zum Schlafzimmer hoch.
Dies war eine Dezembernacht des Jahres 1879. In den Tagen vor Ostern verkaufte Rodolphe Lindt, in Gedenken daran, Hasen aus Schokolade. Sie fanden reissenden Absatz. Schade, bekam Vater Lindt, die unablässige Nachfrage nach seiner Schokolade nicht mehr mit. Er starb nur weinige Wochen nach dieser denkwürdigen Nacht an einer kurzen schweren Krankheit.
Ziemlich genau 20 Jahre später. Rodolphe Lindt ist inzwischen 44 Jahre alt, verkauft er sein Geheimnis und die Rezepte für 1,5 Millionen Goldfranken an die Firma Chocolat Sprüngli AG.
Noch heute stehen in den Verkaufsregalen der Lebensmittelläden in den Wochen vor Ostern massenweise Hasen aus Schokolade. Aber warum Schokoladenhasen verkauft werden, weiss heute, ausser Dir, leider niemand mehr.