Gedanken zum Tod eines Königreiches...
Leise, unbemerkt von seiner Umgebung, war ein Königreich gestorben.Es hatte jahrzehntelang existiert. Nun war es nicht mehr.
Es war nicht in Todeszuckungen niedergesunken in den Flammen eines Krieges, keine Revolution, kein innerer Zwist hatte es zu Fall gebracht. Keine Krise, keine Not, keine Unruhen hatten sein Dahinscheiden begleitet, noch nicht einmal eine Fußnote der Geschichtsschreibung. Im Gegenteil, bis zu seinem plötzlichen Ende war es ihm eigentlich den Umständen entsprechend ganz gut gegangen.
Und genau deswegen war es zugrunde gegangen.
Denn sein eigener Monarch war es, der seinen Untergang beschlossen hatte. „Halt,“ hatte er gesagt, „genug. Bis hierhin und nicht weiter. Nicht mehr länger soll mein Reich dieses Mittelmaß ertragen, diese armselige Existenz. Dieses mein Reich soll neu erschaffen werden, in einer neuen Form, einer anderen Form, einer besseren.“
Seine vertrauenswürdigsten Berater hatten sich um ihn versammelt, vertraut und verlässlich, seine alten Freunde und langjährige Begleiter. Sie waren in Sorge, und sorgenvoll erhoben sie ihre Stimmen.
„Aber wie, Euer Majestät,“ hatten sie gesprochen, „wie soll denn diese neue Form entstehen?“
„Durch Töten,“ hatte der Herrscher geantwortet. „Um ein Reich zu erschaffen, müssen wir zunächst ein Reich töten. Unser Reich. Damit es wiedergeboren und zu Größe erstehen kann.“
Die Berater hatten sich verwundert und sorgenvoll angeschaut.
„Aber warum, Euer Majestät, sollte das notwendig sein? Es geht uns seit so langer Zeit den Umständen entsprechend gut. Seht doch, wie lange wir schon in Frieden mit unseren Nachbarn leben. Seht doch, welch kunstvolle Kompromisse wir geschmiedet haben, um uns einen Platz untern allen anderen zu erschaffen.“
„Ihr sprecht Wahrheit,“ hatte der König mit tiefem Ernst erklärt, „und genau darin liegt die Wurzel unseres Unglücks. All diese Zeit lang haben wir Kompromisse gemacht. Wir haben Verhandlungen geführt und Mittelwege gewählt. Wir haben als Händler unter Händlern gelebt, gefeilscht, Einigungen erzielt, uns an Regeln gehalten, die andere gemacht haben. Niemals haben wir unser großes Potential vollends ausgeschöpft, niemals vollends die wahren Grenzen unseres Schicksals erforscht, niemals unsere eigene wahre Größe erfahren, noch uns daran erfreut. Unter Schafen aufgezogen, haben wir als Schafe gelebt und unserer wahren, wölfischen Natur nicht geachtet. Unter dünnem, schwachem Blut aufgewachsen haben wir gelernt, den Ruf unseres edlen, starken, wilden Blutes zu ignorieren. Solches nie wieder. Vom heutigen Tage an, meine Freunde, nie wieder“
Der König hatte sich von seinem großen, geschnitzten Thron erhoben, und seine Höflinge waren überrascht zurückgewichen. Dies war seit langer Zeit nicht mehr geschehen.
„Nie wieder, sage ich, und das soll der erste Leitsatz unseres neuen Weges sein. Keine Kompromisse mehr. Von heute an soll es unser eigener Weg sein, den wir gehen, von uns ausgewählt, und kein anderer.“
Die Berater hatten aufgeregt untereinander geflüstert. „Doch wie, Majestät, wie soll dieses Ziel erreicht werden? Welche Methode, welche Alchemie, welche Strategie wäre hierzu geboten?“
„Wir erreichen dieses Ziel,“ hatte der König geantwortet, und bei diesen Worten hatte sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen gestohlen, „durch Krieg.“
Noch größere Aufregung hatte die Berater ergriffen angesichts dieser noch nie dagewesenen Anordnung. „Aber warum, „hatten sie ausgerufen, „warum, Euer Majestät, warum Krieg?“
„Weil wir nur durch Krieg die Veränderung herbeiführen können, die wir brauchen,“ hatte der Monarch geantwortet, ruhig und überlegt, „denn eine Gesellschaft, die zu lange im Frieden lebt, wird weich und selbstgefällig. Habt ihr denn noch nie bemerkt, alte Freunde, wie innerlich gefasst eine kriegerische Gesellschaft ist, um wieviel entschlossener, kompromissloser und wilder? Habt ihr nie bemerkt, wieviel stabiler ihre Häuser sind, und sauberer, wie stark befestigt ihre Städte, und stolz geschmückt mit prächtigen Säulen und Toren? Wie kühn und tapfer ihre Männer sind, mit klarem Blick und gestählten Körpern? Wieviel schöner und lebendiger ihre Frauen, vital und athletisch, von festem Geist? Sicherlich müsst ihr solches bemerkt haben.“
Die Höflinge hatten einige Zeit damit zugebracht, untereinander zu beraten, bevor sie antworteten.
„Wahrlich, Majestät, wir haben solches wohl bemerkt. Doch gegen wen sollte ein solcher Krieg erklärt werden? Wir haben keine Feinde, die des Namens wert wären. Niemand hasst uns.“
„Seid beruhigt,“ hatte der König geantwortet, „schon sehr bald werden viele Leute uns hassen, denn der Neid wird sie anfallen im Angesicht unserer wahren, unverhüllten Größe, und der Neid wird sie treiben, uns aus ihrem eigenen Entschluss heraus zu bekämpfen. Aber zu eurer Frage: der Krieg soll in zwei Teilen geführt werden.“
Bei dieser Eröffnung war ein Raunen durch die Reihen der Berater gegangen. „Welche zwei Teile, Majestät, sollen dies sein?“
„Der erste Teil wird darin bestehen, Krieg gegen uns selber zu führen.“
Daraufhin hatte eine große Unruhe die Berater befallen, und sie hatten eine Weile untereinander gestritten, bevor sie ausgerufen hatten: „Doch warum, Majestät, welcher Hass könnte uns wohl bewegen, Krieg gegen uns selber zu führen?“
„Kein Hass,“ hatte der Monarch streng geantwortet, „und auch kein böser Wille. Lasst ab von solchen vorgefassten Meinungen, denn was getan werden muss, muss in aller Gemütsruhe getan werden. Wir müssen all die Gewichte und Fußanker loswerden, die unseren Schritt hemmen, die uns daran hindern, unsere wahre Größe zu erfahren, unser wahres Potential. Weg mit all dem Staub und Schmier, der unseren Glanz verdunkelt. Keine faulen Kompromisse mehr, keine wohlfeilen Bündnisse, nicht mehr länger wollen wir die Weichheit und Bequemlichkeit des Mittelmaßes erdulden. Keine diplomatische Rede mehr, keine Notlügen, nie mehr die Konventionen des Darf-nicht! Verboten sei des Feiglings allfeile Losung: Kann-nicht! Von heute an verbanne ich diese Dinge und erkläre sie für geächtet. Ausgerottet sollen sie sein mit Stumpf und Stiel. Entschlossenheit ist nunmehr vonnöten, und Wagemut, und klare Voraussicht, damit wir uns dem zweiten Teile zuwenden und den Krieg jenseits unserer Grenzen tragen können.
„Gegen wen,“ hatten die Berater ausgerufen, am Rande der Verzweiflung, „gegen wen, Majestät, dieser Krieg?“
„Gegen,“ hatte der König geantwortet, und sein Lächeln hatte sich verbreitert, „die ganze Welt. Niemanden soll unsere Verachtung verschonen, der sich nicht als würdiger und wahrer Freund erweist.“
Das war nun wahrlich zuviel für die Berater gewesen, und so hatten sie alle Fassung verloren und waren haareraufend und jammernd zu Füßen ihres Königs auf die Knie gesunken.
„Majestät, welch Wahnsinn ist das? Zu welchem Zwecke sollte ein solcher Krieg geführt werden?“
„Der Zweck ist dieser,“ hatte der Monarch geantwortet und ihrem Gejammer keine Beachtung geschenkt, „ dass wir dadurch endlich unsere wahren Grenzen kennenlernen werden, die wahren Ausmaße unserer Bestimmung. Wir werden uns an unserer eigenen Stärke erfreuen und Dinge erfahren, von denen wir nie zu träumen gewagt haben, und wir werden in Freundschaft als Gleiche mit Gleichgesinnten am Feuer sitzen, mit Waffenbrüdern und Seelenverwandten, und die Gesellschaft und Bewunderung der schönsten und makellosesten Frauen genießen. Und selbst dann werden wir nicht für lange zufrieden sein, denn es werden immer neue Abenteuer auf uns warten.“
„Doch für wie lange,“ so hatten sie geklagt, „für wie lange soll dieser zweifache Krieg denn andauern?“
„Dieser Krieg, alte Freunde, wird für alle Ewigkeit andauern. Die Sterne selbst werden verlöschen, ohne sein Ende gesehen zu haben.“
Nun waren mittlerweile alle Berater entweder davongelaufen oder in Ohnmacht gefallen, bis auf einen einzigen. Der eine, der geblieben war, war ein alter Kriegergeist, zäh, gerissen und unnachgiebig, gehärtet im Feuer jahrzehntelangen Widerstrebens. Er alleine hatte das Lächeln seines Königs erwidert, und im tiefsten Grunde seines alten Kriegerherzens hatte er die Antworten auf die beiden Fragen erwartet, die er seinem König noch schuldig war, solange dieses Königreich noch bestand.
„Was soll aus uns werden, Majestät, wenn wir scheitern?“
„Dann, alter Freund, werden wir sterben und wiedergeboren werden und von Neuem beginnen, und die Niederlage soll unser Schulmeister sein.“
Der Kriegergeist hatte genickt, denn das waren genau die Worte gewesen, die er zu hören erwartet hatte. „Und wann, Majestät, soll dieses große Unterfangen beginnen?“
Der König hatte seinerseits genickt. „Schreibe dies nieder,“ hatte er gesagt, „und dies soll das Morgengrauen neuer Dinge sein.“
So wurde ein Königreich geboren.