Der Fisch im Windschatten
[Mit etwas Glück wird das hier der Anfang eines neuen Geschichtenzyklus.]Es wurde Fisch serviert. So saftig und frisch, wie man ihn nur direkt an einem Hafen bekommt, und so vollendet zubereitet, wie es nur die Hanseaten verstehen. Dazu bitteres, schäumendes Bier aus hohen Krügen. Ein scharfer Wind blies mit Macht von der offenen See her, willkommene Kühle im strahlenden Schein der Augustsonne, aber so drangvoll und mächtig, dass er die Schaumkonen von den Krügen stahl und in weißen, flüchtigen Flocken über das Tischtuch streute. Er wackelte an den beiseitegelegten Hüten und an den Kragenspitzen der lässig über Stuhllehnen gehängten Jacketts der beiden Männer, die sich zum Essen an einen kleinen Tisch auf der sonnendurchfluteten Terrasse niedergesetzt hatten. Eine Ruhe fand er nur im Schatten ihre Oberkörper, die sich in vertrauter Weise über ihre Teller vorgebeugt hatten. Man sprach des Königs Englisch, mit der selbstbewussten Gemessenheit und dem kultivierten Akzent des reinen Oxfords. Der Wind riss die Worte fort, bevor sie den Umkreis des Tisches verlassen konnten. Was gesprochen wurde, hörten nur die Ohren, für die es bestimmt war. Und das war gut so.
Die beiden Männer glichen in Kleidung und Gebaren Handelsvertretern, die über eine bequeme Mittagstafel gewisse Dinge besprechen wollten, und Händler waren in einer geschäftigen Hafenstadt wie Hamburg ein alltäglicher Anblick, der kein Aufsehen erregte. Tatsächlich haftete dem Ton ihrer Unterhaltung etwas Sachliches, fast Geschäftliches an, und die Dialekte der weiten Welt waren auf den von mittelalterlichen Backsteinfassaden gesäumten Märkten und Gassen des Hafens durchaus am Platz. Und doch waren beide einander mehr als vertraut, und was zwischen ihnen gesprochen wurde, auch wenn sie bestimmte Begriffe sorgsam vermieden, kam in dem schwülen, überhitzten politischen Klima des Zeitgeistes einem Akt der Unbotmäßigkeit gleich.
„Er wird es tun, nicht wahr?“ Vom gegenüberliegenden Ufer, von den Helligen und Stapeln von Blohm und Voss, schallte das Schnarren einer Dampfpfeife herüber, unterbrach das beständige, gedämpfte Dröhnen der Niethämmer und den Widerhall von heißem Metall. Der Sprecher ließ das Geräusch wie einen Kontrapunkt in seiner Redepause hängen. Kriegsschiffe, natürlich, schlanke, moderne, graue Rümpfe und kantig zulaufende Aufbauten. Das Scheitern der Flottenverträge lag vier Monate zurück, und die deutsche Industrie verlor keine Zeit, einen Rückstand von mehreren Jahren aufzuholen und gewinnträchtige Aufträge einzufahren.
Sein Gegenüber schüttelte entschieden den Kopf. „Nur, wenn man ihn zwingt. Der Österreicher ist ein Schwein, aber er ist nicht dumm. Polen ist das wahre Übel. Ihre Regierung ist kurzsichtig und arrogant, und die Franzosen befeuern sie noch. Und euer Parlament…“
Der andere blickte zu Seite und griff nach seinem Bierkrug, um einen tiefen Zug zu nehmen. Die Bewegung öffnete dem Wind eine Bresche, er zupfte einige Krümel Schnittlauch von den Kanten gesalzener Kartoffeln und warf sie über den Tisch.
„… unser Parlament finanziert sie, genauso wie euren Österreicher. Unser Parlament ist eine Schande. Es ist voller Banker und korrupter Bürokraten.“
Beide aßen schweigend eine Zeit lang. Das Thema brannte heiß in ihnen, aber man kam ihm auch nicht bei, indem man den köstlichen Fisch kalt werden ließ. Das allein wäre schon eine Kulturlosigkeit gewesen, die keiner von beiden auf sich genommen hätte. Das war ihnen schon als Studierende gemeinsam gewesen, als sie grüne Hügel, Flüsse und Schankstuben zusammen unsicher gemacht hatten: die Vergnügungen und Genüsse des Lebens wollten zu jeder Zeit erobert und ausgekostet sein, ohne zu zögern, denn in ihnen lag der Ruhm einer Welt. Und man wusste nie, wann man ihrer wieder würde habhaft werden können.
Der Kellner brachte Rote Grütze mit Schlagsahne, danach Kaffee und Zigarren. Erst als diese brannten und der forsche Nordwest ihren dichten Rauch über die Terrasse zerblies, wurde wieder etwas anderes als Belanglosigkeiten gesprochen.
„Eure Regierung muss einlenken. Im Weltkrieg habt ihr euer Empire bereits aufs Spiel gesetzt, und einen zweiten Würfelwurf erträgt es nicht. Die Franzosen würde es freuen.“
„Ich fürchte, dass du Recht behalten wirst. Gott beschütze uns vor der Eigenmächtigkeit der Kolonialvölker.“
Beide zogen an ihren Zigarren. Einige Zeit sprach keiner ein Wort.
„Ich reise morgen früh ab, mit der Morgenflut. Mein Vater hat telegraphiert.“
Der andere nickte. Er hatte geahnt, als sie sich zu dieser Mahlzeit verabredet hatten, dass es fürs erste ihre letzte miteinander sein würde. „Wollen sehen, dass du es nicht nüchtern tun musst.“
Sie blickten einander in die Augen.
„Wenn es losgeht… wirst du mitmachen?“ Er sagte bewusst „wenn“, nicht „falls“.
„Ich muss, denke ich.“
„Tu es. Tu es für mich. Damit ich glauben kann, dass auch auf eurer Seite rechtschaffene Männer sind.“
„Du genauso.“
Sie reichten einander stumm die Hände und bestellten scharfen Schnaps, gleich die ganze Flasche. Und damit war ihr Krieg beschlossen als ein Akt der Brüderlichkeit.