[RF] Treppenstufengespräche: Bram
BramAls Pete noch schlaftrunken durch die Flure schleicht, riecht er gebratenen Speck, Zwiebel und Kaffee. ‚Scheint so, als ob der gute Abraham Wert auf ein kontinentales Frühstück legt und nicht diesen britischen Porridge-Fraß in sich reinlöffelt.‘ Die Gerüche schweben wie ein imaginärer Wegweiser durch die großzügige Villa und weisen den Weg zum gedeckten Frühstückstisch im Wintergarten mit Blick auf das Meer. ‚Atemberaubend‘, denkt Pete, als er das Meer nun bei Tageslicht sieht. ‚Gar nicht ruhig, bei diesem Wind.‘
„Guten Morgen der Herr.“ Pete wird von einem livrierten Diener begrüßt, der fast lautlos auf der Bildfläche erschienen ist. „Sie haben recht. Das Meer ist heute in Bewegung. So ist es am schönsten.“ Dann deutet der Diener eine steife Verbeugung an und fragt: „Bis zum Frühstück bedarf es noch einiger Minuten. Darf ich vielleicht vorab einen Kaffee servieren? Oder lieber einen Tee?“
„Kaffee wäre recht.“
„Nehmen der Herr seinen Kaffee lieber stärker, französisch dunkel, oder bevorzugen der Herr eine mittlere deutsche Röstung aus Bremen? Lieber etwas milder? Mit oder ohne Zucker? Wie ist es mit Milch oder Sahne? Vielleicht mit Süßstoff?“
„Einfach… einen Kaffee.“
„Ich könnte aber auch einen Cappuccino oder eine Latte Macchiato anbieten.“
Pete lächelt. „Einfach nur einen schwarzen Kaffee.“
Dann realisiert Pete den alten Mann am Fenster im Korbsessel, in Gedanken auf das Meer hinausschauend. „Verzeiht, wenn ich sitzen bleibe. Aber heute quält mich die Gicht besonders. Manchmal meine ich, die feuchte, kühle Luft des Winters schadet mir besonders. Dann jedoch sitze ich hier am Fenster und schaue auf das Meer hinaus und denke: ‚Dieser Ausblick ist es allemal Wert.‘“
Bram dreht sich Pete zu, reicht ihm die Hand und meint: „Ich begrüße sie. Setzen sie sich doch zu mir, wenn sie mögen. Wir können die Zeit bis zum Erwachen ihrer Gesellschaft mit etwas Smalltalk überbrücken.“
„Gerne.“
Pete drückt seinen Rücken durch und streckt sich ein wenig, nachdem er sich auf den breiten, mit Sitzkissen belegten Stufen des Wintergartens zur Terrasse hin niederlässt und die höher stehenden Korbsessel ignoriert. Irgendwie hält es Pete für wenig angemessen, sich auf die gleiche Stufe mit dem alten Mann zu setzen. Aber auch von hier aus kann er den Meeresblick uneingeschränkt genießen.
Der Blick des alten Mannes schweift erneut über die unruhige See, als suchen seine Augen fern am Horizont den Sinn des Lebens. Lange wagte Pete nicht, diese Ruhe zu unterbrechen, bis er dann sanft das Gespräch anstößt…
„Herr Stoker…“
„Ich sagte doch,… nennen sie mich ruhig Bram. Als Kurzform von Abraham. Diesen Namen habe ich nie leiden können und zum Glück fand er auch keine Verbreitung; weder bei meinen Feinden – er lachte – noch bei meinen Freunden, oder Literaturkritiker.“
„Gerne. Wie sind sie damals eigentlich darauf gekommen, über Vampire zu schreiben?“
„Eine lange Geschichte. Ich bin Ire. Kein Engländer. Und ich war in meiner Kindheit lange krank. Ich war auf den Rollstuhl angewiesen. Das Leben hatte mich damals einfach vergessen. Bis Mitte der fünfziger Jahre…“
„Fünfziger Jahre?“ Pete rührte irgendwie gedankenverloren in seinem Kaffee.
„Die Achtzehnhundertfünfziger Jahre. … wo war ich gleich stehengeblieben. Ach so. Noch in der Kindheit.“
Brams Blick schweift wieder über das Meer ab. „Also bis dato war ich auf fremde Hilfe angewiesen. Ich konnte den Rollstuhl kaum verlassen. Ich machte die dunklen Nächte zu meinen Tagen.“
„Daher kommt wohl auch, dass die Vampire in ihrer Geschichte des Nachts aktiv werden?“
„Es mochte so gewesen sein. So oder so ähnlich. Zumindest habe ich viel gelegen und viel in Etappen geschlafen. Auch ich war des Nachts aktiver, denn am Tage. Schlafen und widergeboren werden gehörte zu meinem Tagesablauf.“
„Sie haben doch später die Welt bereist. Wie ging das denn damals im Rollstuhl?“
„Gemach, gemach, junger Freund. Natürlich ging es nicht. Zumindest nicht im Rollstuhl. Also – wie bereits gesagt – Mitte der 50er Jahre hatte ich meine erste Begegnung mit einem Vampir in einer Mönchsrobe. Ein irischer Mönch mit Fangzähnen. Stellen sie sich das einmal vor. Wir reden von Irland, nicht dieses Transsylvanien; von einem Jungen im Rollstuhl, nicht einer strahlenden Jungfrau in Weiß; von einem Mönch, nicht einem blutrünstigen Grafen, der seine Gegner pfählt.“
Man merkt Bram an, dass er noch immer über das damals Geschehene erzürnt ist. Seine Finger krampfen sich um den Teelöffel, mit welchem er versucht, die braunen Kandis in seinem Earl Grey tea with a drop of milk zu lösen. Es scheint ihm nicht gelingen zu wollen, denn sie klimpern noch immer munter gegen die Wände des dünnen chinesischen Porzellans seiner Tasse.
„Schon damals hatte die Kirche etwas für kleine Jungs übrig“, fährt er mit harter, verbitterter Stimme fort. „Aber dieser Mönch blies Leben in meinem scheintoten Körper – nur leider an den falschen Stellen. Und das können sie wörtlich nehmen. Ich vergalt es dann der Kirche, indem ich den Mönch an den Pranger stellte und ihn wesentlich später in Flammen aufgehen ließ. Zunächst den Mönch, später dann sein irisches Kloster.“
„War es denn wirklich der Mönch, der ihnen den Weg aus dem Rollstuhl ermöglichte?“
„Zumindest dachte ich damals so. viel wahrscheinlicher ist jedoch die These, dass der Hass, die Scham, der Gedanke an Rache mich damals aufstehen ließ. Was auch immer.“
„Ah, ich verstehe. Man redete nicht darüber. Weder damals noch heute redet man über Täter in Kutten.“ bemerkt Pete nachdenklich, ohne von seiner Tasse aufzuschauen. In der stillen Minute nach diesem Geständnis füllt das sanfte Rauschen der nahen Brandung den leeren Platz im Hintergrundrauschteppich des Wintergartens.
‚Das Meer war da, ist da und wird noch da sein, wenn wir Vampire die Erde verlassen haben‘, kommt es Pete wieder in den Sinn. ‚Was möchte der alte Mann damit sagen? Vampire, die irgendwann die Erde wieder verlassen? Und wieso: Wir Vampire?‘
Der alte, gichtgebeugte Mann im Korbsessel drängt das Rauschen der Brandung in den Hintergrund, als seine Stimme wieder den vorderen Platz der Geräuschskulisse beansprucht. „Und auch heute brennt die irisch katholische Kirche wieder aus dem gleichen Grunde. Damals wurde der Grundstein des Hasses der Kirche auf Vampire gelegt. Dabei hatten sie die Abtrünnigen in den eigenen Reihen beherbergt. Der Judas in Mönchsrobe hatte Fänge im Gebiss!“
„Nicht nur die irische Kirche brennt“, ergänzt Pete. „Es ist zu einem Strohfeuer geworden, welches überall auflodert. Selbst im Lande des Papstes lodern Feuer. Selbst die ehemalige Diözese des Heiligen Vaters bleibt nicht verschont. Und dies zu recht! Priester, die über Kinder herfallen und gleichzeitig ablenken, indem sie den Exorzismus ausüben und gegen Vampire wettern…“
„…Priester, die das Wort des eigenen Schwanzes ver-künden“, ergänzt der alte Mann mit versteinerter Miene.
Bram hielt einen Augenblick inne, um an seinem mittlerweile recht kalten Tee zu nippen. „Und später wurde ich sogar noch Athlet. Ich genas vollständig und spannte Oscar Wilde seine Freundin Florence aus. Wir heirateten und zogen nach London. Mein Freund und Mentor Henry Irving, seines Zeichens Schauspieler, zeigte mir die Welt. Ich reiste mit ihm und begann Romane und Reisegeschichten zu schreiben. Neben Oscar Wilde lernte ich Sir Arthur Conan Doyle kennen und schätzen. Irgendwann lernte ich Hermann Wamberger, oder Arminius Vámbéry, wie er sich im Orient nannte, kennen. Ein ‚Türkenforscher‘, ein Hobby-Derwisch, ein britischer Geheimagent mit Pseudonym Raschid Effendi.“
„Also eine jener Gestalten, auf die das britische Empire ihren Weltmachtanspruch aufbauten. Ein wenig spleenig – wie jeder Gentleman und Derwisch – und Geheimagent.“
„Urteilen sie nicht so grob über das Empire. Schließlich hat es über 200 Jahre lange prächtig funktioniert. Wo waren wir stehen geblieben? … Ach so Raschid Effendi, oder Arminius Vámbéry, der Rumänen-Ungar mit römischen Vornamen. Also jener Professor – und dies war er wirklich – erzählt mir damals die Geschichte eines Grafen aus den Karpaten, den er zwar nie kennenlernte, sondern dessen Gräueltaten ihm wohlbekannt waren: Vlad III. Draculea. Ich war fasziniert, mein Lieber. Das können sie mir glauben.“
„Mehr noch als von dieser Twilight Saga?“
„Ach Papperlapapp! Biss zum Kotzen, oder so. Verliebte Vampire sind so erotisch wie eifersüchtige Manatis.“ Bram schüttelte demonstrativ seinen gicht-geschwächten Körper.
„Waaas?“
„Manatis. Seekühe.“
„Ich liebte diese Figur Draculea. Zeigte sie doch so viele Facetten, die sich für einen Roman anboten. Graf Dracula ward in meinem Hirn geboren.“
„Und wieso so anders, als real?“
„Ach mein Lieber. Das wahre Leben ist langweilig. Wir brauchen Geschichten. In Geschichten leben wir all das aus, was wir real nicht haben. Wir wollen unterhalten und unterhalten uns dabei zumeist auch noch selbst. Und dann sonnen wir uns in all unserer Eitelkeit in den Kommentaren der Leserschar. Und der Versuch, die Welt irrezuleiten ist mir wohl geglückt, so wie es damals und heute diesen Kirchenmännern immer wieder gelingt, Kinder in die Irre zu führen.“
Bram nimmt eine Hand hoch und beginnt ein Kreuz schlagen. Dann jedoch hält er inne. Seine Hände sinken kraftlos in seinen Schoß, bevor seine knöcherne Rechte wieder nach der abgestellten Teetasse greift.
Pete blieb still und wartete geduldig auf die Fortsetzung.
„Menschen glauben an Vampire, weil sie an Vampire glauben wollen. Menschen brauchen die Reinkarnation des Bösen, weil sie sonst das Gute nicht erkennen können. Der Belzebub – wie sie ihn nennen – hat keine Hörner. Für die Kirche hat er Fangzähne. Dabei sind wir Vampire doch so anders. Menschlich. Menschlicher als die Menschheit selbst.“
„Und all das Morden. Das Blutsaugen?“
„Dummes Geschwätz eines alternden Autors, dem man später auch noch die Syphilis andichten wollte. Aber die ideale Tarnung dafür, dass Vampire noch heute auf unserer Erde weilen… die heilige Inquisition sucht noch immer die Blutsaugenden Monster, die sich des Nachts aus ihren Gruften erheben, ohne zu ahnen, dass wir des Tages unter ihnen weilen.“
Bram beugt sich zu Pete vor und mit gesenkter Stimme – fast verschwörerisch – erzählt er: „Wie verdreht diese Welt doch ist, zeigt dann, dass man mir posthum einen Preis verleihen wollte. Später war ich dann – nach meinem Tod und natürlich incognito – bei meiner posthumen Ehrung als bester Gruselautor bei dieser American Society of irgendwas...
...Isn’t it scary?“
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Eine kleine Leseprobe aus: "Deadly Blues", einem Roman im embryonalem Stadium.