Schwarzer Schwan
Oh man, oh man, ist das Wasser kalt."Man verdient durchschnittlich 40.600.-€ pro Jahr oder streicht als DAX Top 1 und 2 Verdiener über 7 Millionen Euro pro Jahr ein. Man, ja Frau-man ist bei Eintritt der Menopause 52 Jahre alt und kommt gefälligst mit 53%iger Wahrscheinlichkeit beim jedem Geschlechtsverkehr zum Orgasmus. Man hat bei der Scheidung eine durchschnittliche Ehedauer von 14,1 Jahren hinter sich und heiratet mit durchschnittlich knapp 31 Jahren, wenn man ein Mann ist und knapp 27 Jahren, wenn man eine Frau ist. Man lügt in England 200 mal pro Tag, in den USA nur 50 mal, man hat in Deutschland durchschnittlich 8 mal Sex pro Monat, geht durchschnittlich 18 mal pro Jahr zum Arzt und schaut pro Tag 180 Minuten fern.
Oh man, oh man, weht hier ein strenger Wind.
Als Manager von morgen hat man(n) ein Ehrenamt zu betreiben für das man(n) freigestellt werden soll und hat auf jeden Fall einen persönlichen Coach auf Unternehmenskosten, sowie ein zweites Blackberry zu beanspruchen. Will man(n) wer sein, fliegt man First Class und kopuliert nicht in einer 80qm Wohnung in der Pampa, sondern in einem Loft in der City. Man kennt die wichtigsten Studien und deren Ergebnisse aus dem äfäf, das gehört sich schließlich so für einen ernst zu nehmenden Akademiker. Als alleinerziehende Mutter, die nicht rechtzeitig geheiratet hat, hat man nicht zu jammern, schließlich bekommt man ja genügend Unterstützung laut Sozialbericht des Bundes und Erhebung der Lebenswelten der OECD in ihren Mitgliedstaaten.
Oh man, oh man. Ich schwimme durch kaltes Nass und kalte Luft und bei all den Zahlen wird mir ganz heiß.
Nahezu alle Männer haben Kosenamen für ihn und Frauen für seinen Träger und die erektile Dysfunktion des Mannes korreliert eindeutig mit der Attraktivität der Frau; man, sprich Frau müsse sich eben ein wenig Mühe geben. Über 70% der Männer empfinden ihre Partnerin als egoistisch, er wäre mit seiner Meinung daher ja nicht alleine. Und als jede zweite Frau hat man weniger als 25 Paar Schuhe im Schrank und durchschnittlich sechs Sexpartner im Bett zu haben, sowie mindestens ein Sexspielzeug im Schrank." "Das ist Frau dem man schuldig, oder der Mann dem man, oder Schwan dem Federvieh, oder heißt er einfach nur Frank?"
Oh man, oh man...
Franks Stimme hat sich wieder Zugang zu meinen Hirnwindungen verschafft, ohne dass ich es ihm explizit erlaubt habe. Es gibt über eine Million Statistiken, die er mir erklären will und mit und durch sie, die Welt, wie er sie sieht und verstanden haben will.
Selbst hier und jetzt das Wasser bis zum Bauch, am Kopf der eisige Wind und in der Mitte mein ich, das sich trotz des verlockenden, scheinbar angenehmen statistischen Mittels zwischen nass und windig einfach nicht wirklich gut fühlen will, sondern einmal mehr unverstanden, unbeachtet, instrumentalisiert, missbraucht zur eigenen Gewinnmaximierung mit Hilfe und Unterstützung des M.A.N.
Nass und windig bleibt dennoch was es ist. Das gesamte ICH dem Wasser und dem Wind ausgesetzt, eben ganz und gar nass und windig…nichts dazwischen alles gleichzeitig anwesend und DA.
Oh man oh man...
"Wie feige ich doch bin und auch er, der sich so an Zahlenwerk festklammert?" denke ich und schwimme weiter, mich immer mehr auf die Welt einlassend in sie hinein tauchend, sich ihr hingebend, meine nass-windige „Mitte“ vergessend, einfach zu sein, ich von oben bis unten, mitten im Nass, mitten im Wind, mitten im Leben. Was für ein wundervoller See, was für eine reizende Gegend und was für eine liebevolle und bezaubernde Begleitung an meiner Seite, der ich erst jetzt gewahr werde. Irgendwie kann ich es noch gar nicht fassen. Ich schaue mich um und sehe…
Ich bin hier unter meinesgleichen und plötzlich fühle ich mich wohl und verstanden. Nach so langer Zeit, nach soviel Unverständnis, Lieblosigkeit und Herzschmerz bin ich angekommen, hier in diesem Wasser und erfreue mich meines Da-SEINs. Mit jedem Atemzug schwimme ich ihr mehr entgegen, der stärker werdenden Liebe hin zu mir, hin zu Ihnen, meinen Schwimmgefährten, hin zur Welt der nassen und windigen, reizenden, ruhigen, entspannenden, interessanten Welt dieses Sees. Hin, wo ich sein kann, wie und wer ich bin und nicht, wie MAN mich haben will. Ich spüre meinen aufkeimenden Mut. Ja, dieser man ist mächtig denke ich zugleich und schwimme mutig weiter, als gelte es um mein Leben zu schwimmen, weg von ihm, weg vom MAN, hin zu mir.
Ich lächle in mich hinein bei dem Gedanken, dass es mir trotz Statistik endlich gelingt zu SEIN, ein ICH aus Fleisch und Blut unter anderen ICHs, so unterschiedlich, wie wir nur sein können unter der Sonne, in diesem See. Standardisierungsirrsinn hat mich lange Zeit daran gehindert zu leben, wie ich leben möchte. Erkenne ich erst heute diesen offenkundigen Irr- und Schwachsinn? Was ist durch einen Durchschnitt gewonnen, durch prozentuale, statistische Schubladen? Was sagt das aus, über mich, über einen Anderen, über die Welt? Wofür ist das von Bedeutung? Wem nützt das?
„Dem MAN!“ sagt mein Gefährte, stumm zu mir hinüberblickend. „Liebes, der MAN will Berechenbarkeit, Zählbarkeit, Kontrolle, Standardisierung, Konfektionierung, Einschätzung, Verlässlichkeit. Der man-tut, man-gehört zu, man-ist so und so, sorgt für Regelkonformität und unterstützt damit Bequemlichkeit und Gefälligkeit. Der Man wird geboren durch Menschenhand, durch Statistiken und Schubladen und beginnt heute fast ein Eigenleben zu führen, damit Mensch sich sicher fühlt.“ erklärt mir mein Gefährte und stumm frage ich zurück: „Wo lebt dieser MAN? Wie sieht er aus, wie riecht er, wie schmeckt er, wie fühlt er sich an, wie spricht er, was denkt er? Wie heißt er?“ Ich bekomme keine Antwort und spüre wieder seine Mächtigkeit und meine Ohn-Macht.
Wie häufig hatte ich den Satz schon gehört: „Du musst dich eben anpassen und deine Ansprüche ein wenig runter schrauben.“ Oder: „Das macht man eben so.“ Ich weiß es nicht, es müssen unzählige Male gewesen sein.
Ja ich erinnere mich. Ich wurde geboren und lebte glücklich mit meinen Eltern und Geschwistern, bis sie umkamen. Wie das geschehen ist, weiß ich nicht mehr genau. Ein Heckenschütze hat sie mir genommen, hinterhältig, feige. Heute weiß ich, dass das „Besondere“ sehr gefährlich lebt, weil es aus der breiten Masse herausragt, sichtbar wird, nicht ins Raster passen will, Neid auslöst, oder einfach „nicht gefällt“. Damals hatte ich einfach Furcht – Furcht vor den anderen, Furcht vor dem Leben. Was tun, um nicht in noch größere Gefahr zu geraten?
Ich fand Unterschlupf bei Verwandten. Sie mochten nicht, wie ich aussah, wie ich mich gebärdete. „Wenn du zu uns gehören willst, musst du dich anpassen. So kannst du nicht rumlaufen, wie sieht denn das aus und überhaupt: Deine Stimme ist fürchterlich und so wie du angezogen bist, müssen wir uns deiner schämen – so geht das nicht.“ Ich musste in ihre Schule. Ich fügte mich ein und passte mich so gut es ging an. Als ich mich dennoch nicht so entwickelte, wie sie das gerne gehabt hätten, waren sie so enttäuscht von mir, dass sie mich kurzerhand rauswarfen.
Ich zog zu Bekannten, doch kaum war ich da, begann der Zickenkrieg. „Du bist aber keine von uns. Das macht man aber bei uns nicht so. Hier sollst du dich so benehmen, wie wir dir das sagen. Nur weil du größer bist, brauchst du nicht zu glauben, dass du etwas Besseres bist.“ Ich strengte mich an, doch sie liebten mich nie so, wie ich war. Was für bescheuerte Hühner denke ich heute und schwimme weiter.
Heute ist die Zahlenwelt und wohl auch Frank der Überzeugung, dass es mich gar nicht gibt oder zu geben hat und doch bin ich aus Fleisch und Blut. Wie ist das zu verstehen? Direkt blickt mir mein Gefährte ins windumwehte Gesicht und spricht mich wieder stumm an.
„Schwimm nur weiter, Liebes. Der Strom des Lebens trägt dich, uns. Schwimm nur weiter, der Wind des Lebens wird dir nicht gefährlich, so lange du ihm aufmerksam lauschst. Horch nur, was er und ich dir erzählen."
Schwäne sind...
"Um zu untersuchen, wie Schwäne SIND werden Cluster gebildet. In jedem Cluster gibt es eine möglichst gleiche Stichprobe N. Zunächst wird festgestellt: Es gibt mehr Hühner als Gänse und noch weniger Schwäne. Das bedeutet, es muss randomisiert werden, damit die Stichproben auch repräsentativ sind. Da es statistisch mehr braune Hühner gibt, kommen mehr braune als weiße in die Stichprobe. Gänse und Enten kommen den Bundesländern unterschiedlich häufig vor, so dass sich mehr Gänse aus Niedersachsen, aber mehr Enten in Bayern finden. Und Schwäne kommen in den Städten häufiger vor als auf dem Land, ergo werden je Bundesland zwei Landschwäne und zehn Stadtschwäne aufgenommen. Um nun die Frage zu beantworten: Was sind die gemeinsamen Merkmale der Stichproben und was unterscheidet Hühner von Enten, Gänsen und Schwänen wird gemessen, gewogen, befragt, analysiert, titriert, Genkarten angelegt und vieles mehr. Kannst du mir bis dahin folgen, Liebes?“ Mein Gefährte blickt zu mir hin und ich nicke ihm fast unsichtbar zu.
„Dann fahre ich fort: Fragen wir die Statistik: „Was macht Hühner zu Hühnern“, so korreliert das Scharren im Dreck eindeutig mit dem Huhn sein und stellen des Weiteren fest: „Wir Schwäne sind weißes Federvieh, welches sich insbesondere durch die Größe und das Nichtscharren im Dreck, von Hühnern unterscheidet. Die Korrelation zwischen weißer Farbe und Schwan ist am höchsten, womit gilt: Wir Schwäne sind mit 99%iger Wahrscheinlichkeit weiß“. Der Man erkennt Hühner also am Scharren im Dreck und Schwäne an der Farbe. Als Huhn hat man gefälligst dem MAN zu folgen und im Dreck zu scharren und wir Schwäne haben, laut man, gefälligst weiß zu sein, sonst läuft MAN, sprich wir, Gefahr, uns unbeliebt zu machen, nicht nur bei Hühnern, Gänsen, Enten, sondern auch bei Schwänen und insbesondere bei MAN Anhängern, die es gerne quadratisch, praktisch und passend haben.“ Er lächelte mich von der Seite an.
„Kann es folglich sein, dass die Wahrscheinlichkeit für einen nicht weißen Schwan zur Gruppe der Schwäne „zu gehören“ statistisch äußerst gering ist?“ schaue ich meinen Gefährten fragend an und dieser zwinkert zurück. „Aber das bedeutet ja weiterhin, dass die Wahrscheinlichkeit, auf Gleichgesinnte zu treffen, bei denen ein solcher Schwan trotz seiner Andersartigkeit anerkannt, geliebt und geschätzt wird, wie er ist, wo er sich nicht einem „MAN hat zu sein“ zu unterwerfen hat, sondern einfach er IST wie er ist, statistisch gesehen, gegen Null tendiert?“ Richtig, schien mein Gefährte mir zuzunicken. Ich verstand, warum ich für Frank nicht existierte. Mein Gefährte und ich schauen uns gleichzeitig im Teich um und lächeln einander zu.
„Hier ist das Unwahrscheinliche nicht nur wahrSCHEINlich, sondern es IST wahr. In diesem Teich SIND 100% aller Schwäne schwarz! Und noch viel mehr: Keiner von uns gleicht dem anderen, weder vom Aussehen, noch von der Persönlichkeit, noch im Verhalten und jeder hat seinen eigenen Namen, seine eigene Geschichte. Gestatten ich heiße Nero, und das ist Blanche und Rubin."
Ich schicke ihnen mein dankbarstes Lächeln und in den windigen Himmel einen Gruß auf die Reise. „Lieber Frank, in deiner Welt mögen Schwäne wohl weiß sein, doch deine Welt ist mir zu klein, zu eng, zu beschränkt. Leb wohl, Dein schwarzer Schwan, jenseits jeglicher Statistik."
Dio (c) Juni 2009- April 2010
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Experiment:
Ich wollte mit dieser Geschichte
a) wieder einmal den Versuch starten, ein gesellschaftliches Phänomen mit einer Geschichte zu koppeln; dieses mal die Informationen "in Gänsefüsschen verpackt" und hoffentlich weniger trocken daherkommend...(wenn ich mehr von Statistik verstehen würde käme es sicherlich leichtfüssiger daher)
b) Ein weiterer Versuch war, die Metapher des hässlichen Entlein-Märchens immer wieder zu bedienen und erst ganz am Ende aufzulösen und mit dem statistischen Anfang (übrigens bis auf 2 Lügen tatsächlich erforscht...) zu schliessen....
(Wer sie übrigens findet darf sich ein Fleissbildchen aus der Kiste nehmen ; ebensolches gilt für Nachhilfe in Kommasetzung )
Ob mir die Experimente einigermassen gelungen sind??? Ich freue mich über Kommentare, Anregungen und anregende Diskussionen rund um das man...., denn das macht man doch hier so, oder?
Dio, die ein wenig Herzklopfen hat und schwitzt, denn seit der letzten Geschichte ist eine Eeeeewigkeit vergangen... Oder komme ich doch entgegen der Statistik zu früh in die Menopause