Seinem Gedankenbild gab er die schwarze Uniform ohne Abzeichen. Jetzt wirkte er wahrlich erschreckend. Er hatte seinen eigenen Tod geschaffen und ihn überlebt. Nichts, so dachte er, könnte ihm mehr etwas anhaben.
Dann besuchte er sie. Einen nach dem anderen. Niemand sollte ihm entkommen. Das dunkle Herz schlug kräftig in seiner Geisterbrust. Hämmerte gedachtes Blut durch imaginäre Adern und loderte wie Feuer in ihm.
„Ihr könnt mich nicht besiegen“, flüsterte er ihnen ins Ohr. „Denn ich bin der Tod.“ Lachend verschwand er und ließ sie schweißgebadet zurück.
Die Vorbereitungen für die Ankunft des Generals liefen auf Hochtouren. Irina Williams war den ganzen Tag über emsig. Bis tief in die Nacht hinein war sie am Arbeiten, nur um nicht nachhause gehen zu müssen. Sie wollte nicht an Schlaf denken, denn seit einigen Nächten kam er im Traum zu ihr. Er! Wie konnte er es wagen! Eigentlich müsste er längst am Boden sein. Was ihn wieder aufgerichtet hatte, wusste sie nicht. Dieses Scheusal der Nacht! Grässlich war er anzusehen und das Bild verfolgte sie auch tagsüber. Fahrig wurde sie, ungeduldig und reizbar.
Aber die Vorkehrungen waren beinahe abgeschlossen. Es fehlten nur noch die Hauptakteure, dann stand dem Triumphzug der neuen Regierung nichts mehr im Weg. Sie hatte an alles gedacht. Das Militär sicherte sämtliche Zugänge, die Polizei musste Sonderschichten einlegen und alle Wohnungen räumen lassen, die sich in unmittelbarer Nähe des Platzes der Eumerischen Einheit befanden, wie der Zentralplatz umbenannt worden war. Viele Menschen wurden für den Einmarsch benötigt, denn nicht nur die Armee sollte zeigen, dass sie dem neuen Machthaber huldigte. Ganze Heerscharen waren angeheuert worden, um an dem Marsch teilzunehmen.
Am Platz war dann auch die Hinrichtungsstelle. Hier würden die gefangenen Terroristen endlich ihrem unvermeidlichen Ende entgegengehen. Dann würde sie zusehen, wie er einen Kopf kürzer gemacht wurde, denn das konnte auch er nicht überleben. Erst dann würde sie wieder ruhig schlafen können.
Sie seufzte zufrieden bei dieser Vorstellung und begann damit die letzten Handgriffe zu delegieren. Als alles zu ihrer Zufriedenheit geschehen war, kontrollierte sie ihre mentalen Barrieren und ging anschließend nachhause.
Jürgen und Zoe hatten es den Polizisten nicht allzu schwer gemacht und Spuren hinterlassen. Die Heimlichkeit hatte ausgedient und so waren sie rasch gefunden worden.
„Da haben wir die beiden also doch noch erwischt“, meinte einer der Polizisten.
„Wir haben euch erwartet“, entgegnete Jürgen hochmütiger als für die Situation angemessen war und erntete dafür einen Schlag mit dem Knüppelstiel in die Magengegend. Er krümmte sich und hätte ihn nicht Zoe gehalten, wäre er unter dem zweiten Schlag zusammengebrochen.
„Es ist nicht notwendig, uns zu misshandeln, wir kommen doch freiwillig mit“, versuchte sie die Polizisten zu beruhigen, doch die waren froh, endlich jemanden gefunden zu haben, an dem sie ihren Frust über die lange Untätigkeit auslassen konnten.
Zoe war versucht ihre Kräfte freizulassen, doch Jürgen schüttelte kaum merklich den Kopf. Es war zu früh für eine unüberlegte Heldentat. So ließ sie es bleiben und fügte sich der Gewalt der Polizisten.
Sie wurden in einem geschlossenen Wagen abtransportiert. Es dauerte Tage, bis sie in Sunflower waren. Tage, die sie ohne Wasser und Nahrung angebunden an die Bordwand verbringen mussten. Die Luft war stickig und verbraucht und es stank im Inneren. Nicht einmal für die Verrichtung der Notdurft durften sie aussteigen.
„Lass dich nicht unterkriegen, Liebes“, flüsterte er und fühlte selbst, dass er unter dieser Behandlung, zusammenbrechen zu drohte.
„Mit Pauken und Trompeten, haben wir gesagt. Nur die sind jetzt sehr leise“, erwiderte Zoe.
Als sie endlich ankamen, waren beide bewusstlos, denn die Luft war knapp geworden und der Flüssigkeitsmangel hatte seinen Tribut gezollt. Behandschuhte Hände zogen sie heraus und brachten sie sofort in getrennten Zellen unter. Dann wurde Gerald Hauser über das Eintreffen seiner Gefangenen benachrichtigt, der sich freudig erregt die Hände rieb. Schon seit dem Zusammentreffen im Gericht war sein Sinnen auf Rache gerichtet. Sie hatten ihn beide bloßgestellt. Nun war sie da, die Stunde der Vergeltung und er würde sie hinausziehen bis hart an die Schmerzgrenze. Erst dann würden sie zu ihrem letzten Bestimmungsort gebracht werden. Das war mit Irina Williams so abgemacht.
Jürgen erwachte zitternd. Er war nass und ihm war kalt. Jemand hatte ihn mit kaltem Wasser begossen. Frierend richtete er sich auf und musste feststellen, dass er sich in einem kleinen Käfig befand. Eine Hochsicherheitszelle. Aber er war nicht alleine. Ein Wächter stand nur einen Schritt von ihm entfernt, einen Eimer in der Hand und grinste breit. „Mitkommen“, befahl er jetzt streng. Jürgen erhob sich langsam und folgte dem Mann auf den Gang hinaus. Er wurde gefesselt, wie er es bereits bei Jack gesehen hatte und dann an einer Leine fortgeführt. Etwas weiter vor ihm, erkannte er Zoe, die ebenso gefesselt war wie er selbst.
Als er an einem weiteren Käfig vorbeigeführt wurde, bemerkte er noch einen Insassen. Rasch wandte er den Blick ab, er konnte ihn nicht ansehen, wirkte zu verändert. Die Explosion hatte soviel Schaden angerichtet, dass er noch immer nicht vollständig wiederhergestellt war.
Jetzt musste er sich um sich selbst kümmern und hoffen, das er die unnötigen Fragen aushalten würde können.
In einem nüchtern eingerichteten Büro wartete bereits Zoe. Jürgen wurde neben sie gestellt. Hinter jedem von ihnen stand ein Wachmann mit der Leine in der Hand und in der anderen, einen E-Schocker, der im Zweifelsfall töten konnte. Jürgen schickte Zoe einen liebevollen Gedanken, den sie ebenso erwiderte. An ihren Augen konnte er erkennen, dass sie den Tränen nahe war, seine sahen wahrscheinlich genauso aus. ‚Ich habe Jack gesehen’, teilte er ihr noch mit, dann trat Gerald Hauser ein. Er lächelte jovial und meinte: „So, da seid ihr also wieder, ihr Terroristenpack.“
„Wie lautet die Anklage?“, fragte Jürgen, er hatte sich seines Berufs besonnen und kehrte den Anwalt heraus.
„Ihr habt gegen eine ganze Reihe von Regeln verstoßen und ihr seid des Terrorismus verdächtig, also wird es für euch keine Verhandlung geben. Das Gesetz hat sich dahingehend geändert, dass beim Verdacht des Terrorismus, die Strafe ohne Gericht vollzogen wird.“ Gerald wandte sich an einen Wachmann und sagte: „Kleben Sie bitte beiden den Mund zu. Ich will vorläufig nichts von ihnen hören und dann ab in den Verhörraum.“
Rücksichtslos wurden sie an den Leinen hinausgezogen und erneut hinab in die Gewölbe getrieben.
Trotz, ihrer Angst war Zoe froh, dass sie Jürgen sehen konnte. Sie wusste, dass sie beide in den nächsten Tagen viel Qual erwartete und am Ende der Tod. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass Aufgeben jetzt das Schlechteste wäre.
Da erreichte sie ein Gedanken, eine vage Idee und noch bevor sie danach fassen konnte, war sie wieder weg. Zurück blieb nur die Erinnerung an ein Bild, das sie verwirrte und nicht sofort erkannte. ‚Wir sind weder Verräter noch Terroristen’, dachte sie. ‚Wir wollen doch nur unseren Weg gehen und nicht diktieren lassen, wie wir zu sein haben. Jack! Wo liegt der Fehler? Du weißt es!’ Wie als Antwort fühlte sie eine leichte Berührung, aber es war nur ein Gedankenhauch, eine ferne Erinnerung, die sie streifte und einen zarten Kuss auf ihre Stirn hauchte. ‚Ich bin bei dir’, schien er zu sagen. ‚Haltet aus. Es dauert nicht mehr lange. Das Ende ist nahe.’
‚Welches Ende? Welches, Jack? Sag es doch!’ Ihre Gedanken wurden verzweifelter als sie in dem Verhörraum ankamen. Das einzige das sie fühlte, war eine zarte Umarmung im Geist, dann war es weg und sie fühlte nur eine Mauer aus Granit, die sich von ihr entfernte. Konnte das beides Jack gewesen sein, diese weiche Hand und dieser Fels, fragte sie sich. Ihre Gedanken kreisten um das „Wann“ und „Wie“. Sie wollte die Gegenstände in diesem Zimmer nicht näher betrachten. Es war schlimm genug, als sie es in Jacks Albträumen gesehen hatte, jetzt live war eine andere Sache. Sie verschloss die Augen davor, nahm nur noch ihre eigene Angst wahr und die Panik, die in Jürgen hochzusteigen begann. Dann verschloss sie sich auch davor. Jürgen blickte sie aus seinen tiefgrünen Augen an, die die Farbe des Mooses im Wald hatten und nun dunkel schimmerten. Sie konnte ihn nicht anblicken, seinen sehnsüchtigen Blick nicht erwidern. Feuer brannte in ihr und sie durfte es noch nicht freilassen. Sie versuchte ihre Angst wegzuatmen, nicht an die Instrumente zu denken, die hier herumstanden. Den Gedankengenerator, den Extraktor und die vielen anderen Dinge, für die sie keine Namen hatte.
Jemand zog an der Kette und sie stolperte vorwärts, wurde auf einen Stuhl gedrückte und daran festgebunden. Dann wusste sie nichts mehr, denn jemand spritzte ihr eine unbekannte Substanz und sie schlief ein oder fiel in Bewusstlosigkeit, sie wusste es nicht.
Jürgen schaute erstarrt zu. Keinen Gedanken wollte er zu Ende denken, alle waren wirr und alles hatte etwas mit einem drohenden Ende zu tun. Einem unvorhersehbaren, verheerenden Aus für irgendjemanden. Er wollte nicht denken, dass es sein eigener Tod war oder der von Zoe oder Jack. Noch hatte so etwas wie Hoffnung in seinem Herzen Platz. Es fühlte sich richtig an, sich nicht geschlagen zu geben, der Liebe ihren Raum zu lassen und sich innerlich frei zu fühlen. ‚Ja fesselt man mich im finsteren Kerker, so sind doch das nur vergebliche Werke. Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei.’, dachte er, dann war Gerald in seinem Gehirn und zwang ihn zu schweigen. Doch Jürgen fühlte plötzlich die Flut steigen, eine Flut an Gedanken und Wut. Wut auf das System, Wut auf diese Menschen, die nicht wussten, was sie taten, sondern einzig ihrem gewiesenen Weg folgten. Er hatte nicht vor, sich zum Schweigen bringen zu lassen.
‚Nein! So geht das nicht Gerald. Du kannst mir den Mund verkleben, aber nicht meine Gedanken. Hör nur gut zu!’ Er funkelte Gerald aus kalten, grünen Augen an und Gerald trat zurück. Er hatte nicht bemerkt, dass er andere so stark war, oder so einen festen Willen besaß. Jürgen war ihm immer harmlos erschienen, eher blas und farblos, lenkbar, deshalb hatte er nicht gegen ihn als Verteidiger für Jack Einspruch erhoben. Und nun musste er eine Welle an Gedanken ertragen, die er nicht mehr abschirmen konnte, weil sie zu heftig waren, das Äquivalent eines Tsunamis in Gedankengestalt, rollte auf ihn zu, unaufhaltsam und brutal, alles mitreißend was ihnen im Weg war und zurück blieb nur die nackte Erde, der bloße Mensch, bar jeden Schutzes.
Der Mann vor ihm war gefesselt und geknebelt, hielt den Kopf gesenkt und wirkte demütig, doch sein Blick sprach anderes. Die Augen, diese Augen waren es, die Gerald durchbohrten und tief in seine Seele eindrangen, die Seele eines Folterers, eines gehorsamen Gefolgsmannes der Macht, der nichts hinterfragte, weil es seinem Fortkommen hinderlich war, zu viele Fragen zu stellen.
‚Was ziehst du für ein Vergnügen daraus, andere zu quälen? Ich weiß, wie es in den Internaten zugeht, wie der Nachwuchs gequält wird, bis er gebrochen ist und sich dem Willen des Stärkeren unterwirft. Ich weiß es, obwohl ich nicht darunter zu leiden hatte, denn ich hatte das Glück und wurde zuhause unterrichtet. Meine Erzeuger, meine Erzieher, denn das waren sie wirklich, gaben mir das Gefühl richtig zu sein. Deshalb kann ich auch heute vor dir stehen und dir trotzen. Ich bin! Sieh nur Gerald, ich bin! Und das obwohl du die Macht hast, mich zu foltern und mich zu töten. Du hast keine Fragen, die du aus mir herauspressen musst. Du hast nichts! Absolut Nichts! Du tust mir nur leid.’ Bei seinem letzten Gedanken hob Jürgen den Kopf und blickte Gerald direkt an. Der sah vor Zorn rot. Er wusste, dass Jürgen mit vielem recht hatte, das machte alles noch schlimmer und er hörte noch zusätzliches Gelächter, das nicht von Jürgen stammte. ‚Ich bin dein Tod’, sagte das Lachen und entfernte sich dann wieder. Auch Jürgen hatte es bemerkt und fühlte sich nun weiter ermutigt, sich nicht unterkriegen zu lassen. ‚Was hast du Zoe geben lassen?’, fragte er deshalb.
„Daran wird sie nicht sterben, diese kleine Schlampe“, erwiderte Gerald laut und drosch Jürgen die Faust ins Gesicht. „Hör endlich auf!“, brüllte er dabei und wieder hatte er das unheimliche Lachen in den Ohren. Es war entsetzlich und je mehr der andere lachte, desto härter schlug er zu. „Hör auf!“, befahl er erneut.
Jürgen lief das Blut über das Gesicht, aber noch stand er aufrecht. Er war kleiner als Gerald und schmaler noch dazu gefesselt. Einzig der Wille ließ ihn stehen bleiben und die Hiebe ertragen. ‚Ist das alles, was du kannst? Das nenne ich armselig’, höhnte er in Gedanken und kämpfte dabei um jeden Atemzug, forderte das Letzte von seinem Körper, während er immer wieder ein Auge auf Zoe hielt. Sie atmete noch, war aber nach wie vor ohne Bewusstsein. Die Drogen, die sie ihr verabreicht hatten, mussten ziemlich stark gewesen sein. So war es an Jürgen allein, gegen Gerald anzugehen.
‚Du hast wohl gedacht, dass du gegen mich leichtes Spiel hast’, spottete er weiter. ‚Ja, Gerald, ich komme harmlos daher, aber unter dem Deckmantel bin ich stärker als ich aussehe.’
„Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal machen.“ Gerald war jetzt ganz Gift und Galle. Er nahm eine der Spritzen und rammte sie Jürgen in den linken Oberarm, drückte ab und sah zu, wie der junge Mann in sich zusammenfiel, gehalten nur von der straff gespannten Leine, die an einem Halsband befestigt war. „Schafft mir beide aus den Augen!“, brüllte er nun die Wachen an. Die Rache war nicht so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Keiner der beiden hatte auch nur ein Quäntchen nachgeben wollen. Bei Zoe Mitterer hatte er Vorsorge getroffen, aber Jürgen hatte er in seiner Rechnung vernachlässigt.
„Schafft sie in ihre Zellen und vergesst was hier passiert ist“, befahl er weiter. Dann drehte er sich um und kehrte seiner Niederlage den Rücken. Noch nie, hatte ein Gefangener solche Gedanken ihm gegenüber gehabt. ‚Pah, ich tue ihm leid, so ein Blödsinn. Der sollte sich lieber selbst leid tun, wenn er hingerichtet wird’, dachte er zornig, als er in seinem Büro ankam. Seine Wut wurde durch die Anwesenheit von Irina noch angestachelt und er fuhr sie brutal an: „Was willst du hier? Du bist nicht angemeldet!“
Irina war eigentlich nur gekommen, um die Zeit tot zu schlagen. Sie wollte nicht in ihre Wohnung gehen. Der einzige, zu dem sie gehen konnte, war Gerald, das sagte sie ihm jetzt und wusste nicht, warum sie plötzlich so ehrlich war.
„Entschuldige, ich hatte einen schweren Tag“, rechtfertigte er sich. „Nimm Platz. Hast du auch diese üblen Träume?“ Als sie nur nickte, wusste er Bescheid. „Ich bin froh, wenn das vorbei ist. Es muss jetzt enden. Wann kommt der General endlich?“
Irina blickte ihn erschrocken an, weil er so harsch sprach und genau ihre Gedanken wiedergab, deshalb sagte sie, wieder ungewohnt ehrlich: „Morgen am späten Nachmittag. Er will dann sofort, dass MacGregor zu ihm gebracht wird. Er hat wohl noch etwas Besonderes mit ihm vor, ehe er ihm den Kopf abschlagen lässt. Na, ich bin froh, wenn das alles vorbei ist. Es muss wieder Ruhe einkehren. Es war etwas viel in den letzten Monaten.“
„Du hast recht, Irina. Benachrichtige mich rechtzeitig, wenn ich diesen verdammten Hundesohn endlich abliefern kann. Ich mag ihn nicht mehr hierbehalten. Der liegt unten in seiner Zelle, sieht aus als wäre er bereits mehr tot als lebendig und lächelt die ganze Zeit über. Am liebsten würde ich ihm dieses Grinsen aus dem Gesicht schneiden.“ Zornig schlug er mit der Faust auf den Tisch. Dann rief er: „Thomson! Koffein aber zackig, für zwei Leute!“
„Eigentlich habe ich heute schon genug gehabt, aber ich mag nicht schlafen“, meinte sie, nachdem Gerald seinen Auftrag gebrüllt hatte. Sie schwiegen, bis die Getränke dampfend vor ihnen standen.
„Magst du ihn sehen?“, fragte er nun und hob die Augenbrauen. Wider Erwarten, stand sie auf und kam um den Tisch herum zu den Monitoren. Also drückte er einen Knopf und ein vorhin noch schwarzer Bildschirm zeigte Jack im Käfig. Er lag langgestreckt auf der Pritsche, bekleidet nur mit einer dünnen Hose und dem Stützkorsett. Das nachgewachsene Haar wallte um seinen Kopf und bedeckte halb die Augen, die weit geöffnet ins Leere zu starren schienen. Das Grün der Iris schien gefährlich zu funkeln und goldene Blitze zu sprühen. Aber das war bestimmt nur Einbildung, hoffte Irina. Um seinen Mund zuckte ein erbarmungsloses Lächeln. Es war eben jenes Lächeln, das er als Leiter des Inlandschutzes einem Delinquenten zugeworfen hatte, ehe er an die Befragung ging. Niemand war ihm entkommen und er hatte eine Hand dafür gehabt, die wirklich schuldigen schon im Vorfeld zu finden. Ohne langes Federlesens wurden sie befragt, immer ohne Gewalteinwirkung, die Anwesenheit Jacks hatte genügt, um jedem die Wahrheit zu entlocken. Dann erst zog er vor Gericht und gewann die meisten seiner Fälle. Alle waren hieb- und stichfest und nicht einer der Mächtigen, die er anklagen ließ, ging auf freiem Fuß davon. Sicher, meistens gab es nur Geldstrafen, aber es war offensichtlich, dass Jack gegen die eigenen Leute vorging und sich nicht ins Handwerk pfuschen lassen wollte.
„Er sieht aus als wäre er bereits tot und grinst. Das verstehe ich nicht“, flüsterte Irina und schüttelte sich. „Was hat er vor? Funktionieren die Dämpfungsfelder?“
„Natürlich! Sie laufen auf höchster Stufe!“ Gerald war empört über diese Frage. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Alle Befehle waren genauestens befolgt worden.
Am nächsten Tag traf der General ein. Noch war seine Ankunft geheim. Er wollte sich vor seinem Triumphzug noch mit Jack befassen. Das schönste Haus war für ihn requiriert und auf seine Bedürfnisse abgestimmt worden. Das Erdgeschoss war mit Soldaten besetzt, die zu seinem Schutz hier waren. Hier befanden sich auch ein Konferenzraum und eine Übertragungseinheit für seine erste Rede, die er in wenigen Stunden zu halten gedachte. Aber vorher wollte er sich noch diesen MacGregor vornehmen, der ihm sein ganzes Leben lang ein Dorn im Auge gewesen war, der dafür gesorgt hatte, dass sein Leben nicht annähernd so verlaufen war, wie er es sich verdient gehabt hätte. Erst nachdem er sich in der Familienhierarchie durchgesetzt hatte, hatte sein kometenhafter Aufstieg begonnen. Nach und nach hatte er alle ausgeschaltet, die ihm im Weg waren und jetzt war er der unumstrittene Herrscher, nicht nur Eumerias sondern der ganzen Welt.
Dann besuchte er sie. Einen nach dem anderen. Niemand sollte ihm entkommen. Das dunkle Herz schlug kräftig in seiner Geisterbrust. Hämmerte gedachtes Blut durch imaginäre Adern und loderte wie Feuer in ihm.
„Ihr könnt mich nicht besiegen“, flüsterte er ihnen ins Ohr. „Denn ich bin der Tod.“ Lachend verschwand er und ließ sie schweißgebadet zurück.
Die Vorbereitungen für die Ankunft des Generals liefen auf Hochtouren. Irina Williams war den ganzen Tag über emsig. Bis tief in die Nacht hinein war sie am Arbeiten, nur um nicht nachhause gehen zu müssen. Sie wollte nicht an Schlaf denken, denn seit einigen Nächten kam er im Traum zu ihr. Er! Wie konnte er es wagen! Eigentlich müsste er längst am Boden sein. Was ihn wieder aufgerichtet hatte, wusste sie nicht. Dieses Scheusal der Nacht! Grässlich war er anzusehen und das Bild verfolgte sie auch tagsüber. Fahrig wurde sie, ungeduldig und reizbar.
Aber die Vorkehrungen waren beinahe abgeschlossen. Es fehlten nur noch die Hauptakteure, dann stand dem Triumphzug der neuen Regierung nichts mehr im Weg. Sie hatte an alles gedacht. Das Militär sicherte sämtliche Zugänge, die Polizei musste Sonderschichten einlegen und alle Wohnungen räumen lassen, die sich in unmittelbarer Nähe des Platzes der Eumerischen Einheit befanden, wie der Zentralplatz umbenannt worden war. Viele Menschen wurden für den Einmarsch benötigt, denn nicht nur die Armee sollte zeigen, dass sie dem neuen Machthaber huldigte. Ganze Heerscharen waren angeheuert worden, um an dem Marsch teilzunehmen.
Am Platz war dann auch die Hinrichtungsstelle. Hier würden die gefangenen Terroristen endlich ihrem unvermeidlichen Ende entgegengehen. Dann würde sie zusehen, wie er einen Kopf kürzer gemacht wurde, denn das konnte auch er nicht überleben. Erst dann würde sie wieder ruhig schlafen können.
Sie seufzte zufrieden bei dieser Vorstellung und begann damit die letzten Handgriffe zu delegieren. Als alles zu ihrer Zufriedenheit geschehen war, kontrollierte sie ihre mentalen Barrieren und ging anschließend nachhause.
Jürgen und Zoe hatten es den Polizisten nicht allzu schwer gemacht und Spuren hinterlassen. Die Heimlichkeit hatte ausgedient und so waren sie rasch gefunden worden.
„Da haben wir die beiden also doch noch erwischt“, meinte einer der Polizisten.
„Wir haben euch erwartet“, entgegnete Jürgen hochmütiger als für die Situation angemessen war und erntete dafür einen Schlag mit dem Knüppelstiel in die Magengegend. Er krümmte sich und hätte ihn nicht Zoe gehalten, wäre er unter dem zweiten Schlag zusammengebrochen.
„Es ist nicht notwendig, uns zu misshandeln, wir kommen doch freiwillig mit“, versuchte sie die Polizisten zu beruhigen, doch die waren froh, endlich jemanden gefunden zu haben, an dem sie ihren Frust über die lange Untätigkeit auslassen konnten.
Zoe war versucht ihre Kräfte freizulassen, doch Jürgen schüttelte kaum merklich den Kopf. Es war zu früh für eine unüberlegte Heldentat. So ließ sie es bleiben und fügte sich der Gewalt der Polizisten.
Sie wurden in einem geschlossenen Wagen abtransportiert. Es dauerte Tage, bis sie in Sunflower waren. Tage, die sie ohne Wasser und Nahrung angebunden an die Bordwand verbringen mussten. Die Luft war stickig und verbraucht und es stank im Inneren. Nicht einmal für die Verrichtung der Notdurft durften sie aussteigen.
„Lass dich nicht unterkriegen, Liebes“, flüsterte er und fühlte selbst, dass er unter dieser Behandlung, zusammenbrechen zu drohte.
„Mit Pauken und Trompeten, haben wir gesagt. Nur die sind jetzt sehr leise“, erwiderte Zoe.
Als sie endlich ankamen, waren beide bewusstlos, denn die Luft war knapp geworden und der Flüssigkeitsmangel hatte seinen Tribut gezollt. Behandschuhte Hände zogen sie heraus und brachten sie sofort in getrennten Zellen unter. Dann wurde Gerald Hauser über das Eintreffen seiner Gefangenen benachrichtigt, der sich freudig erregt die Hände rieb. Schon seit dem Zusammentreffen im Gericht war sein Sinnen auf Rache gerichtet. Sie hatten ihn beide bloßgestellt. Nun war sie da, die Stunde der Vergeltung und er würde sie hinausziehen bis hart an die Schmerzgrenze. Erst dann würden sie zu ihrem letzten Bestimmungsort gebracht werden. Das war mit Irina Williams so abgemacht.
Jürgen erwachte zitternd. Er war nass und ihm war kalt. Jemand hatte ihn mit kaltem Wasser begossen. Frierend richtete er sich auf und musste feststellen, dass er sich in einem kleinen Käfig befand. Eine Hochsicherheitszelle. Aber er war nicht alleine. Ein Wächter stand nur einen Schritt von ihm entfernt, einen Eimer in der Hand und grinste breit. „Mitkommen“, befahl er jetzt streng. Jürgen erhob sich langsam und folgte dem Mann auf den Gang hinaus. Er wurde gefesselt, wie er es bereits bei Jack gesehen hatte und dann an einer Leine fortgeführt. Etwas weiter vor ihm, erkannte er Zoe, die ebenso gefesselt war wie er selbst.
Als er an einem weiteren Käfig vorbeigeführt wurde, bemerkte er noch einen Insassen. Rasch wandte er den Blick ab, er konnte ihn nicht ansehen, wirkte zu verändert. Die Explosion hatte soviel Schaden angerichtet, dass er noch immer nicht vollständig wiederhergestellt war.
Jetzt musste er sich um sich selbst kümmern und hoffen, das er die unnötigen Fragen aushalten würde können.
In einem nüchtern eingerichteten Büro wartete bereits Zoe. Jürgen wurde neben sie gestellt. Hinter jedem von ihnen stand ein Wachmann mit der Leine in der Hand und in der anderen, einen E-Schocker, der im Zweifelsfall töten konnte. Jürgen schickte Zoe einen liebevollen Gedanken, den sie ebenso erwiderte. An ihren Augen konnte er erkennen, dass sie den Tränen nahe war, seine sahen wahrscheinlich genauso aus. ‚Ich habe Jack gesehen’, teilte er ihr noch mit, dann trat Gerald Hauser ein. Er lächelte jovial und meinte: „So, da seid ihr also wieder, ihr Terroristenpack.“
„Wie lautet die Anklage?“, fragte Jürgen, er hatte sich seines Berufs besonnen und kehrte den Anwalt heraus.
„Ihr habt gegen eine ganze Reihe von Regeln verstoßen und ihr seid des Terrorismus verdächtig, also wird es für euch keine Verhandlung geben. Das Gesetz hat sich dahingehend geändert, dass beim Verdacht des Terrorismus, die Strafe ohne Gericht vollzogen wird.“ Gerald wandte sich an einen Wachmann und sagte: „Kleben Sie bitte beiden den Mund zu. Ich will vorläufig nichts von ihnen hören und dann ab in den Verhörraum.“
Rücksichtslos wurden sie an den Leinen hinausgezogen und erneut hinab in die Gewölbe getrieben.
Trotz, ihrer Angst war Zoe froh, dass sie Jürgen sehen konnte. Sie wusste, dass sie beide in den nächsten Tagen viel Qual erwartete und am Ende der Tod. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass Aufgeben jetzt das Schlechteste wäre.
Da erreichte sie ein Gedanken, eine vage Idee und noch bevor sie danach fassen konnte, war sie wieder weg. Zurück blieb nur die Erinnerung an ein Bild, das sie verwirrte und nicht sofort erkannte. ‚Wir sind weder Verräter noch Terroristen’, dachte sie. ‚Wir wollen doch nur unseren Weg gehen und nicht diktieren lassen, wie wir zu sein haben. Jack! Wo liegt der Fehler? Du weißt es!’ Wie als Antwort fühlte sie eine leichte Berührung, aber es war nur ein Gedankenhauch, eine ferne Erinnerung, die sie streifte und einen zarten Kuss auf ihre Stirn hauchte. ‚Ich bin bei dir’, schien er zu sagen. ‚Haltet aus. Es dauert nicht mehr lange. Das Ende ist nahe.’
‚Welches Ende? Welches, Jack? Sag es doch!’ Ihre Gedanken wurden verzweifelter als sie in dem Verhörraum ankamen. Das einzige das sie fühlte, war eine zarte Umarmung im Geist, dann war es weg und sie fühlte nur eine Mauer aus Granit, die sich von ihr entfernte. Konnte das beides Jack gewesen sein, diese weiche Hand und dieser Fels, fragte sie sich. Ihre Gedanken kreisten um das „Wann“ und „Wie“. Sie wollte die Gegenstände in diesem Zimmer nicht näher betrachten. Es war schlimm genug, als sie es in Jacks Albträumen gesehen hatte, jetzt live war eine andere Sache. Sie verschloss die Augen davor, nahm nur noch ihre eigene Angst wahr und die Panik, die in Jürgen hochzusteigen begann. Dann verschloss sie sich auch davor. Jürgen blickte sie aus seinen tiefgrünen Augen an, die die Farbe des Mooses im Wald hatten und nun dunkel schimmerten. Sie konnte ihn nicht anblicken, seinen sehnsüchtigen Blick nicht erwidern. Feuer brannte in ihr und sie durfte es noch nicht freilassen. Sie versuchte ihre Angst wegzuatmen, nicht an die Instrumente zu denken, die hier herumstanden. Den Gedankengenerator, den Extraktor und die vielen anderen Dinge, für die sie keine Namen hatte.
Jemand zog an der Kette und sie stolperte vorwärts, wurde auf einen Stuhl gedrückte und daran festgebunden. Dann wusste sie nichts mehr, denn jemand spritzte ihr eine unbekannte Substanz und sie schlief ein oder fiel in Bewusstlosigkeit, sie wusste es nicht.
Jürgen schaute erstarrt zu. Keinen Gedanken wollte er zu Ende denken, alle waren wirr und alles hatte etwas mit einem drohenden Ende zu tun. Einem unvorhersehbaren, verheerenden Aus für irgendjemanden. Er wollte nicht denken, dass es sein eigener Tod war oder der von Zoe oder Jack. Noch hatte so etwas wie Hoffnung in seinem Herzen Platz. Es fühlte sich richtig an, sich nicht geschlagen zu geben, der Liebe ihren Raum zu lassen und sich innerlich frei zu fühlen. ‚Ja fesselt man mich im finsteren Kerker, so sind doch das nur vergebliche Werke. Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei.’, dachte er, dann war Gerald in seinem Gehirn und zwang ihn zu schweigen. Doch Jürgen fühlte plötzlich die Flut steigen, eine Flut an Gedanken und Wut. Wut auf das System, Wut auf diese Menschen, die nicht wussten, was sie taten, sondern einzig ihrem gewiesenen Weg folgten. Er hatte nicht vor, sich zum Schweigen bringen zu lassen.
‚Nein! So geht das nicht Gerald. Du kannst mir den Mund verkleben, aber nicht meine Gedanken. Hör nur gut zu!’ Er funkelte Gerald aus kalten, grünen Augen an und Gerald trat zurück. Er hatte nicht bemerkt, dass er andere so stark war, oder so einen festen Willen besaß. Jürgen war ihm immer harmlos erschienen, eher blas und farblos, lenkbar, deshalb hatte er nicht gegen ihn als Verteidiger für Jack Einspruch erhoben. Und nun musste er eine Welle an Gedanken ertragen, die er nicht mehr abschirmen konnte, weil sie zu heftig waren, das Äquivalent eines Tsunamis in Gedankengestalt, rollte auf ihn zu, unaufhaltsam und brutal, alles mitreißend was ihnen im Weg war und zurück blieb nur die nackte Erde, der bloße Mensch, bar jeden Schutzes.
Der Mann vor ihm war gefesselt und geknebelt, hielt den Kopf gesenkt und wirkte demütig, doch sein Blick sprach anderes. Die Augen, diese Augen waren es, die Gerald durchbohrten und tief in seine Seele eindrangen, die Seele eines Folterers, eines gehorsamen Gefolgsmannes der Macht, der nichts hinterfragte, weil es seinem Fortkommen hinderlich war, zu viele Fragen zu stellen.
‚Was ziehst du für ein Vergnügen daraus, andere zu quälen? Ich weiß, wie es in den Internaten zugeht, wie der Nachwuchs gequält wird, bis er gebrochen ist und sich dem Willen des Stärkeren unterwirft. Ich weiß es, obwohl ich nicht darunter zu leiden hatte, denn ich hatte das Glück und wurde zuhause unterrichtet. Meine Erzeuger, meine Erzieher, denn das waren sie wirklich, gaben mir das Gefühl richtig zu sein. Deshalb kann ich auch heute vor dir stehen und dir trotzen. Ich bin! Sieh nur Gerald, ich bin! Und das obwohl du die Macht hast, mich zu foltern und mich zu töten. Du hast keine Fragen, die du aus mir herauspressen musst. Du hast nichts! Absolut Nichts! Du tust mir nur leid.’ Bei seinem letzten Gedanken hob Jürgen den Kopf und blickte Gerald direkt an. Der sah vor Zorn rot. Er wusste, dass Jürgen mit vielem recht hatte, das machte alles noch schlimmer und er hörte noch zusätzliches Gelächter, das nicht von Jürgen stammte. ‚Ich bin dein Tod’, sagte das Lachen und entfernte sich dann wieder. Auch Jürgen hatte es bemerkt und fühlte sich nun weiter ermutigt, sich nicht unterkriegen zu lassen. ‚Was hast du Zoe geben lassen?’, fragte er deshalb.
„Daran wird sie nicht sterben, diese kleine Schlampe“, erwiderte Gerald laut und drosch Jürgen die Faust ins Gesicht. „Hör endlich auf!“, brüllte er dabei und wieder hatte er das unheimliche Lachen in den Ohren. Es war entsetzlich und je mehr der andere lachte, desto härter schlug er zu. „Hör auf!“, befahl er erneut.
Jürgen lief das Blut über das Gesicht, aber noch stand er aufrecht. Er war kleiner als Gerald und schmaler noch dazu gefesselt. Einzig der Wille ließ ihn stehen bleiben und die Hiebe ertragen. ‚Ist das alles, was du kannst? Das nenne ich armselig’, höhnte er in Gedanken und kämpfte dabei um jeden Atemzug, forderte das Letzte von seinem Körper, während er immer wieder ein Auge auf Zoe hielt. Sie atmete noch, war aber nach wie vor ohne Bewusstsein. Die Drogen, die sie ihr verabreicht hatten, mussten ziemlich stark gewesen sein. So war es an Jürgen allein, gegen Gerald anzugehen.
‚Du hast wohl gedacht, dass du gegen mich leichtes Spiel hast’, spottete er weiter. ‚Ja, Gerald, ich komme harmlos daher, aber unter dem Deckmantel bin ich stärker als ich aussehe.’
„Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal machen.“ Gerald war jetzt ganz Gift und Galle. Er nahm eine der Spritzen und rammte sie Jürgen in den linken Oberarm, drückte ab und sah zu, wie der junge Mann in sich zusammenfiel, gehalten nur von der straff gespannten Leine, die an einem Halsband befestigt war. „Schafft mir beide aus den Augen!“, brüllte er nun die Wachen an. Die Rache war nicht so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Keiner der beiden hatte auch nur ein Quäntchen nachgeben wollen. Bei Zoe Mitterer hatte er Vorsorge getroffen, aber Jürgen hatte er in seiner Rechnung vernachlässigt.
„Schafft sie in ihre Zellen und vergesst was hier passiert ist“, befahl er weiter. Dann drehte er sich um und kehrte seiner Niederlage den Rücken. Noch nie, hatte ein Gefangener solche Gedanken ihm gegenüber gehabt. ‚Pah, ich tue ihm leid, so ein Blödsinn. Der sollte sich lieber selbst leid tun, wenn er hingerichtet wird’, dachte er zornig, als er in seinem Büro ankam. Seine Wut wurde durch die Anwesenheit von Irina noch angestachelt und er fuhr sie brutal an: „Was willst du hier? Du bist nicht angemeldet!“
Irina war eigentlich nur gekommen, um die Zeit tot zu schlagen. Sie wollte nicht in ihre Wohnung gehen. Der einzige, zu dem sie gehen konnte, war Gerald, das sagte sie ihm jetzt und wusste nicht, warum sie plötzlich so ehrlich war.
„Entschuldige, ich hatte einen schweren Tag“, rechtfertigte er sich. „Nimm Platz. Hast du auch diese üblen Träume?“ Als sie nur nickte, wusste er Bescheid. „Ich bin froh, wenn das vorbei ist. Es muss jetzt enden. Wann kommt der General endlich?“
Irina blickte ihn erschrocken an, weil er so harsch sprach und genau ihre Gedanken wiedergab, deshalb sagte sie, wieder ungewohnt ehrlich: „Morgen am späten Nachmittag. Er will dann sofort, dass MacGregor zu ihm gebracht wird. Er hat wohl noch etwas Besonderes mit ihm vor, ehe er ihm den Kopf abschlagen lässt. Na, ich bin froh, wenn das alles vorbei ist. Es muss wieder Ruhe einkehren. Es war etwas viel in den letzten Monaten.“
„Du hast recht, Irina. Benachrichtige mich rechtzeitig, wenn ich diesen verdammten Hundesohn endlich abliefern kann. Ich mag ihn nicht mehr hierbehalten. Der liegt unten in seiner Zelle, sieht aus als wäre er bereits mehr tot als lebendig und lächelt die ganze Zeit über. Am liebsten würde ich ihm dieses Grinsen aus dem Gesicht schneiden.“ Zornig schlug er mit der Faust auf den Tisch. Dann rief er: „Thomson! Koffein aber zackig, für zwei Leute!“
„Eigentlich habe ich heute schon genug gehabt, aber ich mag nicht schlafen“, meinte sie, nachdem Gerald seinen Auftrag gebrüllt hatte. Sie schwiegen, bis die Getränke dampfend vor ihnen standen.
„Magst du ihn sehen?“, fragte er nun und hob die Augenbrauen. Wider Erwarten, stand sie auf und kam um den Tisch herum zu den Monitoren. Also drückte er einen Knopf und ein vorhin noch schwarzer Bildschirm zeigte Jack im Käfig. Er lag langgestreckt auf der Pritsche, bekleidet nur mit einer dünnen Hose und dem Stützkorsett. Das nachgewachsene Haar wallte um seinen Kopf und bedeckte halb die Augen, die weit geöffnet ins Leere zu starren schienen. Das Grün der Iris schien gefährlich zu funkeln und goldene Blitze zu sprühen. Aber das war bestimmt nur Einbildung, hoffte Irina. Um seinen Mund zuckte ein erbarmungsloses Lächeln. Es war eben jenes Lächeln, das er als Leiter des Inlandschutzes einem Delinquenten zugeworfen hatte, ehe er an die Befragung ging. Niemand war ihm entkommen und er hatte eine Hand dafür gehabt, die wirklich schuldigen schon im Vorfeld zu finden. Ohne langes Federlesens wurden sie befragt, immer ohne Gewalteinwirkung, die Anwesenheit Jacks hatte genügt, um jedem die Wahrheit zu entlocken. Dann erst zog er vor Gericht und gewann die meisten seiner Fälle. Alle waren hieb- und stichfest und nicht einer der Mächtigen, die er anklagen ließ, ging auf freiem Fuß davon. Sicher, meistens gab es nur Geldstrafen, aber es war offensichtlich, dass Jack gegen die eigenen Leute vorging und sich nicht ins Handwerk pfuschen lassen wollte.
„Er sieht aus als wäre er bereits tot und grinst. Das verstehe ich nicht“, flüsterte Irina und schüttelte sich. „Was hat er vor? Funktionieren die Dämpfungsfelder?“
„Natürlich! Sie laufen auf höchster Stufe!“ Gerald war empört über diese Frage. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Alle Befehle waren genauestens befolgt worden.
Am nächsten Tag traf der General ein. Noch war seine Ankunft geheim. Er wollte sich vor seinem Triumphzug noch mit Jack befassen. Das schönste Haus war für ihn requiriert und auf seine Bedürfnisse abgestimmt worden. Das Erdgeschoss war mit Soldaten besetzt, die zu seinem Schutz hier waren. Hier befanden sich auch ein Konferenzraum und eine Übertragungseinheit für seine erste Rede, die er in wenigen Stunden zu halten gedachte. Aber vorher wollte er sich noch diesen MacGregor vornehmen, der ihm sein ganzes Leben lang ein Dorn im Auge gewesen war, der dafür gesorgt hatte, dass sein Leben nicht annähernd so verlaufen war, wie er es sich verdient gehabt hätte. Erst nachdem er sich in der Familienhierarchie durchgesetzt hatte, hatte sein kometenhafter Aufstieg begonnen. Nach und nach hatte er alle ausgeschaltet, die ihm im Weg waren und jetzt war er der unumstrittene Herrscher, nicht nur Eumerias sondern der ganzen Welt.