paradox
Er hatte es geschafft. Nicht ohne einen Hauch von Selbstgefälligkeit nahm er schwerfällig im Sessel Platz. Ja, er hatte eine Spitzenposition im Unternehmen! Gut – der Preis, den er dafür zahlte spürte er täglich, aber sein Ziel, einst in frühen Jugendjahren gesetzt, hatte er gradlinig und auch siegessicher erreicht. Er war fern seiner Ideale gerückt, hatte seine Ansprüche mehrmals anpassen müssen. Aber wenn die Gesellschaft in seinem Lebenskreis nun sei wie sie sei, musste er sich gefällig bewegen. Seine eigenen Ideale hätten ihn nicht so weit gebracht – große Ideale eines frühreifen Mannes. Niemand kann ihm angesichts dessen Verrat vorwerfen! Und er sich selbst schon gar nicht! Dann schaute er dem jungen Mädchen, das am anderen Ende des Tisches saß, ins Gesicht. Die Mittagshitze kroch schwül durch das Zimmer. Doch ihr Blick war klar und fesselnd und er spürte, wie er seinen Kopf für einen kurzen Augenblick senkte, so ertappt fühlte er sich von ihr. Sie lächelte.
Er wusste: In ihr schlummern neue Ideen. Bedrohliche Ideen. Sie hatte dieses Alter, in dem der Mensch Veränderung will. Wahrscheinlich war sie bereit, viel dafür herzugeben. Er darf sie nicht wachsen lassen an seiner Seite! Das würde er zu verhindern wissen!
Irgendwann nach Monaten fing er mit dem Kotzen und dem Furzen an. Aus ihm drangen verfaulte Gase in die Welt hinein und ihm war, angesichts seiner eigenen Situation, als symbolisierten diese seine längst überholten Ideen. Angstschweiß brach aus ihm heraus und verhinderte die Rückkehr des einstigen Selbstbewusstseins. Seine Finger wühlten vor lauter Verzweiflung in seinen Haaren, er schaute in den Spiegel und schrie sich selber an. Dann drehte er den Wasserhahn auf und schaufelte das kalte Nass zur Fratze, die er im Halbdunkeln wahrnahm. Seine Knie versagten und er rutschte weinend auf den Boden. Ja, dort - am Boden war er nun angekommen.
Wie nur konnte sie sich um ihn herumschleichen und langsam seine Position einnehmen? Wie nur gelang es ihr, aus seinen einstigen Idealen den Entwurf der Zukunft zu stricken? Ideale, von denen er glaubte, sie hätten keinen Platz in seiner Umgebung. Wie nur konnte es passieren, dass er so weit von sich rückte, seine jugendlichen Überzeugungen beiseite schob? Immer war er bereit gewesen zum Dienen. Immer hatte er getan, was von ihm verlangt wurde - auch, wenn er ganz anderer Meinung gewesen ist. Immer stand er im Dienste der Anderen. Und jetzt wendete sich das Blatt:
Mit einem tröstenden Blick und ihrer sanften Stimme legte sie ihm die Akten auf den Tisch „Bis Morgen bitte auf fünf Seiten zusammenfassen“. Du bist gut drin im Thema. Es wird Dich nur ein paar Überstunden kosten. Wieder lächelte sie jenes Lächeln, das ihn schon damals in die Knie zwang. Erneut senkte er seinen Kopf.
Er hatte abends einen Termin in der Wellness-Oase. Seit Wochen sein letzter Zufluchtsort. Hier fand sein verzweifelter Kampf gegen die Ohnmacht und die große Müdigkeit statt, die sich schleichend in seinem Körper ausgebreitet und dann in der letzten Zelle mit dem Kaliber einer Explosion zugeschlagen hatte. Er wird nicht hingehen können. Wie die Schlangenarme einer Medusa bohrte sie sich in sein Leben und nun auch noch in sein letztes Territorium.
Er starrte auf ihre Beine, zarte Waden in seidigen Strümpfen und flachen Schuhen. An dem Tag als er sie kennen lernte trug sie einen Hosenanzug.
Nach Mitternacht kam er nach Hause und schlief im Anzug auf dem Sofa ein. Seine innere Uhr weckte ihn automatisch. Er hatte sechs Stunden geschlafen. Sechs Stunden, die wie im Flug vorbei gegangen waren: Er fühlte sich nicht ausgeruht. Mühsam kochte er sich einen Kaffee, stellte das Morgenmagazin im Fernsehen an - das Licht schmerzte in seinen Augen.
Nach geraumer Zeit verlangte seine Blase geleert zu werden. Als der Druck unerträglich wurde und er auf dem Sofa hin- und herschubbelte, stand er auf und schlurfte langsam ins Badezimmer. Die Fußbodenheizung, die die Marmorfließen wärmte, versetzte ihm den letzten Stoß. Er schafft es gerade noch in die bodengleiche Dusche und ergoss seinen Strahl in den Designeranzug. Er drehte das warme Wasser auf und stand regungslos unter dem weichen Fluss des Rainshower-Kopfes.
Das Badezimmer war vor kurzem modernisiert worden. Die Fließen hatte er bei einem Italienurlaub zufällig gesehen und die Verschiffung in Auftrag gegeben. Er liebte südländische Eleganz. Er liebte auch das Temperament der südländischen Frauen, ihre feurigen Augen und die schwarzen Haare.
Sie rief zur Sondersitzung in einer Stunde. Sein Anrufbeantworter schallte ihm die Nachricht entgegen. Entkräftet machte er sich auf den Weg ins Büro. Die blonden Locken lagen auf ihren Schultern. Diese steckten in einem frühlingsgrünen Hosenanzug. Sie zitierte seine Ausführungen aus seiner Zusammenfassung vom gestrigen Abend und endete mit dem Satz, eine neue Ära habe zu beginnen, sollte das Unternehmen weiterhin auf dem Markt bestehen bleiben wollen. Derartige Ideen seien nicht zukunftsfähig.
Und plötzlich war es da. Es hatte seine Kehle verlassen und glitt über die Zunge und dann über seine Lippen. Dann stand es mitten im Raum und bebte stark nach. Er wusste nicht, wie es ihm gelungen war, dies nach Außen zu bringen. Gewöhnlich blieb es in seiner Kehle wohnen, ging in seinem Kopf spazieren und suchte sich dort einen Platz, an dem es sich einrichtete. Dieses Mal war es auf sonderbare Weise nach draußen gelangt: NEIN! Dieses Wort hatte die Stille gespalten und als er dies begriff, legte er nach: Seine Ideen seien nicht so einfach vom Tisch zu fegen. Sie wären ein Resultat jahrelanger Beobachtungen und an dem Unternehmen orientiert. Niemand, und schon gar nicht sie könnte dies ignorieren, wenn sie das Wohl der Firma im Auge habe.
Die Geschäftsführung eröffnete eine neue Projektgruppe. Mit einem tröstenden Blick und ihrer sanften Stimme versicherte sie ihm, ihre Ideen und seine Erfahrungen garantierten das Weiterkommen der Niederlassung.
Nicht ohne einen Hauch von Selbstgefälligkeit nahm er schwerfällig im Sessel Platz. Ja, er hatte eine Spitzenposition im Unternehmen! Gut – der Preis, den er dafür zahlte spürte er täglich, aber sein Ziel, einst in frühen Jugendjahren gesetzt, hatte er gradlinig und auch siegessicher erreicht. Er war fern seiner Ideale gerückt, hatte seine Ansprüche mehrmals anpassen müssen. Aber wenn die Gesellschaft in seinem Lebenskreis nun sei wie sie sei, musste er sich gefällig bewegen. Seine eigenen Ideale hätten ihn nicht so weit gebracht – große Ideale eines frühreifen Mannes. Niemand kann ihm angesichts dessen Verrat vorwerfen! Und er sich selbst schon gar nicht!