Frauen an die Macht!
Neulich saß ich mit einer berühmten Anthropologin zusammen – ich nenne sie hier mal Anne -, die bereits durch zwei, drei interessante Bücher hat aufhorchen lassen. An diesem Abend erzählte sie mir etwas Verstörendes und Aufwühlendes. Es war ihr gelungen, tiefe Sehnsüchte und fast verschüttete Erinnerungen in mir zu wecken, Erinnerungen an etwas, das es niemals gegeben hat, mich aber dennoch irgendwie an etwas Uraltes in mir erinnerte und tief berührte.
Sie hatte vor etwa zwei Jahren gemeinsam mit zwei Kollegen ein Volk entdeckt, das bisher von der Zivilisation nahezu unberührt geblieben war und nach seinen eigenen, uralten Traditionen leben konnte. Es war offenbar eine matriarchalische kleine Gesellschaft und Kultur, wie Anne schilderte, und die Menschen waren überaus glücklich – obwohl sie keinerlei Religion im eigentlichen Sinne hatten und „nur“ über eine für unsere Verhältnisse geringe Bildung sowie über keinerlei technischen Errungenschaften verfügten.
Anne wollte partout nicht verraten, wo dieses Volk lebt (irgendwo in Südamerika – das war das Einzige, was ich ihr entlocken konnte). Offenbar war es auch eines dieser eigentlich vergessenen Völker wie z. B. die Waitaha in Neuseeland, von denen auch bis vor kurzem noch angenommen worden war, dass sie schon lange nicht mehr existieren, die aber dennoch still, heimlich und leise auf einer Insel vor Neuseeland lebten und glücklich waren – bis zu ihrer überraschenden Wiederentdeckung. Um dieses Glück nicht zu gefährden, wolle sie auf keinen Fall erzählen, wo diese Menschen leben. Zu groß sei die Gefahr, dass christliche Missionare und alle möglichen um Profilierung bemühten Wissenschaftler dieses Volk in Scharen überfallen und das Glück zerstören.
Soweit ein paar knappe allgemeine Angaben.
Was mich am meisten faszinierte, berührte und verstörte, war Annes erstaunliche Schilderung der dortigen Frauen: Demnach leben diese Frauen eine freie und wilde Sexualität und lieben bzw. genießen in vollen Zügen die über das ganze Jahr verteilten Orgien. Aber sie sind alles andere als „Sexmaschinen“. Sie haben einfach nur kindliche und verspielte Freude an Sex und überlegten nicht lange hin und her, ob man sich diesen Genuss gönnen dürfe oder lieber doch nicht, ob sie anständig sein müssten oder nicht und was damit alles einhergehen könnte.
Auch in Partnerschaften geht es dort beim Sex nicht um Macht und all die albernen Spiele der Erwachsenen, sondern um pure Freude. Nicht die Frage ist wichtig, wann und wie oft Sex angebracht sein könnte oder nicht, ob der Partner auch schön brav war und Sex verdient habe. Es ist auch nicht wichtig, was als anständig oder sittsam gilt - sondern es geht nur darum, sich gegenseitig zu beschenken. Alles andere ist nebensächlich und hat nichts mit der Sexualität zu tun. Sex wird nicht mit der Beziehung verquickt und mit dem, was dort geschieht.
In einer Partnerschaft muss keiner, auch kein Mann, an sexuellem Notstand leiden, weil Frauen den Sex nicht rationieren, sondern selbst mögen. Wenn aus irgendwelchen Gründen mal eine Frau krank oder schwanger ist, darf er selbstverständlich trotzdem eine der Orgien besuchen und sich dort austoben. Das gilt, so erzählte Anne, natürlich auch andersrum, wenn ein Mann mal krank sei, dürfe seine Partnerin dennoch die üblichen Orgien besuchen.
Und so wird auch niemand unter Druck gesetzt oder bedrängt, und Männer sind nicht gierig und hastig und nur egoistisch auf ihre eigene Befriedigung bedacht, denn sie wussten ja, dass sie stets genügend Sex haben. Sie können ganz gelassen sein und müssen nicht jede nur denkbare Gelegenheit ergreifen, endlich mal wieder „ran zu dürfen“.
Für die Leidenschaft außerhalb einer Partnerschaft gibt es klar abgesteckte Grenzen und bestimmte Rituale und Feiern, eben die bereits erwähnten Orgien, während derer jeder seine entsprechenden Phantasien in geschütztem und legalem Rahmen offen, ehrlich und völlig frei ausleben darf.
Niemand muss heimlich fremdgehen. Wozu auch? Die so herrlich entspannenden, wohltuenden und vor allem auch kraftspendenden Seiten der Sexualität sind weit wichtiger als sämtliche Machtspielchen oder Anstandsregeln. Auch feministische Aufklärung brauchen die Frauen nicht, sie fühlen sich sowieso nicht unterdrückt, sie sind ohnehin kraftvoll und selbstbewusst. Sie wollen auch gar nicht wie Männer sein - im Gegenteil, sie sind viel lieber richtige Frauen! Und als diejenigen, die gebären und damit Leben schenken können, sind sie ohnehin die bestimmende Kraft in diesem Volk.
"Und die Kinder?", fragte ich neugierig
"Die sind in diesem Volk sozusagen Allgemeingut", antwortete Anne, "sie werden notfalls von allen gemeinsam betreut. Und ganz besonders sind dabei die Alten engagiert und haben somit eine wichtige Aufgabe."
Auffallend sei auch, dass dieses Volk sehr genau wisse, wie Kinder entstehen. Und besonders die Kinder, die bei einer der Orgien gezeugt würden, gälten als etwas Besonderes für ihre Eltern. Sie selbst, sagte Anne, habe damit anfangs so ihre Probleme gehabt, es aber auch mehr und mehr als selbstverständlich und nachvollziehbar erlebt, zumal die Rolle des Vaters als Erzeuger in diesem Volk eher nebensächlich sei.
"Schwer vorstellbar, nicht wahr", sagte ich kopfschüttelnd und zugleich nachdenklich.
"Und all die Frauen", so erzählte Anne hingerissen weiter, "sind keineswegs nur deshalb so, wie sie sind, um den Männern zu gefallen, sondern für sich selbst! Wenn das den Männern gefällt, auch gut. Dann tun sie es eben auch zur Freude ihrer Männer. Es ist ja nichts Schlechtes dabei, einem anderen Menschen Freude zu bereiten!"
Die heutigen Frauen hier in unserer Gesellschaft, so meinte Anne, haben leider viel zu häufig damit Probleme, ihren Männern einfach nur Freude zu bereiten, vor allem in der Sexualität. Und sie meinte in unserem Gespräch:
"Warum kriegen so viele von uns Frauen sofort Probleme mit sich selbst, wenn wir unseren Männern einfach mal nur eine sexuelle Freude bereiten - wenn wir sie doch angeblich lieben? Wir kriegen ja manchmal sogar Schwierigkeiten, wenn wir einfach Lust auf unseren Partner haben. Dann überlegen wir, ob es jetzt angebracht wäre oder wir nicht lieber darauf verzichten sollten! Oder wir denken darüber nach, was wohl unsere Freundinnen davon halten, wenn wir es nun schon seit sieben Tagen Nacht für Nacht mit unserem Mann treiben und das auch noch richtig geil finden!"
Manchmal, so schilderte Anne ihre Eindrücke, verzichten Frauen hier bei uns dann sogar lieber auf das, was ihnen Spaß machen und gut tun würde, nur um nicht vor sich selbst oder vor anderen als abhängig, als geiles Luder oder gar als sexsüchtig dazustehen. Oder sie tun es, stehen aber nicht wirklich frei dazu und verheimlichen es, sind dabei verspannt, verklemmt und voller Hemmungen, vor allem voller Barrikaden im Kopf. Und so machen sie es sich selbst und ihren Partnern unnötig schwer. Bei diesem Volk in Südamerika sei das alles gar kein Thema, es sei alles ganz „easy“ und locker. Und unglaublich beeindruckend. Sie werde auf jeden Fall noch in diesem Jahr dorthin zurückkehren ...
„Von solchen Frauen können Männer heutzutage nur träumen“, sagte ich verträumt.
Anne seufzte. „Ja, wir Frauen wohl auch“, antwortete sie. "Was glaubst du, warum ich nochmal dorthin muss?"
Und seitdem geht mir diese Schilderung und vor allem der letzte Satz von Anne nicht mehr aus dem Sinn …
(Der Antaghar)