Steine auf dein Grab
© Nisham 2009Hier bin ich wieder. Seit fast vierzig Jahren bin ich immer wieder hierher gekommen. Nein, ich habe es nicht alle Jahre geschafft an eben diesem Tag hier zu sein. Nur manchmal ist es mir gelungen. Nur manchmal habe ich die Zeit gefunden. Nur manchmal habe ich mir die Zeit genommen.
Früher war es einfacher. Mit dem Auto hin. Steine hatte ich immer wieder gesammelt. Im Kofferraum gelagert. Jetzt ist es viel schwieriger. Kein öffentliches Verkehrsmittel kommt hier vorbei. Und mit dem Taxi mag ich nicht herfahren. Also geh ich zu Fuß. Immer diese gleiche Strecke.
Deine letzte Strecke. Die Straße , auf der du deine letzten Minuten, deine letzten Sekunden verbracht hast. Ohne es zu wissen.
Und hier ist die Kurve. Nein, viel hat sich nicht geändert in all den Jahren. Den Straßenbelag haben sie sicher mal erneuert. Aber die Strasse ist nicht verbreitert worden. Wozu denn auch? Sie führte ja ins Nirgendwo – oder fast.
Und du warst damals in Eile. Hast dich sicher auf unser Treffen gefreut. Warst aufgeregt. Angespannt. Voller Gedanken. Voller Vorfreude. Wahrscheinlich deshalb auch ein wenig unkonzentriert. Du kanntest ja diese Strasse. Oft warst du da schon gefahren. Kanntest die Kurven. Zähltest sie. Verkehr gab es ja kaum. Auch heute fahren hier nur wenige Autos vorbei. Mehr Motorräder, weil die Strecke so schön zu fahren ist, kurvenreich auch wenn sie ins Nirgendwo führt.
Für uns führte diese Strasse in ein kleines Paradies.
Nun steh ich da. Am Kurvenrand. Nein, der Baum steht nicht mehr. Den haben sie bald mal gefällt. Aber ein neuer Baum wächst nicht weit davon. Und neben diesem Baum ist dein Grab. Nein, nicht dein wirkliches Grab. Das Grab, das ich mir für dich ausgedacht, ausgesucht habe. Fernab von einem Friedhof. Weil ich Friedhöfe nicht leiden kann.
Du bist hier gestorben. Hier in dieser Kurve warst du zu schnell. Zu unaufmerksam. Hast die Kurve nicht mehr gekriegt in deinem Mini. Bist in den Baum gerast. Warst auf der Stelle tot.
Ich war schon oben. In unserem Paradies. Habe den Aufprall gehört. Mir zuerst nichts dabei gedacht. Erst nach einer Weile bin ich unruhig geworden. Bin in mein Auto gestiegen. Die Strasse herunter gefahren. Kam gleichzeitig an, wie die Polizei. Ein Autofahrer muss die von einer Telefonzelle benachrichtigt haben. Da war nichts mehr zu machen.
In dem Augenblick bin ich innerlich zerbrochen. Äußerlich habe ich mich gehalten. War stark. Kontrolliert. Hilfsbereit. Der Polizei habe ich nur wenig erzählt.
Nun bin ich hier. In meiner Tasche einige Handvoll Steine. Nur noch kleinere. Ich geh auf den Baum zu. Knie mich neben den Baum. Neben den Steinhaufen, den ich im Laufe der Jahre hergetragen habe. Von weit her. Einige kommen aus aller Welt, andere hier aus der Gegend. Ja, dieser Steinhaufen – für mich dein Grab. Das Symbol der Erinnerung. Langsam, behutsam lege ich die Steine zu dem Haufen. Steine auf dein Grab.
Denke an frühere Zeiten. Denke an schöne Zeiten. Denke an aufregende Zeiten. Denke, wie kurz das alles doch war. Denke… Nein, ich lasse das Denken. Es macht keinen Sinn zu denken, was hätte sein können, wenn es anders gekommen wäre. In Gedanken bist du immer wieder bei mir. Und ich lege Steine auf dein Grab, um dich nicht zu vergessen.