Loslassen und leben
„Ich habe Angst. Ich will nicht, dass du gehst. Nicht dorthin, nicht allein….“ und blicke dabei in ihre müden Augen. Sie versucht mich aufzumuntern und mit einem Glitzern in ihren hellblauen Augen, das ich so sehr liebe, antwortet sie lächelnd: „Hey, du weißt doch, ich bin ein braves und gehorsames Mädchen. Wenn ich gerufen werde, muss ich gehen. Manchmal geht es eben nicht anders. Aber das weißt du doch auch.“ Ihre kühle Hand streicht über mein Gesicht, schiebt vorsichtig eine Haarsträhne über meine Stirn zurück. Ich spüre, wie schwach sie ist, doch noch mehr spüre ich meine Feigheit, dass ich nicht loslassen kann. Ohne sie kann ich es mir einfach nicht vorstellen. Ihr Lachen nicht zu hören, ihren Mund nicht mehr küssen zu können, ihren weichen warmen Körper nicht an meinem zu spüren. Oh wie egoistisch fühle ich mich in diesem Moment. Ich schaue sie an, wie verzweifelt sie versucht, mich aufzubauen. Damit ich nicht in meiner Traurigkeit versinke.
„Du weißt doch, ich lass mich nicht unterkriegen. Das schafft niemand.“
Ich muss ungewollt grinsen, als ich ihren aufmüpfigen Gesichtsausdruck dabei sehe. Mir fallen sofort die unmöglichsten Situationen ein, in denen sie diesen Ausdruck aufsetzte. Schmollend, mit verschränkten Armen vor mir stehend, wenn es darum ging, dass sie ihren Willen durchsetzen konnte. So klein wie sie ist und doch so ein eiserner Dickkopf. Immer hat sie bekommen was sie wollte. Wieso mache ich mir grade jetzt solche Gedanken?
„Naja, eben deshalb, weil du ganz alleine gehst.“ antworte ich eher für mich selbst. Ich spüre wie sich mein Magen verknotet, mein Herz verkrampft, bei dieser Vorstellung.
„Ja ich weiß. Doch diesmal musst du mich wirklich allein gehen lassen. Du wirst später nachkommen. Und versprich mir, dass du dir Zeit lässt. Dass du nichts überstürzt, dass du hier erst alles erledigst, klärst und dann, wenn die Zeit reif ist, wirst du kommen. Schwör es mir!“
Ich erkenne die Ernsthaftigkeit ihres Wunsches. Doch schaffe ich es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Drehe meinen Kopf zur Seite, schäme mich für diese Schwäche.
„Schau mich an und schwör es!“ ihre Stimme wird kräftiger und ihre Finger legen sich unter mein Kinn, drehen mein Gesicht in ihre Richtung. Tränen füllen meine Augen, sehe sie nur noch verschwommen. Meine Lippen beginnen zu brennen, Schweiß bricht mir aus. Widerstand regt sich und ich kann ihrem Wunsch nicht entsprechen.
„Ich schaffe es nicht, ich kann es dir nicht versprechen. Ich habe schon jetzt solche Sehnsucht nach dir, wie soll ich es denn ohne dich nur aushalten“ weine ich jetzt hemmungslos und lege meinen Kopf auf ihren Bauch. Ihre flache Atmung hebt mich sanft auf und ab, ihre Hand streichelt mein Haar. Ich lasse meine Tränen laufen, spüre, wie sich der Knoten in meinem Bauch langsam auflöst. Ich werde genau dies unendlich vermissen. Ihr Herz pocht sanft gegen mein Ohr, so friedlich.
„Glaub mir, du wirst es aushalten. Das, was uns beide verbindet, überwindet alle Grenzen. Weder Zeit noch Raum kann das, was zwischen uns ist, zerstören. Du wirst mich immer fühlen. Ich werde nie weg sein. Nur eben nicht erreichbar auf eine Art.“
Der Atem, der diese Worte begleitete, rauschte durch ihre Lungen und schon ist wieder nur das gleichmäßige Atmen zu hören. Unser beider Wärme verbindet sich an meiner Schläfe und ich kann sie spüren, unsere Verbundenheit.
„Ich habe dennoch Angst, dich allein zu lassen. Eben genau deshalb. Weil ich dich immer auch auf diese Art spüren will – an mir, neben mir, ich will dich riechen können, mit dir reden und lachen.“ Stoße ich heiser hervor.
„Ich möchte es auch so sehr. Doch müssen wir jetzt eben eine andere Ebene für uns erreichen. Du hast mir so viel in meinem Leben geben. Jeder einzelne Tag wird in deiner Erinnerung weiterleben, nichts war umsonst. Hast mir gezeigt wer ich wirklich bin, mich befreit aus all meinen Ängsten und Zwängen, hast mich spüren lassen, wie gut es sich anfühlt, wahrgenommen zu werden, als die Frau, die ich bin. Hast mich stark gemacht und nun will ich dir ein wenig davon zurückgeben. Ich werde nie weit weg sein von dir, einfach nur um eine Ecke.“
„Ja, und ich werde nie um diese Ecke herumgehen können, um dich erreichen zu können. Es scheint so endlos lange zu dauern…“
„Nein, nur eben so lange wie es braucht. Wir müssen uns mit der Unabänderlichkeit auseinandersetzen. Du wirst etwas finden, das dir die Zeit bis dahin versüßt. Ich weiß es ganz genau.“
Mit Nachdruck haucht sie mir diese Worte ins Ohr. Ich hebe erschreckt meinen Kopf an, als ihr Körper von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wird. Ein kurzes Aufflackern von Panik wirft einen Schatten über ihre Augen, dann hat sie sich wieder im Griff und lächelt: „Heee, und weißt Du was, ich werde solange mit dem Teufel Tango tanzen.“
Ich spüre wie sich meine Rückenhaare aufrichten, ein eiskalter Schauer mich überzieht, als ich weinend mit erstickter Stimme erwidere: „Du kannst doch gar nicht tanzen…“
Leise haucht sie: „Du kannst sicher sein, er wird es mir hundertprozentig beibringen!“
„Oh ja, das wird er. Nur du bist dazu im Stande….“ Flüstere ich und breche endgültig in Tränen aus, als ihr Blick bricht.
Ihr letztes Lächeln für immer, ihre auf mich gerichteten Augen, bis zum Schluss, all ihr Fühlen galt nur mir. Seit unserem ersten Tag an, seit dem ich sie erleben durfte.
Ich verabschiede mich, indem ich mit zitternden Fingern und weinend wie ein Kind ihre Augen schließe, sie endlich gehen lasse ins Ungewisse – dorthin wohin jeder von uns alleine gehen muss.
Hier ist das Land der Lebenden, dort das Land der Toten. Die Brücke dazwischen ist die Liebe.