Das Liebeskunstwerk
eine weitere liebestheoretische Überlegung - diesmal nicht ganz so "trocken" wie die letzte! Immer ist man nicht nur Akteur, sondern auch Beobachter und Kommentator der eigenen Geschichte. Das innerer Selbstgespräch, in dem man wahrnimmt, wertet und entsprechend archiviert, reißt nicht ab.
Patrizia war verliebt. Mit ihren dreiundvierzig Jahren keineswegs zum ersten Mal, und, wie sie nach leidvoller Erfahrung und mit resignierter Erkenntnis sagen musste, wohl auch nicht zum letzten Mal. Deswegen wollte sie diese Zeit sehr bewusst genießen und so intensiv wie möglich erleben. Sie wollte ihre Gefühle nicht nur zulassen und von ihnen getragen werden, sondern auch mit Verstand betrachten.
Wenn schon die Liebe nichts Neues war, wenn ihre Gefühle sich mit dem neuen Partner auch nicht anders darstellten als bei den Männern vorher, so konnte sie vielleicht ihre Wahrnehmung schärfen und an manchen Punkten besser agieren und reagieren.
Mehr als bei ihren vorherigen war ihre jetzige Beziehung getragen von Worten. Denn Paul lebte und arbeitete in einer anderen Stadt, mehr als zwei Autostunden von ihr entfernt. Sie hatten sich bei einer Fortbildungsmaßnahme ihrer Firmen kennengelernt. Ihre anspruchsvollen Jobs ließen ihnen nur Treffen am Wochenende zu, und selbst das nicht ohne Ausnahme.
Also fand ihre Liebeskommunikation zu einem hohen Maß in Telefonaten, mails und sms-Botschaften statt. Erfreulicherweise waren sie beide fähig, ihren Gefühle und Gedanken in Worten Ausdruck zu geben. Und je mehr sie sich darin übten, umso besser wurden sie darin.
Sie begrüßten sich und den neuen Tag mit liebevollen sms, in denen sie sich frohes Aufstehen und einen erfolgreichen Tag wünschten. Manchmal blieb auch noch Zeit für ein kurzes Telefonat, das Hören ihrer Stimmen, bevor der Job sie in Anspruch nahm, und der Tageslauf sie in eine andere Welt trug.
Und dennoch war es keine Lüge, wenn sie sich am Abend sagten oder schrieben, dass sie den ganzen Tag aneinander gedacht hatten. Denn unterschwellig lebten und arbeiteten sie im ständigen Gefühl der Nähe des anderen – auch wenn es nur eine un(ter)bewusste war. Diese wohlige Grundlage machte sie stark und versorgte sie mit Energie.
Am Abend führten sie lange Telefongespräche oder schrieben sich viele mails, hin und her, oft bis tief in die Nacht. Sie schufen eine Welt füreinander, eine Welt aus Worten, die niemand sonst las oder auch nur wahrnahm.
Sie schrieben einen großen Roman mit zwingendem Handlungsstrang, erzählt mit exquisiter Wortwahl und perlenden Sätzen, und füllten Seite um Seite reich an Metaphern und feinen Gedankengängen.
Es war wie ein Gemälde von unergründlicher Tiefe, zahllosen Motiven und überbordender Ornamentik, in der sie schwelgten.
Sie fühlten sich wie eine Sinfonie mit ergreifenden Harmonien, überraschenden Zwischentönen, atemberaubenden Tempi und feinen Tonkaskaden.
Vor ihnen taten sich Landschaften von rührender Schönheit auf, in der jeder Stein, jedes Gewächs, jedes Wasser und der weite Horizont von der Unendlichkeit der Liebe kündete.
So sahen sie sich und genossen jeden Bruchteil des Augenblicks. Immer mehr Varianten des Temas fielen ihnen ein, immer neue Kapitel, weitere Farbtupfer, entzückende Details, noch nicht begangene Wege, die auf sie warteten.
Manchmal mussten sie beide lachen, über den Überschwang und die unzeitgemäßen Romantik, mit der sie einander begegneten. Waren sie in ihrem Berufsalltag sachlich, vernünftig und realistisch, in der Empfindung und Darstellung ihrer Liebe waren sie es keineswegs. Sie hassten leere Geschwätzigkeit und waren geübt, alles schnell auf den Punkt zu bringen. Doch miteinander gab kein Wort zuviel, keine Ausschmückung schien übertrieben.
Was sie da geschehen ließen, wie sie diese Liebe steigerten und wachsen ließen, war ein Kunststück – ihr gemeinsames Werk.
Sie waren das Ganze und zugleich die Bestandteile. Einzigartig und unvergänglich, gleichsam aus der Zeit gehoben, wurde aus ihren singulären Begegnungen ein größeres Etwas.
Patrizia versuchte, diese Vorgänge wahrzunehmen und zu analysieren. Dabei verlor die Sache keineswegs an Reiz – im Gegenteil, sie genoss die Fähigkeit, Gefühle nicht nur passiv zu empfinden, sondern sie aktiv zu gestalten. Und die Sehnsucht nach Paul, dem realen Paul in ihren Armen, wurde immer gedämpft von dem Wissen, wie kostbar diese Wortwelt war, die ihre räumliche Entfernung bewirkte. Hätte sie abwägen, bewerten sollen, was ihr mehr bedeutete, hätte sie nicht sagen können, welcher Begegnungsart mit ihm, welcher Liebesform sie den Vorzug gab. Denn sie wusste: würden sie zusammen leben, würde sich dieser Zauber schnell verflüchtigen.
Das hatte sie oft genug erlebt: die Wortlosigkeit, das formlose Einerlei, das sich aus zu viel Alltäglichkeit ergab. Sie wusste, dass die Liebe sich aus Sehnsucht nährte, und dass Träume nur Bestand hatten, solange sie sich nicht erfüllten.
Sie hatten eine Balance aus Traum und Realität gefunden, und Patrizia wollte sie solange wie möglich halten.
©tangocleo 2010