Kapitel 3: Von Fallstricken, Trollen und Elfen
Die Hexen beschlossen, eine Marschpause einzulegen und Camelia nahm sich vor, diesen Herrn Sylvenstein etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Also saß man bald im Windschatten einiger Felsen um ein prasselndes Feuer, trank Kümmeltee und aß leicht zerknautschte Gurkensandwiches, die Griselda aus ihrer schier unerschöpflichen Tasche hervorgekramt hatte. Camelia zog die Nase kraus, verkniff sich aber einen Kommentar, da sie hungrig war.
Sylvin stellte viele Fragen und tat das sehr geschickt. Griselda war von seinen blauen Augen so angetan, dass sie immer weiter drauf los plauderte. Gerade wollte sie von dem Glubschi in der Schatulle anfangen, da begriff Camelia endlich was los war und sie unterbrach die Freundin brüsk. „So, das ist genug der Familiengeschichte, Herr Sylvenstein. Kannst du uns helfen? Und kurz jetzt: Ja oder Nein.“
Doch Sylvin war nicht von der Art, sich kurz zu fassen. Er rieb sich die Nase, dann presste er die dürren Finger in einer theatralischen Geste aneinander, die Camelia ein gelangweiltes Schnauben entlockte, und sagte endlich: „Ich könnte euch helfen, Frau Zuckerbrot, wenn ich dafür eine Gegenleistung bekomme. Ihr wisst ja, umsonst ist der Tod und der kostet das Leben. Ich weiß, der Spruch ist nicht ganz taufrisch, aber das seid ihr ja auch nicht.“ Er zwinkerte einige Male, was verwirrend und völlig unangemessen wirkte und sprach dann weiter: „Ich muss nämlich auch in diese Richtung, habe dort noch einiges zu erledigen, wobei ich eventuell solch sprachgewandte Hilfe wie Euch gebrauchen könnte.“ Sylvin lächelte, wie er meinte sein charmantestes Lächeln, wobei er Camelia keine Sekunde lang täuschen konnte. Dennoch ging sie auf sein Spiel ein. Er war eine Alternative, hier etwas schneller vorwärts zu kommen. Camelia hatte diese Einöde schon immer gehasst. Sie warf einen kurzen Blick auf Griseldis, die nervös und schuldbewusst auf der Unterlippe kaute. Das mit dem Auge wollte sie wirklich nicht ausplaudern.
So waren sie nun wieder zu dritt unterwegs. Zwei Hexen und ein gezierter Schulmeister, der sich als hoffentlich nützlich erweisen würde. Camelia warf ihm immer wieder einen bedrohlich glühenden Blick zu, der Eisen zum Schmelzen gebracht hätte, Sylvin aber nur ein müdes Lächeln entlockte.
Sylvin und Camelia gingen vorne weg, hinterdrein stapfte Griseldis und schleppte ihre kleine Tasche, die für ihre Größe viel zu schwer war.
Während sie über das Geröll stiegen, stellte Camelia endlich die offensichtliche Frage und sie ärgerte sich ein wenig, warum ihr die so spät eingefallen war. Was war nur los mit ihrem sonst so perfekt funktionierenden Hirn? Das Haar war schuld, sagte sie sich und strich darüber, woraufhin es sich wohlig um ihren Kopf zu legen begann.
„Herr Sylvenstein“, begann sie.
„Nennen Sie mich Sylvin, Frau Zuckerbrot.“
„Na schön, Sylvin, warum bist du eigentlich hier in dieser trostlosen Gegend?“
„Ach, Teuerste.“
„Lass bitte, das Verehrteste und Teuerste weg und komm gleich zum Punkt.“
„Ja – ja. Wo war ich? Ach ja! Also. Hm. Es ist mir ja irgendwie peinlich, das zu berichten. Aber ich hoffe doch, Frau Zuckerbrot, dass Sie nichts auspalavern werden.“ Ohne auf eine Bestätigung der Hexe zu warten, redete er einfach weiter. Dabei marschierte er forsch aus und schwang die Hände im Takt seiner Schritte. „Vere…, äh, Frau Zuckerbrot, ich war hier, um die mächtigen Bergtrolle zu erforschen. Ich dachte auch, ein nettes Exemplar gefunden zu haben, als ich bemerkte, dass der Felsen, den ich da monatelang angestarrt hatte, wirklich nur ein Felsen war. Auf der einen Seite kann ich von Glück reden, dass es kein echter Troll war, denn dann könnte ich jetzt vermutlich nicht mehr davon berichten. Andererseits, nun ja, reden wir nicht mehr darüber. Ähm, ja, so kam es, dass ich hier gelandet bin. Mein Professor hat mich leider hier vergessen, wobei ich eher denke, dass er sich etwas dabei gedacht hat. Alles andere wäre ja nicht logisch. Ja, das ist schon die ganze Geschichte.“
Nun, es war die Halbe, aber das sagte er natürlich nicht dazu. Es schien ihm nicht ratsam in diesen Bergen zu viel zu reden und schon gar nicht mit einer Hexe, in Begleitung einer Plappertante. Er fragte sich, warum sie nicht den Besen der älteren Hexe benutzten. Damit wären sie wesentlich schneller, dann fiel ihm ein, dass es hier gefährliche Auf- und Fallwinde gab. Besonders die Fallwinde hatten ihre Fallstricke, im wahrsten Sinn des Wortes. Immer wieder mussten sie sich unter den herabfallenden Stricken wegducken, da diese von den Fallwinden getrieben manchmal plötzlich wie Peitschen vom Himmel herabschlugen. Das machte besonders Camelias Haar zu schaffen. Dieses Land war so voller Magie, dass sie sich manchmal manifestierte und das Wort den Sinn der Bedeutung annahm – oder war es umgekehrt.
Die Drei schritten also drittelwegs guter Dinge - Sylvin war guter Dinge, die beiden Hexen weniger - voran und die Hochebene mit der Burg, nein dem Schloss, näherte sich. Aber sie sahen noch nichts, weil einige mächtige Findlinge im Weg standen, um die eine einzelne Biene wie verrückt herumflatterte.
Bei näherer Betrachtung erkannten sie, dass es sich nicht um eine Biene, sondern um eine Elfe handelte. Aber um was für eine! Camelia wurde rot, als sie das kleine Ding betrachtete. Sylvin lachte verlegen und Griseldis, der das nichts ausmachte, streckte die Hand aus und sagte: „Na du, schöner Tag für einen Ausflug. Wer bist du?“
Die Elfe kam angesaust und hüpfte auf Griseldis Handfläche auf und ab.
Wer jetzt erwartet hätte, ein kleines, zerbrechliches, ätherisches Wesen in spinnwebzartem, blassrosa Tüll zu erblicken, der hätte weit gefehlt! Diese Elfe trug ein schwarzes Ledermieder, welches ihre drallen Rundungen nur mit Mühe und Not bedeckte. Das kurze Röckchen endete exakt dort, wo die Beine begannen und die winzigen Füße der kleinen Gestalt steckten in knallroten Schühchen, deren Absätze spitz wie Nadeln und fast so hoch, wie die Füße lang waren. Die Flügel sahen aus wie schwarz lackiert und auch die Augen waren auffällig schwarz umrandet, was der kleinen Person zusammen mit der schwarz-roten Mähne, die ihr wie eine Flamme den Kopf umspielte, trotz ihrer geringen Größe eine gewisse Dramatik verlieh. „Spazierflug! Päh! Ich bin doch nicht einfach so eine Spazierfliegerin!“, keifte sie die Hexe an. „Ich versuche diesen vermaledeiten Troll zu beruhigen, der da zwischen den Findlingen rumliegt und flennt!“
Die Elfe startete ihre Zusatzflügel, machte dabei einen Höllenlärm, der jeder Harley Davidson zur Ehre gereicht hätte, und flog zu dem Troll, den die drei Reisenden erst jetzt bemerkten. Der Troll lag im Staub und heulte, dass es die Steine erweichte. Die Erde um ihn herum war schon ganz matschig und einzelne Steinbrocken zerfielen unter den dicken Trolltränen zu Kieseln und dann zu Sand. Es war wirklich erschreckend traurig, diesen riesigen Troll zu sehen, der wie ein Baby heulte.
„Jawashattadenn“, fing Griseldis prompt an, in ihrer kindergartentanitgen Art zu gurren, in der sie mit allen, ihrer Ansicht nach bemitleidenswerten Geschöpfen sprach, und streichelte zärtlich den dicken, steinharten Kopf.
„Pah!“, machten die Elfe und Camelia gleichzeitig. Sylvin enthielt sich eines Kommentars, denn nun konnte er endlich seine Studien beginnen. Eifrig machte sein Gehirn Notizen. Er hatte einen inneren Schreiber, der alles genauestens abschrieb, was er sah und dachte. Das war eine nützliche Einrichtung, weil er so Papier, Bleistifte und Zeit sparte.
Griseldis beugte sich noch etwas tiefer und blickte dem Troll direkt in ein paar Rubinäuglein, die schon ganz verwaschen wirkten, weil dauernd kleine Steinlawinen und Sandbächlein auf die Lider prallten. Er zog die Nase hoch und die Umstehenden mussten sich die Ohren zuhalten, weil ein Donner dagegen ein laues Lüftchen ist. Danach musste er gleich wieder losheulen und Griseldis machte: „Tztztz, wer wird denn da gleich heulen. Du bist ja schon ein Großer, nicht wahr, mein Kleiner?“
Der Troll wollte nicken, was abermals eine Steinlawine auslöste, diesmal von mittlerem Ausmaß. Einer der Steine traf Griseldis und schlug eine Beule in ihren Hut.
„Tschuldigung“, sagte der Troll und wollte schon wieder zu Weinen anfangen, da fauchte Camelia: „So groß und noch immer so eine Heulsuse!“
„Camelia! Ich bitte dich! Das ist ein sensibler Troll, da kann man nicht einfach so mit dem Pickel draufschlagen, nicht wahr, mein Großer?“ Grimeldis war ganz Honig und Sediment, das sie dem Troll um die Flechten schmierte, die sein Gesicht zierten.
Nach längerem gutem Zureden von Griseldis unter Gegurre, das von Vogelzwitschern bis Kindersprache – oder dem, was Griseldis für Kindersprache hielt – reichte, und nur schlecht unterdrücktem Gelächter der anderen, beruhigte sich der Troll endlich. Er rotzte noch einmal eine Sedimentlawine aus, wischte sich den mächtigen Arm am Boden ab und nahm das Spitzentaschentuch, das ihm Griseldis reichte. Es balancierte auf seinem Daumen und sah lächerlich winzig aus, als er sich damit die Augen betupfte. Laut schniefend reichte er es zurück und Griseldis versenkte es wieder in den unergründlichen Tiefen ihrer kleinen Tasche, gegen die das Universum eine gründlich erforsche Gegend ist. „Jetzt sag mir mal, was dich so bedrückt“, säuselte sie.
„Die da!“ Er richtete den Blick und den mächtigen, schmutzigen Zeigefinger anklagend auf die Elfe und schniefte noch einmal kräftig, bevor er fortfuhr. „Die hat ma was aufn Bauch gschriebn un i kans ned lesn.“
Jetzt beugte sich Griseldis vor und tatsächlich, da stand in feinsäuberlicher Elfenschrift geschrieben: „Trolle sind doof.“
Sylvin, der eher den Eindruck eines gelehrten Stubenhockers machte, als den eines eifrigen Feldforschers, setzte sich nun neben Camelia und sah zu, wie sie sinnlose Rauchringe in die Luft blies. Camelia ihrerseits, blickte auf den Helm, der an Sylvin’s Seite hing. Er verstand auf Anhieb und setzte ihn gerade noch rechtzeitig auf, bevor eine weitere Steinlawine auf sie niederging.
„Stahlverstärkte Hutspitze“, erklärte sie knapp auf seinen fragenden Blick.
„Sehr weitsichtig, Verähm, Frau Zuckerbrot. Sagen Sie mal, ist Ihre Freundin immer so …?“ Er tippte sich leicht an die Stirn, was Camelia nicht gerade goutierte. Das durfte nur sie, schließlich war Griseldis ihre Freundin. Nur Freunden gegenüber zeigte sie diese Art der Unfreundlichkeit. Fremden gegenüber war sie oft von geradezu furchteinflößender Feindseligkeit. Auch jetzt kramte sie ihren scharfen Blick hervor, der unter der Dorfbevölkerung als „Böser Blick“ kursierte und dem niemand begegnen wollte, der noch alle fünf Sinne beisammen hatte. Doch Sylvin störte sich nicht daran. Er hob nur fragend eine schön geschwungene Augenbraue, die wie aufgemalt wirkte. „Frau Zuckerbrot, bei mir wirken diese kleinen magischen Spielereien nicht, denn vom logischen Standpunkt aus gibt es so etwas wie einen „bösen Blick“ gar nicht. Ich möchte Sie auch daran erinnern, dass ich Ihr Wegweiser bin. Sie wissen schon, dieser jemand, der die Landkarte des Felsenkönigreichs im Kopf hat und weiß, wo sich das Vorhängeschloss, äh die Burg, äh das Schloss des PP befindet. Ich kenne auch eine Falltüre, die nur durch ein einfaches Schlüsselloch gesichert ist, durch das aber nicht einmal ein Elefant im Nadelöhr passt, wie der verehrte PP einmal verlauten ließ.“ Es war ein richtiger Redeschwall, den er da von seinen schmalen Lippen ließ, die von einem etwas dürftigen Bart umgeben waren, über den strich er jetzt zärtlich und blickte die Hexe triumphierend an. „Ha!“, schien sein Blick zu sagen. „Siehst du! Mir kannst du nichts anhaben.“
Unterdessen tröpfelten weiterhin Steine und Kieselchen auf die beiden herab und Griseldis redete wie ein Ölmann auf den Troll ein. Sie hatte wirklich Geduld, eine Engelsgeduld und wäre nicht ihr Hut gewesen, hätte man den kleinen goldenen Kranz um ihre Karottenmähne sehen können. Die Elfe hatte sich jetzt einen anderen Platz gesucht und schwirrte um die Spitze von Griseldis Hut, dann ließ sie sich auf der Krempe nieder. Weil sie aber zu schnell geflogen war, bohrten sich bei der Landung die Spitzen ihrer Absätze in den Filz des Hexenhutes. Nun saß sie fest und versuchte die Beine herauszubekommen. Auf die Idee, die Schuhe auszuziehen kam sie gar nicht, denn die waren ihr heilig. Niemals und unter keinen Umständen, wollte sie diese wunderbaren Schühchen ausziehen, diese roten Dinger, die in der Sonne gefährlich glänzten und so nebenbei auch gut als Waffe gegen allerhand Getier und andere unfreundliche Wesen verwendet werden konnten.