Am Kanal
Es ist zwar jetzt nicht wirklich eine Kurzgeschichte - oder vielleicht doch nun ja, entscheidet selbst Am Kanal
Ich laufe über eine Weise. Der Himmel ist von einem wunderbaren Blau, das Gras duftet nach Kräutern und Leben. Bienengesumm erfüllt die Luft und es ist warm. Ein leichter Wind liebkost mein Haar und küsst meine Wangen. Alles ist schön, wie neu und es fühlt sich an, wie eine Umarmung mit sich selbst und der Welt.
Ich gehe weiter in diesem Freudentaumel und gelange schließlich in die Stadt.
Nein, denke ich, hier will ich nicht sein. Doch meine Schritte kennen kein Pardon, sie ziehen weiter, ziehen mich dorthin, wohin ich nicht will, wo die Angst lauert und das Grauen.
Von Weitem sehe ich sie schon.
Sie liegen in der Gosse. Ohne Augen starrt mich einer an und lächelt wissend, der nächste läuft mir auf amputierten Oberschenkeln nach, greift mich am Arm und bringt mich zu Fall. Nun liege auch ich im Straßendreck, sehe die anderen, die zahlreichen gesichtslosen Wesen, die uns bevölkern, ohne dass wir es wissen.
Ich sehe den Mann ohne Stimme, der unablässig spricht, in jeder nur denkbaren Sprache. Der ohne Beine, springt auf meinem Bauch herum, als wäre er ein Trampolin. Die Frau ohne Augen liest die Zukunft aus den Wasserpfützen und sie sagt nichts Gutes voraus. Es wird für alle nur ein Ziel geben – und das ist das Ende. Das wiederholt sie in einer Endlosschleife, als Mantra.
Ich sehe an mir hinunter und erstarre vor Entsetzen. Ich bin wie diese Wesen! Ich bin sie! Weder Augen, noch Stimme, noch Beine habe ich und dennoch starre ich aus lidlosen Augen auf mein Kind, das lachend an mir vorüber läuft.
„Mein Kind!“, rufe ich immerzu. „Mein Kind! Ich bin hier, lauf nicht weg!!“ Dann bin ich alleine und diese Gestalten lachen über mich, weil ich etwas versucht habe, das sie schon lange aufgegeben haben.
Ich weine mich in den Schlaf, kann nicht glauben, was aus einem schönen Tag auf der Wiese geworden ist. Kein Sonnenstrahl trifft hier in dieses Rinnsal in dem wir liegen, die Kanalisation der Menschheit – alles Überflüssige wird weggeschwemmt.
Ich sehe das Schwemmgitter bereits auf mich zukommen. Mit rasender Geschwindigkeit nähert es sich und droht mir, den Schädel einzuschlagen.
Oben am Kanal sehe ich mein Kind laufen. Abermals rufe ich: „Mein Kind!“ Doch ich habe weder Stimme noch Substanz.
Ich gehe unter, bin weg –
und erwache zitternd. Sofort taste ich mein Gesicht ab – es ist noch alles da, dann eile ich ins Kinderzimmer.
„Mein Kind“, seufze ich und lege mich neben das Kinderbett.
(c) Herta 5/2010