Wiederbelebung
WiederbelebungMüde war er. So müde, dass kein Schlaf mehr half - von dem es sowieso immer zu wenig gab.
Bleischwer fühlte er sich. Sein Job hatte ihn ausgesaugt, die Aufgaben, die Kämpfe, die dauernde Verfügbarkeit auch am Wochenende, seine Verantwortung für seine Mitarbeiter, für deren Jobs und damit für ihr Überleben, all das hing an ihm wie zentnerschwere Säcke.
Zuhause, bei Frau und Kind, gab es wenig Entspannung. Auch da erwartete ihn ein Berg an Pflichten und Verantwortung. Sein schlechtes Gewissen, niemandem und keiner Aufgabe mehr gerecht zu werden, nahm ihm jeden Tag mehr von seiner Kraft.
Seine Pollen-Allergie war dieses Frühjahr noch schlimmer als je. Eine schmerzende Trockenheit hatte sich über seine Schleimhäute gelegt. Die Lider rieben am Glaskörper, als stünde er in einem Sandsturm. Die Haut in seinen Ellenbeugen war handtellergroß gerötet und überzogen von papiernem Schorf.
Der Arzt untersuchte ihn mit ernster Miene. Gegen die Allergie könne man Kortison verschreiben, auch gegen den Erschöpfungszustand habe die Pharmaindustrie diverse Präparate im Angebot. Die Nebenwirkungen aber seien so zahlreich wie massiv. Der drohende Burnout ließe sich vielleicht verzögern, aber entkommen konnte er ihm nur, wenn er sein Leben änderte.
Am liebsten würde er ihn in Urlaub schicken, ans Meer und in die Sonne. Sofort, besser morgen als übermorgen, und allein.
Schon auf dem Heimweg vom Arzt ging er in ein Reisebüro und buchte zwei Wochen Halbpension in einem Hotel auf Procida, einer kleinen Insel im Golf von Neapel. Jetzt im Mai war es dort noch nicht zu heiß, und die Touristen zog es eher auf `s benachbarte Ischia oder Capri.
In der nächsten Woche erledigte er die dringendsten Aufgaben und übergab das Verbleibende an seine Vertretung. Er verdrängte den Gedanken an die Gefühle seiner Frau, die ihn mit resignierter Gelassenheit an den Flughafen brachte.
Er musste alles vergessen, seine Pflichten und sein schlechtes Gewissen.
Er musste sich erinnern – an sich, an seine Träume, ans Leben.
Über den Wolken war Blau. Blauer Himmel, weiße Wolken - und sonst nichts. Beleuchtet von einem Sonnenschein, der ihm wie eine Einladung vorkam.
Die Fahrt durch Neapel ließ sein Herz klopfen. Die Betriebsamkeit der Stadt, selbst der Verfall der Vorstädte und ihr Schmutz, kam ihm so bunt und so lebendig vor.
Am Hafen sog er gierig die kräftige Brise ein, eine Mischung aus Salz, Öl und Weite. Die Überfahrt zur Insel verbrachte er an der Reling, mitten im Wind, und leckte sich lachend die Gischtspritzer von der Lippe.
Der Ort Ciaiolella empfing ihn mit freundlichem Anblick und wackligem Landesteg. Das Taxi hupte sich die Serpentinen hoch und stellte ihn vor dem Hotel Celeste ab.
Wieder atmetet er tief die sonnengewärmte Luft ein, in der sich fruchtige Zitrone mit herbem Grün mischte. Seine Augen schmerzten nicht, und er hatte sich seit Stunden nicht mehr an den Armen gekratzt.
Sein Zimmer war einfach; ein großes Bett, Tisch, Stuhl und Schrank, schwarzweiß gesprenkelter Steinboden, der seine heißen Fußsohlen kühlte. Das Bett quietschte im Metallrahmen, als er sich auf die weiche Matratze sinken ließ. Er betrachtete das wedelnde Schattenmuster an der Decke und schlief augenblicklich ein.
Die nächsten Tage verbrachte er in einer Art begeisterter Trance. Alles erschein ihm neu, nie erlebt und extra für ihn gemacht.
Beim Frühstück saß er auf seinem kleinen Balkon und blickte auf das weite Blau des Meeres.
Seine Gedanken reichten nur bis an den Horizont und bewegten sich entlang den Gischtlinien der Fähren.
Anstatt Nachrichten aus der Zeitung nahm er einen Kaffee am Hafen und lauschte dem Geplauder des Personals, von dem er so herrlich nichts verstand.
Mittags lag er im dunklen Sand und schmolz in Wärme und süßem Dämmer. Ab und zu ging er schwimmen, genoss die Wellenbewegungen um seinen Körper, tauchte in die durchsichtige Tiefe oder ließ sich tief atmend treiben. Nach Dusche und mit einem frischen weißen Hemd lief er durch die kleinen Straßen, hörte Mütter ihre Kinder rufen, melodisch Unverständliches aus offenen Küchenfenstern, und nickte den Alten zu, die auf Bänken mit zahnlosem Lächeln in die untergehende Sonne blinzelten.
Wann ihm Giulietta das erste Mal auffiel, konnte er im Nachhinein nicht mehr sagen. Sie brachte ihm jeden Morgen das Frühstück und abends
die köstliche Pasta und den frischen Fisch. Zunächst gehörte sie einfach in das Gesamtbild des Hotels, der Insel – des ganzen Zaubers seiner Flucht. Ihr schwarzes Kleid, das ihre weiblichen Formen nur ahnen ließ, der beschwingte Gang, ihre gebräunte Haut, die zusammen gesteckten dunklen Locken und ihr freundlichen Lächeln nahm er erst richtig war, nachdem er sie eines Nachmittags mit zwei Kindern am Strand gesehen hatte. In einem geblümten Badeanzug hatte sie Eis gekauft,
als er auf der Terrasse des Strandlokals vor einem Espresso saß.
Sie hatte ihm zugenickt und dann ihre Zunge über das cremige Weiß in ihrer Eiswaffel geleckt.
Verwirrt hatte er seinen Blick wieder in das Buch auf dem Tisch vor ihm gesenkt. Als sie den Strand entlang ging, hatte er ihr nachgeschaut. Und eine Erregung gespürt, die er lange schon vergessen hatte. Er stellte sich den Geruch ihrer sonnenwarmen Haut vor. Und wie sie schmecken würde.
An diesem Abend rasierte er sich sorgfältig vor dem Abendessen und prüfte kritisch sein Gesicht im Spiegel. Seine Haare brauchten einen Schnitt, sie lockten sich schon über den Ohren, aber seine Bräune gefiel ihm. Seine Haut hatte sich durch das tägliche Schwimmen beruhigt und er konnte die Ärmel seines Hemdes hochkrempeln. Er besprühte sich mit seinem Lieblingsduft und ging beschwingt in den Speisesaal.
Da stand sie und goß gerade Wein in kleine Karaffen. Diesmal ließ er seinen Blick über ihre Figur gleiten und betrachtete ihr schönes Dekollete, die Taille unter den vollen Brüsten, die Rundung ihres Pos und ihre tollen Beine. Als ob sie seinen Blick spürte, sah sie plötzlich zu ihm hin und lächelte.
An diesem Abend bildete er sich ein, dass sie den Teller sanfter vor ihn hinstellte, sich beim Eingießen länger über den Tisch beugte, ihr Blick fragend war und ihr Lächeln eine Einladung.
Er schalt sich einen Narren, und ging nach dem Essen noch einmal zum Strand. Die kühle Nachtluft beruhigte ihn ein wenig. Das Meer lag wie ein dunkler Spiegel vor ihm. Verlockend. Er zog die Schuhe aus, krempelte seine Jeans bis zum Knie und lief an der Wasserkante entlang.
Als er wieder in Richtung Hotel ging, sah er eine Gestalt am Wasser auf ihn zukommen. Dass es eine Frau war, konnte er im Dunkeln nur an der Kontur ausmachen. Erst als sie fast vor ihm stand, erkannte er sie und sein Herz machte einen Sprung. Sagen konnte er nichts; sie verstand kein Deutsch und er wusste kaum ein Wort Italienisch. Sie waren im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Also nahm er ihre freie Hand – denn sie trug wie er ihre Schuhe, um barfuß zu laufen.
So liefen sie stumm, aber Hand in Hand, weiter durch das seichte Wasser. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und blieb stehen.
Ließ seine Schuhe fallen und nahm ihr Gesicht in beide Hände.
Sie ließ es geschehen und blickte ihn mit große Augen an.
Er küsste sie; zögernd, vorsichtig, gefasst auf Zurückweisung. Aber ihre Lippen begegneten seinen willig, weich und hingebungsvoll.
Er wurde kühner, durchwühlte ihren warmen Mund mit seiner Zunge und sie antwortete ihm mit einem kleinen Stöhnen.
Dann ging es schnell: sie rissen sich fast die Kleider von Leib und ließen die Teile in den feuchten Sand fallen. Erst als er auf ihr lag, bremste er sich. Er wollte diese Frau langsam nehmen; eine so lange vergessene Lust in vollen Zügen genießen.
Er setzte sich zurück auf seine Fersen und betrachtete ihren Körper, der nackt vor ihm im Sand lag. Von der Strandpromenade kam genug Licht, um ihn in seiner ganzen Pracht zu entdecken. Zwischen ihren Zehen war dunkler Sand, die schmalen Fesseln rundeten sich zu kräftigen Waden, ihre Schenkel schienen ihm wie Kissen, ihr Venushügel war von feinem dunklem Haar bedeckt, ihre Hüften bewegten sich wie die Wellen hinter ihm und im gleichen Rhythmus zitterten ihre Brüste.
Er legte eine Hand auf ihre stehenden Brustwarzen und blickte in ihr Gesicht. Ihre Lippen öffneten sich zu einem Stöhnen und er senkte seinen Mund auf diese Öffnung. Tief ließ er seine Zunge in sie gleiten, langsam, gierig, als wolle er sie austrinken. Er fiel in diesen Kuss wie ins warme Meer, versank und tauchte wieder auf, um erneut einzutauchen. Und sie antwortete auf seine Kuss – genauso. Es schien ihm, als würde er sich selbst küssen.
Sie streichelten ihre Körper, berührten sich sanft und kräftig, und als er endlich in sie drang, kam er schnell. Zulange hatte sich seine Lust angestaut gehabt. Ein tiefes Stöhnen löste sich aus seinem Inneren.
Dann begann er sie zu küssen, vom Hals bis zu den Zehen und widmete sich dann lange ihrem Geschlecht, das süß und salzig zugleich schmeckte. Ihr Orgasmus kam in Wellen, und als er abebbte, begann sie zu lachen. Lachte so sehr, dass er mitlachen musste, bis sie kaum noch atmen konnten.
Lange lagen sie so, nackt, umschlungen, mit einem Lächeln auf ihren Gesichtern. Bis sie zu frösteln begannen und sich anzogen. Er brachte sie zu einem kleinen Haus, wo sie mit ihrer Mutter und ihren Kindern lebte. Mehr konnte er nicht verstehen von dem, was sie ihm zu erklären versuchte.
Die verbleibenden Abende und Nächte begegneten sie sich so: am nächtlichen Strand, lächelnd und voll Lust.
Das Hotel verließ er am letzten Tag seines Urlaubs, ohn e sie noch einmal gesehen zu haben; eine junges Mädchen brachte ihm das Frühstück.
Als er wieder im Flugzeug nach Hause saß, schaute er mit gemischten Gefühlen zurück und nach vorn. Es würde viel Arbeit auf ihn warten, der er sich jetzt aber wieder gewachsen fühlte. Er würde die Insel vermissen, das Licht, das Meer – und die Nächte mit Giulietta.
Aber etwas nahm er mit, das ihm nie mehr verloren gehen sollte: dieses tiefe Gefühl von Lebendigkeit, das er in den letzten zwei Wochen wieder entdeckt hatte.
©tangocleo 2010 (für H.)