Der Prophet
Der ProphetDer Stechapfelsud tat seine Wirkung und der Priester breitete die Arme aus. Er stimmte einen Singsang an, der hauptsächlich aus Summen bestand. Dann forderte er die Schar auf, ihm zu folgen. Zwanzig Jünger erhoben sich, stellten sich in einer Reihe auf und schritten, ihre Oberkörper vor- und zurückwiegend, dem Mann im weißen Gewand hinterher. Er war der Namenlose, der für die Gruppe auf seine Herkunft und seine Besitztümer verzichtet hatte.
Heute würden sie alle eine neue Stufe der Weihe erleben und die Verdienten unter ihnen, sie auch erhalten.
Weiter führte er sie in das Heiligtum, eine alte, feuchte Höhle, hoch oben in den Bergen und gut versteckt, damit sie nicht so rasch entdeckt werden würden. Entdeckung führte unweigerlich zur Auflösung der Gruppe und zur Inhaftierung des Meisters, des namenlosen Priesters der Allherrlichkeit.
Der Gang war nur spärlich erleuchtet, Wachs tropfte von den wenigen Kerzen, die Helfer vor sich hertrugen. Aber Licht war nicht nötig. Der Gesang des Namenlosen leitete die Gefolgsleute.
Abrupt beendete er das Summen, als sie in einer Kaverne ankamen. Hier war auf einem großen Stein ein Altar errichtet worden. Der Priester stand davor und wartete, bis alle knieten. Der Boden war feucht, aber das fiel niemandem auf. Noch immer wiegten sich zwanzig Oberkörper im nachhallenden Takt des Gesangs.
Schweigen breitete sich aus und legte sich wie ein wärmender Mantel um die Jünger. Die Luft begann zu knistern und schien sich plötzlich mit flüsternden Stimmen zu füllen, die wie Geister über die knienden Gestalten wehten und sie sanft berührten.
Als die Spannung unter den Menschen beinahe unerträglich wurde, sagte der Priester schließlich feierlich: „Meine Kinder. Heute werden wir einige Brüder und Schwestern auf den Weg in die Allherrlichkeit begleiten. Sie nehmen das Opfer auf sich und entsagen dieser Welt. Tretet hervor: Samina, Paullo, Julia und Decimus.“
Die vier Genannten standen auf und gingen langsam nach vor. Ihre Körper waren von weißen Kutten verhüllt und die Gesichter hinter Kapuzen versteckt. Nur staubige Füße und Sandalen waren zu sehen.
Als sie vor ihm knieten, nahm der Namenlose einen Kelch, hob ihn an die Lippen und trank. Dann reichte er ihn an die anderen weiter. Jeder trank, bis der Becher leer war. „Jetzt sprecht mir nach“, intonierte der Priester feierlich. „Wir gehen in die Allherrlichkeit. Es ist unser Wunsch, dieses Opfer für die Welt zu erbringen, dem irdischen Dasein zu entsagen und für einen Abzug der römischen Besatzung aus dem Licht zu sorgen.“ Gehorsam sprachen sie die Worte und ein Messer blitzte.
Decimus und Paullo sprangen auf und riefen: „Du bist verhaftet, du falscher Weissager!“
In der Menge hinter ihnen begann ein Tumult, wie aufgescheuchte Ameisen, denen die Königin getötet worden war, begannen die Menschen zuerst zu schreien und dann herumzulaufen. Niemand beachtete in diesem Durcheinander Samina, die nach dem Dolch griff und ihn sich, mit der Entschlossenheit der eifrigen Jüngerin, ins Herz stieß.
„Bei Juno! Schafft diese Menschen endlich hinaus und seht zu, dass sie in ihre Heime zurückgebracht werden“, rief Decimus Gracchus, Leiter der Sonderkommission.
Julia, Tempelpriesterin der Minerva, die sich schon vor Monaten hier eingeschleust hatte, schaffte es schließlich, die Menschen zu beruhigen und aus der Höhle zu bringen. Aber es war nicht einfach, sie waren von den Drogen zu verwirrt, um vernünftig zu reagieren. Scheinbar kopflos rannten sie herum. Manche fielen in Abgründe und lachten dabei.
Decimus ergriff den falschen Priester am Arm und sagte noch einmal: „Marcus Quintus, du bist verhaftet und wirst beschuldigt, die Adeligen der Region bestohlen, betrogen und die Menschen gegen die Regierung aufgewiegelt zu haben. Du wirst dem Präfekten Rede und Antwort stehen.“
Julia führte den kümmerlichen Rest der Gefolgschaft der Allherrlichkeit, wie sie sich genannt hatten, nach Mediolanium hinab. Es waren nur noch zehn paar löchrige Sandalen, die über die schlüpfrigen Wege schlitterten. Julia vorneweg, hatte die Kutte abgestreift und die Tunika der geweihten Priesterin leuchtete den Irregeleiteten den Weg ins Tal. So schien es den Menschen jedenfalls.
In sicherem Abstand gingen Deciumus Gracchus, der nicht mehr ganz so namenlose Marcus Quintus und schließlich Paullos Tullius, der einen Dolch auf den falschen Propheten gerichtet hielt.
Marcus Quintus wurde schließlich wegen Diebstahls eine Hand abgeschlagen und anschließend wegen Götterlästerung und Hochverrats hingerichtet. Wie viel von der Beschuldigung tatsächlich der Wahrheit entsprach, wurde nie ermittelt und Marcus Quintus sagte nichts.
Julia musste den Tempel verlassen, weil sie sich nicht an die Gebote gehalten hatte. Zu ihrer Familie konnte sie nicht zurück, denn die würden sie nicht mehr aufnehmen. Die Schande, eine entlassene Priesterin zur Tochter zu haben, wäre zu groß. So fristete sie ein Dasein als Bettlerin. Oft wünschte sie sich einen Dolch, um ihr Leben sauber zu beenden. Sie starb jung und an Unterkühlung. Bevor der Tod sie holte, schrie sie: „Minerva, was hast du deiner Dienerin nur angetan!“
Decimus Gracchus und Paullo Tullius wurden beide befördert und in verschiedene Provinzen versetzt.
Langsam begann sich die Situation, rund um Mediolanium zu beruhigen. Die Römer brauchten ihre Siedlungen nicht mehr zu befestigen, die Kelten trieben wieder eifrig Handel, denn Geld stinkt nicht und die Fürsten wollten ihre Reichtümer mehren. Schließlich wurden sie doch zu Römern, dem ganzen Freiheitsgerede zum Trotz.
(c) Herta 5/2010