Wahre Episoden aus einer unbegreiflichen Realität
1.) Sozialpädagogen auf einem Seminar. Ich halte ein kleines Referat und interessiere mich dann für die nachfolgende Diskussion. Es geht um die spannende Frage, wie weit heilpädagogische Förderung für geistig behinderte Menschen machbar und sinnvoll ist, vor allem in Anbetracht steigender Kosten und sinkender Geldmittel.Schließlich meldet sich nach einigem Hin und Her eine Frau zu Wort: Sie könne diese Abwertungen bestimmter Menschen einfach nicht mehr ertragen, die sie hier ständig seitens ihrer Kollegen mit anhören müsse.
Es sei doch sonnenklar, dass man sich stets an den Schwächsten orientieren muss. Es ginge nicht an, dass man stärker behinderte Menschen, die einer sinnvollen Förderung nun mal nicht zugänglich sind, weniger als andere fördert und einfach links liegen lässt. Man müsse das fair und korrekt angleichen. Notfalls dürfe man weniger behinderte Menschen ebenfalls nicht mehr fördern, um sie gegenüber den stärker behinderten Mitmenschen nicht zu bevorzugen. Das wäre dann ja eine entschiedene Benachteiligung der stark behinderten Klienten, und das sei unerträglich. Wenn man also schwächere Menschen nicht fördern könne, dann dürfe man auch gesündere nicht fördern, und zwar aus Gründen der Gleichstellung, Fairness und Gerechtigkeit. Und um niemanden zu diskriminieren.
Mir stockt der Atem, und ich erdreiste mich zu fragen: „Habe ich das richtig verstanden? Man soll dann lieber im Zweifelsfall wirklich keinen mehr fördern, nur um die Schwächeren nicht zu benachteiligen, die man gar nicht wirklich fördern kann?“
Gespannt warte ich, was nun von der engagierten Dame kommt, die sich so vehement für Schwächere einzusetzen meint. Aber sie sagt nur kurz und trocken: „Natürlich! Wir können doch niemanden benachteiligen und niemanden bevorzugen! Wir müssen allen die gleiche Betreuung zukommen lassen! Notfalls wird eben keiner betreut!“
Aha, denke ich. Und sage erst mal nichts mehr, zumal mir die Worte fehlen …
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2.) Eine Mutter hat erhebliche Probleme mit der Schule, die ihre beiden Töchter besuchen. Zu einem Gespräch mit der Rektorin möge ich sie bitte begleiten, diesmal ginge es um ihre ältere Tochter (14). Sie habe schon einmal massiven Ärger bekommen mit dieser Rektorin und wäre froh, wenn ich sie moralisch unterstützen und beraten würde.
Ich frage neugierig nach, um was für einen Ärger es sich denn gehandelt habe. Und sie erzählt:
Ihrer kleinen Tochter seien vor ein paar Wochen ein paar Diddl-Hefte und ihr Handy von Klassenkameraden weggenommen worden. Als sie Daniela (so heißt ihre kleine Tochter) von der Schule abholte, habe diese herzerweichend geheult und davon erzählt. Und plötzlich habe sie gesagt: "Guck, die drei waren es, die haben mir die Hefte einfach weggenommen." Daraufhin sei sie, die Mutter, mit Daniela an der Hand zu den drei Übeltätern gegangen und habe diese freundlich gebeten, das Handy und die Hefte zurückzugeben.
Als diese leugneten, habe sie alle drei wütend angeschrien: „Wenn ihr das, was ihr meiner Tochter gestohlen habt, mir nicht sofort rausrückt, dann werde ich wirklich sehr sauer!“ Erschrocken haben sie daraufhin ihr alles ausgehändigt und sich aus dem Staub gemacht.
Zwei Tage später sei sie von besagter Rektorin angerufen worden. So ginge es ja nicht, dass sie einfach Kinder vor allen anderen runterputzt, anschreit und bedroht, das ginge ja wohl zu weit. Sie möge sich bitte zu einem ernsthaften Gespräch einfinden.
Das fand dann auch ein paar Tage später statt, und die Frau wurde von der Rektorin fürchterlich zur Minna gemacht. Das Argument, die drei Jungs seien hier ja wohl die Übeltäter gewesen und nicht sie, wurde nicht akzeptiert, das zählte offenbar nicht. Auch wenn es so gewesen sei, dürfe das niemals ein Grund sein, die armen Jungs derartig zu erschrecken und zu bedrohen. Wenn das noch einmal vorkäme, müsse sie mit ernsthaften juristischen Maßnahmen rechnen.
Daraufhin beschließe ich, die Frau zu dieser Rektorin zu begleiten. Ich kann einfach nicht so recht glauben, was sie erzählt, und will diese Schulleiterin unbedingt mal live erleben und mir ein eigenes Bild machen.
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3.) Wenige Tage später sitzen die Frau und ich bei dieser Rektorin. Das Gespräch verläuft alles in allem okay.
Nur bei einer Äußerung stutze ich und sehe mich genötigt, auch mal das Maul aufzumachen.
Die Mutter hat bei einem bestimmten Thema, das hier nicht wichtig ist, die Bemerkung fallen lassen, dass ihre große Tochter mit 14 Jahren ja wohl etwas weiter sei als ihre Kleine. Woraufhin die Rektorin fast schon erbost etwas Merkwürdiges zum Besten gibt: „So etwas darf man nicht sagen! Das ist doch diskriminierend für die Achtjährige, wenn Sie hier einfach behaupten, Ihre vierzehnjährige Tochter sei wohl etwas weiter als Ihre achtjährige Tochter!“
Keck frage ich einfach mal: „Ja, ist sie denn nicht weiter?“
„Natürlich nicht!“, entrüstet sich die Rektorin. „Niemand ist hier weiter als andere. Das ist arrogant und diskriminierend, das verletzt doch die Achtjährigen.“
Ich schnappe kurz nach Luft und überlege noch, wie ich das, was mir auf der Zunge liegt, angemessen und mit möglichst gewaltfreier Kommunikation rüberbringe, als die Mutter – weit schlagfertiger als ich – eine Bemerkung macht, die ich nur bewundern kann: „Dann ist also meine Vierzehnjährige nicht weiter als meine Achtjährige? Interessant! Wozu geht sie denn dann in ihre Schule?“
Wenn Blicke töten könnten, würden die Mutter und ich heute gemeinsam fröhlich unserer baldigen Beerdigung entgegen blicken. Und ich frage mich, in was für einer Welt wir leben …
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(Der Antaghar)